Northeim (Niedersachsen)
Northeim ist eine Stadt mit derzeit ca. 30.000 Einwohnern – ca. 25 Kilometer nördlich von Göttingen gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Northeim', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Die Existenz von Juden in Northeim wird erstmals in einer Urkunde aus dem Jahre 1304 erwähnt; ob allerdings bereits zu diesem Zeitpunkt jüdische Bewohner in Northeim dauerhaft wohnten, lässt sich nicht zweifelsfrei nachweisen. Zu Beginn des 15.Jahrhunderts wurden in Urkunden benachbarter Städte - wie Hildesheim und Göttingen - einzelne Juden aus Northeim erwähnt. Gesicherte Kenntnisse darüber, dass Juden in Northeim gelebt haben, liegen aber erst ab Mitte des 16.Jahrhunderts vor. Damals nahm der Rat der Stadt mehrere jüdische Familien „unter Schutz“ und stellte ihnen zeitlich befristete Schutzbriefe aus.
Ansicht von Northeim – Stich M. Merian, um 1645 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Nach dem Dreißigjährigen Krieg hielten sich für eine lange Zeit keine Juden mehr in Northeim auf; erst knapp 200 Jahre später gestattete der Magistrat die Ansiedlung von zwei jüdischen Familien in der Ackerbürgerstadt; weiteren war jahrzehntelang ein Zuzug verwehrt worden. Erst nach Mitte des 19.Jahrhunderts nahm der jüdische Bevölkerungsteil deutlich zu; vor allem Familien aus dem nahen Dorfe Sudheim ließen sich hier nieder; langsam entwickelten sich nun Strukturen einer Gemeinde. Gottesdienstliche Zusammenkünfte fanden in Northeim in privaten Räumlichkeiten statt; jahrzehntelange Planungen für einen Synagogenbau zerschlugen sich.
Ein eigener Begräbnisplatz in Northeim (am Randbereich des Kommunalfriedhofs) konnte erst nach jahrelangen Querelen in den 1880er Jahren realisiert werden; trotzdem wurden verstorbene Juden Northeims bis ins beginnende 20.Jahrhundert weiterhin auf jüdischen Friedhöfen des Umlandes beerdigt; die erste Belegung in Northeim erfolgte 1903.
Nach der Auflösung der Gemeinde Nörten 1925 schlossen sich die wenigen, noch verbliebenen Angehörigen der Gemeinde Northeim an.
[vgl. Nörten (Niedersachsen)]
Juden in Northeim:
--- um 1810 ........................ 2 jüdische Familien,
--- 1833 ........................... 17 Juden,
--- 1848 ........................... 21 “ ,
--- 1885 ........................... 55 “ ,
--- 1900 ........................... 92 “ ,
--- 1905 ........................... 102 “ ,
--- 1910 ........................... 117 “ ,
--- 1925 ........................... 113 “ ,
--- 1931 ........................... 130 “ ,
--- 1933 (Aug.) .................... 107 “ ,
--- 1939 ........................... 13 “ ,
--- 1941 ........................... 3 “ .
Angaben aus: I.Vielberg/G.Murken/G.Ballin (Bearb.), Jüdische Mitbürger in Northeim ..., S. 52/53
Mühlenstraße in Northeim - hist. Postkarte (Abb. aus: commons.wikimedia.org, CCO)
Zwischen 1910 und 1930 erreichte die Zahl der in Northeim lebenden jüdischen Bürger ihren höchsten Stand; sie arbeiteten vor allem als Kaufleute.
Geschäftsanzeigen 1904/1905
Obwohl Northeim bereits vor 1933 zu den Hochburgen der NSDAP gehörte, sollen antisemitische Töne hier zunächst eher die Ausnahme gewesen sein. Erstmals wurde im August 1931 im Northeimer NSDAP-Nachrichtenblatt gegen stadtbekannte jüdische Geschäftsleute offen gehetzt. Massive antisemitische Propaganda setzte ab Ende März 1933 ein. In einem Aufruf der NSDAP-Kreisleitung hieß es:
Auch der Kreislandbund stimmte die Bauernschaft in der Region Northeim auf den Boykott ein:
aus: „Göttinger-Grubenhag’sche Zeitung” vom 2.4.1933
Insgesamt soll der Boykott jüdischer Geschäfte in Northeim wenig spektakulär verlaufen sein. Nach zwei Jahren relativer Ruhe setzte im Frühjahr 1935 erneute eine antijüdische Kampagne ein, die zu einer weiteren Ausgrenzung der jüdischen Geschäftsleute, aber auch zu Beschädigungen ihres Eigentums führte. Geschäftsaufgaben, „arische“ Übernahmen und Abwanderung kennzeichneten die Jahre 1936/1937.
Über die Ereignisse des November 1938 berichteten die „Northeimer Neueste Nachrichten” in ihrer Ausgabe vom 10. November wie folgt:
Spontane judenfeindliche Kundgebungen im ganzen Reich
... Die gerechte Empörung fand in Northeim ihren Ausdruck in Aktionen, die sich gegen die Einrichtungen der hier noch wohnenden Juden richteten. Man sah, vor allem in der Bahnhofstraße und an den anderen Stellen, wo sich noch Juden aufhalten, zerstörte Fensterscheiben und andere Zeugnisse der Auswirkungen eines verständlichen Volkszornes. Die Juden selbst wurden in Schutzhaft genommen. - So wie in Northeim, kam es auch in den Nachbarorten zu ähnlichen Demonstrationen.
Wenige Monate später hatte der allergrößte Teil der jüdischen Bewohner Northeim verlassen; nur 13 Juden lebten 1939 noch in Northeim. Infame ‚Nachrufe’ begleiteten die Familien, die die Kleinstadt verließen. Ein Beispiel lieferte der „Heimat-Beobachter” in seiner Ausgabe vom 27.4.1939; unter einer gehässigen Karikatur war der folgende Text zu lesen:
Ein Abschied, der uns alle freut
Wie wir hören, hat der größte Schweinehund, der in Northeim in den letzten 20 oder 30 Jahren herumgelaufen ist, der Jude Levi, der berüchtigte sozialdemokratische Hetzer und Zaunlattenhäuptling der Hermannschlacht von 1922 beim Brunnen, mit seiner Familie, ... Northeim verlassen, um in Palästina zu ‘siedeln’. Vielleicht trifft der Verbrecher außerhalb Deutschlands noch einmal das verdiente Geschick, dem er vor der Revolution 1933 durch die Dummheit seiner Mitmenschen und nach der Machtergreifung durch die Großmut des nationalsozialistischen Staates entgangen ist. In Northeim weint ihm keiner eine Träne nach.
Als die Deportationstransporte einsetzten, lebten in Northeim nur noch drei ältere jüdische Bewohner; sie wurden nach Theresienstadt „umgesiedelt“.
Gegenüber dem ehemaligen Standort der zerstörten Synagoge wurde 1969 ein Mahnmal in der Form einer Menora errichtet. Unter einer in hebräischen Lettern abgefassten Inschrift lautet der deutsche Text:
Sind wir nicht alle Kinder eines Vaters ? Haben wir nicht alle einen Gott ?
Inschrift am Portal der 1938 zerstörten Synagoge
Seit 1993 erinnert auf dem Entenmarkt ein Mahnmal an die jüdischen NS-Opfer Northeims (Aufn. N., 2013, aus: wikipedia.org, CC BY 3.0).
Im Jahre 2007 wurden die ersten 16 sog. „Stolpersteine“ in die Gehwegpflasterung verlegt; inzwischen erinnern 36 dieser Messingtäfelchen an ehemalige Northeimer NS-Opfer (Stand 2020).
„Stolpersteine“ für Familie Katz, verlegt in der Heinrichstraße (alle Aufn. Migebert, 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
... in der Bahnhofstraße
Die am Rande des kommunalen Northeimer Friedhofs befindliche jüdische Begräbnisstätte am Harztor - diese war 1944 an die Stadt verkauft und eingeebnet worden – weist heute 50 Grabstellen auf, die durch niedrige Betonsockel markiert wurden.
Jüdischer Friedhof (Aufn. , 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Im Dorfe Sudheim - heute Stadtteil von Northeim - lassen sich jüdische Bewohner seit ca. 1680 nachweisen. Im ausgehenden 18.Jahrhundert sollen hier 14 vom Pferdehandel lebende jüdische Familien ansässig gewesen sein. Weil deren Ansiedlung im nahen Northeim nicht erlaubt war, hatten sie deshalb ihre Wohnsitze in Sudheim genommen. Der „Unter dem Judenkirchhofe“ liegende Begräbnisplatz wurde vermutlich seit ca. 1835 benutzt.
Dem 1843 gegründeten Synagogenverband Hillerse-Sudheim–Northeim schloss sich 1849 auch Lindau (Katlenburg-Lindau) an. Seit 1862 gab es im Dorf in der Langen Straße eine neue Synagoge, die einen älteren Betraum - bei einem Großbrand 1856 zerstört - ersetzte. Ein Jahrzehnt später lebten nur noch ca. 30 jüdische Bewohner in Sudheim. Um 1900 waren dann nur noch einige Juden ansässig, nachdem bereits drei Jahrzehnte zuvor der Gemeindesitz nach Northeim verlegt worden war.
Einziges Relikt jüdischer Lokalgeschichte ist der Friedhof Lange Straße/Ecke Worthweg; auf dem Gelände der bis 1912 belegten Begräbnisstätte findet man 19 Grabsteine.
Friedhof in Sudheim (Aufn. , 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Im Dörfchen Imbshausen - heute ebenfalls ein Stadtteil von Northeims - sind Ansiedlungen von Juden seit etwa 1710 belegt. Erstmals wird die Existenz einer Synagoge 1812 bezeugt; seit den 1840er Jahren besaß die kleine jüdische Gemeinschaft eine schlichte Fachwerk-Synagoge, in der auch ein Schulzimmer untergebracht war. Nach dem Verkauf des Gebäudes gegen Ende des 19.Jahrhunderts fanden gottesdienstliche Zusammenkünfte in einem angemieteten Raume statt.
Ebenfalls stand ein Friedhofsgelände am Ort (In der Furth bzw. „Judenkuhle“) zur Verfügung. Die Grabsteine auf dem von 1782 bis 1908 benutzten, relativ großflächigen Beerdigungsgelände wurden Anfang der 1950er Jahre zweckentfremdet; die etwa 30 dokumentierten Steine wurden zerschlagen und für den Bau eines Hauses benutzt.
Die kleine Dorfgemeinde hatte sich um die Jahrhundertwende aufgelöst; die wenigen noch in Imbshausen verbliebenen jüdischen Personen schlossen sich der Gemeinde Northeim an.
Ehem. Friedhof bei Imbshausen (Aufn. Dehio, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Im Dorfe Lüthorst – seit 1974 ein Ortsteil von Dassel – existierte am Ortsrand (am Linsenbrink) ein jüdischer Begräbnisplatz (Ersterwähnung 1844). Während des Novemberpogroms soll das Gelände verwüstet worden sein. Heute sind keine Spuren des einstigen Friedhofs mehr sichtbar; die von einem ortsansässigen Landwirt vor 1945 erworbene Fläche wird seitdem als Weide genutzt.
vgl. dazu: Mackensen (Niedersachsen)
Weitere Informationen:
Hildegard Behr, Judentaufe 1689, in: "Der Heimatfreund - Beilage zu den Northeimer Neuesten Nachrichten", No. 52/1974
Kurt Richter, Jüdische Gemeinde in Imbshausen. Ein wichtiges Kapitel der Dorfgeschichte, in: "Der Heimatfreund - Beilage der Northeimer Neuesten Nachrichten", März 1981
Oda Foerster, Die kleineren Synagogengemeinden Südniedersachsens im Dritten Reich, in: "Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte", No.85/1987, S. 223 ff.
I.Vielberg/G.Murken/G.Ballin (Bearb.), Jüdische Mitbürger in Northeim vom späten Mittelalter bis zur Neuzeit, Hrg. Stadt Northeim, Northeim 1988
Gisela Murken, Zur Geschichte der jüdischen Einwohner in Sudheim und Hillerse, in: I.Vielberg/G.Murken/G.Ballin (Bearb.), Jüdische Mitbürger in Northeim vom späten Mittelalter bis zur Neuzeit, Hrg. Stadt Northeim, Northeim 1988, S. 140 ff.
Gerhard Ballin, Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Imbshausen, in: I.Vielberg/G.Murken/G.Ballin (Bearb.), Jüdische Mitbürger in Northeim vom späten Mittelalter bis zur Neuzeit, Hrg. Stadt Northeim, Northeim 1988, S. 171 ff.
Gisela Murken, Zur Geschichte der jüdischen Einwohner im ehemaligen adeligen Gericht Hardenberg, in: "Northeimer Heimatblätter", No. 53/1988, S. 62 ff.
Iris Vielberg, Von der Diskriminierung zur Deportation. Jüdische Schicksale in Northeim nach 1933, in: "Südniedersachsen 16", 4/1988, S. 98/99
Gisela Murken, Zur Geschichte der jüdischen Einwohner im ehemaligen adeligen Gericht Hardenberg (II), in: "Northeimer Jahrbuch", 54/1989, S. 96 - 139
Bernd Schaller (Bearb.), Der jüdische Friedhof in Sudheim – Dokumentation der Grabsteine, 1990
Albert Marx, Geschichte der Juden in Niedersachsen, Fackelträger-Verlag GmbH, Hannover 1995
Ruth Röwer-Döhl, Das Schicksal der jüdischen Gemeinde in Northeim, in: Heimat- u. Museumsverein für Northeim und Umgebung (Hrg.), Northeim im 20.Jahrhundert, Northeim 2002, S. 312 - 325
Hans Harer, “Das haben wir nicht gewußt ...” - Neue Erkenntnisse über Deportationen von Northeimer Juden, in: "Northeimer Jahrbuch", 69/2004, S. 105 - 117
T.Avraham/W.Jürgens/S.Obenaus (Bearb.), Sudheim/Northeim, in: Herbert Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, Band 2, S. 899 – 903 (Imbshausen) und S. 1443 – 1457 (Sudheim/Northeim)
Dirk Butterbrodt, Zum Schicksal der jüdischen Mitbürger in Northeim. Eine Übersicht, in: "Northeimer Jahrbuch", 71/2006, S. 62 - 76
Hans Harer, Stolpersteine für Northeim. Über die Realisierung des Gedenkprojekts der Stadt Northeim, in: "Northeimer Jahrbuch", 72/2007, S. 108 - 115
Hans Harer, „Es war so gemeint“. Eine Boykottanzeige von 1933 als Quelle zur Verängstigung und Ausgrenzung, Teil 1, in: "Northeimer Jahrbuch", 73/2008, S. 49 – 63
Hans Harer, „Es war so gemeint“. Eine Boykottanzeige von 1933 als Quelle zur Verängstigung und Ausgrenzung, Teil 2, in: "Northeimer Jahrbuch", 74/2009, S. 117 – 136
Hans Harer, Neue Zeugnisse jüdischen Lebens in Northeim, in: "Northeimer Jahrbuch", 75/2010, S. 134 – 141
Hans Harer, Scharlachfrei und „Eier-Levy“. Weitere Momentaufnahmen aus dem Leben Northeimer Juden, in: "Northeimer Jahrbuch", 76/2011, S. 124 - 129
Hans Harer (Bearb.), Stolpersteine – Das Projekt zur Erinnerung an ermordete jüdische Bürger Northeims (Verlegeorte mit Biografien der betroffenen Personen/Familien), online abrufbar als PDF-Datei: erinnernsuedniedersachsen.de
Auflistung der in Northeim verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Northeim
Jens-Christian Wagner (Red.), NORTHEIM - Novemberpogrome 1938 in Niedersachsen, online abrufbar unter: pogrome1938-niedersachsen.de/northeim/