Ober-Seemen (Hessen)
Ober-Seemen - am südwestlichen Hang des Vogelsberges gelegen - ist seit 1971 ein Ortsteil der Großgemeinde Gedern im östlichen Teil des Wetteraukreises - ca. 45 Kilometer südwestlich von Fulda gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905 mit Eintrag von Gedern, aus: de-academic.com und Kartenskizze 'Wetteraukreis', aus: ortsdienst.de/hessen/wetterauskreis).
Um die Mitte des 19.Jahrhhunderts erreichte die Zahl der Angehörigen der israelitischen Gemeinde von Ober-Seemen ihren Zenit; nahezu jeder 5. Ortseinwohner gehörte dem mosaischen Glauben an.
Vereinzelt lebten bereits im 17.Jahrhundert Juden in Ober-Seemen. Im Laufe des 18./19.Jahrhunderts bildete sich hier eine relativ große jüdische Gemeinde; gegen Ende des 19. Jahrhunderts wanderten die Gemeindeangehörigen vermehrt ab, vor allem in die Städte. Trotz der rückläufigen Zahl ihrer Angehörigen ließ die finanzschwache Synagogengemeinde 1899/1901 einen Synagogenneubau errichten, der im August 1901 unter Leitung des Provinzialrabbiners Dr. Hirschfeld aus Gießen eingeweiht wurde; er ersetzte an gleicher Stelle einen Bau aus den 1860er Jahren. Das neue aus Basaltbruchsteinen erstellte Gebäude war durch Spenden eines in die USA ausgewanderten Juden finanziert worden.
In der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 1. August 1901 wurde die Einweihung wie folgt angekündigt:
Ober-Seemen, 29. Juli. Vorstand und Festausschuß der hiesigen jüdischen Gemeinde laden zu der am 9., 10. und 11. August stattfindenden Einweihung ihrer neuerbauten Synagoge durch Cirkular ein. Das Gotteshaus ist von Herrn Leopold Zimmermann und dessen Ehefrau Josefine geborene Wolf in Newyork gestiftet. Den Anlaß hierzu bot die goldene Hochzeitsfeier der Eltern des Stifters vor vier Jahren. Leider hat die Mutter desselben die Einweihung nicht mehr erlebt. Sie ist vor Kurzem unerwartet verstorben. Das Gotteshaus enthält auch zugleich Räume für die Schule, Lehrerwohnung und sonstige Gemeindeeinrichtungen. Es hat eine eigene Gasbeleuchtung, Wasserleitung und wird eine Zierde für die Gemeinde bilden. Zu den Feierlichkeiten trifft der ganze Ort Vorkehrungen. Es ist eine eigene große Festhalle errichtet, ein Theil der Regimentsmusik des Leibgarderegiments Nr. 115 in Darmstadt gewonnen, und da ein großer Zuzug fremder Gäste erwartet wird, so verspricht es einen glänzenden Verlauf zu nehmen.
Synagoge in Ober-Seemen (hist. Aufn., um 1935, aus: Th. Altaras)
Anzeigen aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 7.Juni 1876, vom 22.Okt. 1900 und 29.März 1915
Am Orte gab es auch eine jüdische Elementarschule, die in den 1920er Jahren aufgegeben wurde.
Auch ein vermutlich um 1760 angelegtes Friedhofsgelände war im Besitz der jüdischen Gemeinde in Ober-Seemen.
Die Kultusgemeinde Ober-Seemen unterstand dem orthodoxen Provinzialrabbinat Gießen.
Juden in Ober-Seemen:
--- 1830 .......................... 141 Juden,
--- 1861 .......................... 151 “ (ca. 17% d. Bevölk.),
--- 1880 .......................... 115 “ (ca. 14% d. Bevölk.),
--- 1895 .......................... 93 “ (ca. 11% d. Bevölk.),
--- 1905 .......................... 85 “ ,
--- 1910 .......................... 94 " (ca. 10% d. Bevölk.),
--- 1925 .......................... 87 “ ,
--- 1933 ...................... ca. 75 " (in 20 Familien),
--- 1938/40 ..................... eine jüdische Familie.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen, Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 156
Mehrheitlich bestritten die jüdischen Familien Ober-Seemens ihren Lebensunterhalt als Kaufleute, andere waren Viehhändler und Handwerker.
Stellenanzeigen von 1904 und 1918
Von den zu Beginn der NS-Zeit hier lebenden ca. 20 jüdischen Familien verließen die allermeisten in den nächsten Jahren den Ort, die jüngeren unter ihnen gingen in die Emigration. Zu Jahresbeginn 1938 wurde die Synagogengemeinde Ober-Seemen aufgelöst und das Gemeindeeigentum veräußert; das Synagogengebäude ging in den Besitz der Kommune über. Beim Novemberpogrom 1938 wurde dennoch die Inneneinrichtung völlig zerstört, äußerlich das Gebäude aber nur leicht beschädigt. Während der Kriegsjahre wurde es als Unterkunft für Kriegsgefangene verwendet.
Im November 1938 (bis 1940) hielt sich nur noch eine einzige jüdische Familie in Ober-Seemen auf.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind nachweislich 43 aus Ober-Seemen stammende bzw. hier längere Zeit ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer der "Endlösung" geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/ober-seemen_synagoge.htm).
Das einstige Synagogengebäude ist bis heute - ohne wesentliche bauliche Veränderungen - erhalten geblieben, obwohl es nach 1945 die unterschiedlichsten Nutzungen erfuhr – so u.a. als Schule, Lagerraum, Lederwarenfabrik u.a.; 1978 gelangte das Haus in Privatbesitz, wurde unter Denkmalschutz gestellt und umfassend restauriert. Noch heute lassen sich deutliche sichtbare Hinweise auf die einstige Nutzung des Gebäudes erkennen - so z.B. die bogenartigen Fenster im Obergeschoss und die auf dem First stehenden Gesetzestafeln.
Das auch im Innern modernisierte Gebäude wird gegenwärtig als „Tagungshaus Vogelsberg“ für Seminare etc. genutzt.
Ehemaliges Synagogengebäude (Aufn. U., 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Ein weiteres Zeugnis jüdischer Geschichte Ober-Seemens ist der alte Friedhof mit seinen ca. 90 Grabsteinen; die ältesten stammen aus der Zeit um 1760.
Friedhofsgelände vor und nach der Sanierung (Aufn. Yvonne Reeker 2003/2005)
[vgl. Gedern (Hessen)]
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 156/157
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 157
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945 Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt, 1995, S. 322
Ober-Seemen, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Bild- u. Textdokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Thea Altaras, Synagogen in Hessen - Was geschah seit 1945 ? Verlag K.R.Langewiesche Nachfolger Hans Köster, Königstein/T. 1988, S. 213 (2. erw. Auflage von 2007)
Yvonne Reeker, Jüdischer Friedhof Ober-Seemen vor 1845 – 1935. Bestandsaufnahme November 2010 (Fotodokumentation)
Jan Grossarth (Red.), Drama um alte Synagoge: Steinherz, in: "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 8.12.2017