Oerlinghausen (Nordrhein-Westfalen)
Oerlinghausen ist eine lippische Kommune mit derzeit ca. 17.000 Einwohnern – zwischen Bielefeld und Detmold gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905 ohne Eintrag von O., aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Kreis Lippe', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Alt-Oerlinghausen - Lithographie, um 1860 (Abb. aus: lippe-owl.de)
Die ersten Ansiedlungen von Juden im Dorfe Oerlinghausen lassen sich gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges auf Grund vorliegender Geleitbriefe belegen; gegen Ende des 17.Jahrhunderts hatte sich vermutlich bereits eine kleine Gemeinde ausgebildet. Oerlinghausen war ein „alter Händlerort“ und um 1800 Heimat dann einer relativ großen israelitischen Gemeinde. Nach Detmold beherbergte Oerlinghausen zeitweilig die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Lippe; zu ihr gehörten auch die Dörfer Hovedissen und Wellentrup. Alle Angehörigen verdienten ihren Lebensunterhalt im Pferde- und Landhandel.
1800 ließ die jüdische Gemeinde - nach Genehmigung durch die Fürstlich Lippische Regierung - auf einem Hinterhofgrundstück eine kleine hölzerne Synagoge erbauen; vorher hatte die Judenschaft ihre Gottesdienste in angemieteten Räumen abgehalten. Die Genehmigung für den Bau der Synagoge (am Hang des Tönsberges) war vom Amt Oerlinghausen empfohlen worden, da „dieser Platz ... so weit entlegen (ist), daß der christliche Gottesdienst durch die Synagoge im geringsten nicht gestört werden kann; daher das Amt die Bitte der Judenschaft, den Bau der Synagoge zu verstatten, untertänig unterstützen muß”. Der Baugrund war von einem Gemeindemitglied der Kultusgemeinde geschenkt worden. Seit 1803 existierte eine Synagogenordnung für die Oerlinghauser Gemeinde. 30 Jahre später soll die inzwischen baufällig gewordene hölzerne Synagoge durch ein neues massives Gebäude ersetzt worden sein. Anfang der 1890er Jahre - in einer Zeit, als die Zahl der Gemeindemitglieder schon rückläufig war - ließ die jüdische Gemeinde die alte Synagoge abbrechen und ein neues Gebäude in der Tönsbergstraße errichten.
Entwürfe für die Synagoge in Oerlinghausen (1893)
Bis in die Mitte der 1920er Jahre kam noch ein Minjan zustande; danach fanden keine Gottesdienste mehr in der hiesigen Synagoge statt; die Juden von Oerlingshausen suchten an den hohen Feiertagen die Synagoge in Bielefeld auf. Nur bei Beerdigungsgottesdiensten wurde die Synagoge noch benutzt.
In Oerlinghausen existierte im 19.Jahrhundert auch eine jüdische Religions- und Elementarschule; letztere musste 1892 aufgegeben werden, weil der Lehrer von den wenigen Gemeindeangehörigen nicht mehr bezahlt werden konnte.
Ein jüdischer Friedhof - etwa 500 Meter von der Synagoge entfernt - wurde vermutlich bereits in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts innerhalb der Stadtgrenzen „Auf dem Berge“ angelegt; die Ersterwähnung des Friedhofs erfolgte im Jahre 1761.
Juden in Oerlinghausen:
--- um 1765 ....................... 8 jüdische Familien,
--- 1809 .......................... 7 “ “ (mit ca. 40 Pers.),
--- 1850 .......................... 52 Juden,
--- 1872 .......................... 74 " ,
--- 1880 .......................... 55 " ,
--- 1890 .......................... 49 “ ,
--- 1905 .......................... 47 " ,
--- 1932/33 ....................... 20 “ (0,6% d. Bevölk.),
--- 1938 .......................... 5 “ (2 Familien),
--- 1941 (Mai) .................... 2 “ ,
(Dez.) ................... keine.
Angaben aus: Jürgen Hartmann, Synagoge und jüdische Gemeinde während des Nationalsozialismus
und Heike Plaß (Bearb.), Oerlinghausen, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen …, S. 569
Im Zuge einer Versteigerung eines der ältesten Häuser Oerlinghausens, dem „langen Gottfried“ an der Hauptstraße, erwarben die jüdischen Gebrüder Moses und Heinemann Paradies 1859 das Anwesen, das nun Standort einer Zigarrenfabrikation wurde, die zahlreiche Kinder beschäftigte.
(Anm.: In einem Raum des Gebäudes war die jüdische Elementarschule untergebracht; im Kellergeschoss baute man eine Mikwe ein.)
Die wenigen noch in Oerlinghausen verbliebenen jüdischen Familien - vor allem im Leinen- und Textilhandel tätig - waren um 1900 völlig in das gesellschaftliche und soziale Leben der Kleinstadt eingebunden. Einige lebten seit Jahrhunderten in der Stadt, wie die des Textilkaufmanns Siegfried Bornheim, der Anfang der 1930er Jahre das 300-jährige Geschäftsjubiläum feiern konnte.
Mit dem massiven Auftreten der NSDAP in Oerlinghausen 1931 wurden erste antisemitische Töne laut, die vom „Lippischen Kurier” noch verstärkt wurden; doch schien die antijüdische Propaganda bei der Bevölkerung zunächst wenig Wirkung hinterlassen zu haben. Der Boykott jüdischer Geschäfte am 1.4.1933 wurde zwar auch in Oerlinghausen propagiert, fand aber bei den meisten Einwohnern keine bzw. kaum Resonanz. Im Laufe des Sommers 1935 steigerte sich die besonders von der „Lippischen Staatszeitung” getragene antijüdische NS-Hetze; einzelne jüdische Geschäftsleute wurden diffamiert, ebenso „arische Volksgenossen“, die weiterhin Kontakte zu Juden unterhielten. Die städtischen Behörden unterstützten diese Bestrebungen durch „besondere Maßnahmen gegen die Juden“. Auch vor Beschimpfungen und Rempeleien auf offener Straße waren nun jüdische Bewohner nicht mehr sicher. Ein Hetzartikel in der „Lippischen Staatszeitung” vom August 1935:
Zum Zeitpunkt der „Kristallnacht“ lebten nur noch fünf jüdische Bewohner im Ort, die dreiköpfige Familie Herz und das Ehepaar Kuhlemeyer; alle anderen hatten Oerlinghausen bereits verlassen. Die gewalttätigen Ausschreitungen am Abend des 10. November richteten sich in Oerlinghausen gegen die Synagoge und das einzige jüdische Geschäft am Ort, das dem Ehepaar Heinrich u. Irma Herz gehörte. SA-Angehörige in Zivil leiteten die „Aktion“, der sich auch eine größere Menschenmenge anschloss. Auf eine Brandlegung der Synagoge verzichtete man, da das Gebäude sich bereits in „arischen“ Besitz befand (Das Gebäude wurde seit 1938 von einem Privatmann als Wohnung und Schuhmacherwerkstatt genutzt). Die beiden letzten noch in Oerlinghausen verbliebenen männlichen Juden wurden „in Schutzhaft“ genommen und nach Buchenwald verbracht.
Das einzige noch hier lebende jüdische Ehepaar musste am 10.Dezember 1941 Oerlinghausen verlassen; über die Zwischenstation Bielefeld wurde das Ehepaar Kulemeyer noch im gleichen Monat nach Riga verschleppt. Nur fünf „in Mischehe“ lebende Juden bzw. „Halbjuden“ Oerlinghausens entgingen den Deportationen.
Nur das Ende der 1970er Jahre restaurierte Synagogengebäude in der Tönsbergstraße und der in unmittelbarer Nähe gelegene Friedhof „Auf dem Berge” (mit ca. 60 noch vorhandenen Grabsteinen) zeugen heute von der fast 300jährigen Geschichte der Juden Oerlinghausens.
Jüdischer Friedhof - einzelner Grabstein (beide Aufn. Ts., 2014, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Das ehemalige Synagogengebäude - es ist eines der wenigen auf dem Gebiet von Ostwestfalen-Lippe, das weitgehend originalgetreu erhalten geblieben ist - wird heute als Ausstellungsraum für zeitgenössische Malerei und Plastik vom hiesigen Kunstverein genutzt.
Eine Inschriftentafel - 1988 von der Stadtverwaltung angebracht - erinnert an die einstige Nutzung des Gebäudes:
An diesem Platz befand sich seit dem Jahr 1803 bis zum Juli 1938 die Synagoge der jüdischen Synagogengemeinde Oerlinghausen.
Unter Druck der nationalsozialistischen Machthaber wurde dieses Haus zwangsverkauft.
Nicht das Wegsehen, sondern das Hinsehen macht die Seele frei. Th. Litt
Den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus in der Stadt Oerlinghausen
Ehem. Synagogengebäude in Oerlinghausen (Aufn. Ts., 2014, aus: commons.wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Von einer Verlegung von sog. „Stolpersteinen“ hatte die Kommunalvertretung in der Vergangenheit bislang Abstand genommen; doch jüngst war das von der "Initiative Oerlinghausen" getragene Vorhaben zustimmend beschieden worden, so dass nun einer Beteiligung am "Stolperstein"-Projekt nichts mehr im Wege steht. 2024 sollen zunächst zwölf messingfarbene Steinquader in den Gehwegen der Bergstadt verlegt werden.
Weitere Informationen:
Jürgen Hartmann, “ ... da sie uns hier nicht länger haben wollen”. Die Verfolgung jüdischer Mitbürger in Oerlinghausen 1933 - 1941, in: "Lippische Mitteilungen", No. 57/1988, S. 343 - 363
Jürgen Hartmann, Das Schicksal der jüdischen Familie Kulemeyer aus Oerlinghausen (Maschinenmanuskript aus dem Jahre 1988)
Alex Moll, Geschichte der Oerlinghauser Synagoge von 1803 bis 1988, Hrg. Stadt Oerlinghausen, 1988
Jürgen Hartmann, Synagoge und jüdische Gemeinde während des Nationalsozialismus, in: Geschichte der Oerlinghauser Synagoge von 1803 - 1988, Oerlinghausen 1988, S. 9 - 13
M.Brocke/A.Pomerance, Der jüdische Friedhof in Oerlinghausen. Eine textlich-bildliche Dokumentation, Hrg. Stadt Oerlinghausen, Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 1993
Alex Moll/Jürgen Hartmann/Gisela Burkamp, Die Geschichte der Oerlinghauser Synagoge von 1803 bis 1995, Hrg. Stadt Oerlinghausen, 2. überarb. Aufl., Oerlinghausen-Leopoldhöhe 1995
Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen - Regierungsbezirk Detmold, J.P.Bachem Verlag, Köln, 1998, S. 334 - 338
G. Birkmann/H. Stratmann, Bedenke vor wem du stehst - 300 Synagogen und ihre Geschichte in Westfalen und Lippe, Klartext Verlag, Essen 1998, S. 178/179
Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 416/417
Jürgen Hartmann (Bearb.), Die Denkschrift des Detmolder Lehrers und Predigers Morrritz Rülf über die Synagogen und Friedhöfe in Lippe 1936/37, iin: „Rosenland – Zeitschrift für lippische Geschichte“, 9/2009, S. 20 ff.
Samuel Acker (Red.), Stumme Zeugen der Geschichte - Synagoge und jüdischer Friedhof überstanden beide die Pogromnacht 1938, in: „NW - Neue Westfälische“ vom 8.11.2010
N.N. (Red.), Oerlinghausen. Nein zu Stolpersteinen, in: "NW - Neue Westfälische“ vom 3.12.2011
Heike Plaß (Bearb.), Oerlinghausen, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Detmold, Ardey-Verlag, Münster 2013, S. 566 - 573
Jürgen Hartmann, Die Opfer des Nationalsozialismus in Oerlinghausen. Ein Erinnerungsbuch, Hrg. Stadt Oerlinghausen, 2.erw. Ausgabe, Oerlinghausen 2017, S. 11 - 43 und S. 55 - 62 (auch online abrufbar unter: oerlinghausen.de)
Horst Biere (Red.), Dunkle Tage in der Stadt, in: “NW - Neue Westfälische” vom 23.2.2018
Karin Prignitz (Red.), Oerlinghausen. Die Synagoge besteht seit 125 Jahren, in: “NW - Neue Westfälische” vom 22.7.2019
Knutz Dinter (Red.), Helpuper arbeitet jüdische Geschichte auf, in: “NW - Neue Westfälische” vom 15.8.2019
Sven Högermann, Juden in Oerlinghausen, Lippe Verlag Lage 2019
Horst Biere (Red.), Was der “lange Gottfried” alles erlebt hat, in: “NW – Neue Westfälische” vom 23.5.2021
Horst Biere (Red.), Hedwig Loewenthal – ein tragisches Schicksal, in: “NW – Neue Westfälische” vom 6.2.2022
Gunter Held (Red.), Oerlinghausen. Die Bergstadt bekommt Stolpersteine, in: “NW – Neue Westfälische” vom 30.4.2022
Horst Biere (Red.), Oerlinghausen. Als die jüdische Gemeinde in Oerlinghausen blühte, in: “NW – Neue Westfälische” vom 11.6.2022
Bergstadt Oerlinghausen (Red.), Stolpersteine sollen auch in Oerlinghausen an die Opfer der NS-Zeit erinnern, in: oerlinghausen.de vom 27.10.2023
Horst Biere (Red.), Stadtgeschichte. Kulemeyers waren die Letzten, in: „Neue Westfälische“ vom 2.3.2024