Oestrich-Winkel (Hessen)

Datei:Rheinhessen 1905.png – Wikipedia Datei:Oestrich-Winkel in RÜD.svg Oestrich-Winkel ist mit derzeit ca. 11.500 Einwohnern eine Kleinstadt im Rheingau-Taunus-Kreis - zwischen Eltville und Rüdesheim gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905 ohne Eintrag von Oestrich, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Rheingau-Taunus-Kreis', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

In Oestrich (-Winkel) bildete sich im ausgehenden 18.Jahrhundert eine kleine israelitische Gemeinde, die in enger Beziehung zu der von Eltville stand: zeitweilig soll sie mehr Angehörige als die in Eltville besessen haben; um 1900 waren es knapp 40 Personen.

Frucht-, Wein- und Viehhandel bildeten die Lebensgrundlage der hier lebenden jüdischen Familien. Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts bestritten ausschließlich Juden den lokalen Viehhandel.

Ein Betraum mit Schulzimmer in der Römergesse - eingerichtet um 1845 - und ein Friedhofsareal zählten zu den gemeindlichen Einrichtungen. Für die Erledigung gemeindlicher religiöser Aufgaben war zeitweise ein Lehrer angestellt. Ansonsten erhielten die jüdischen Kinder – sie besuchten die örtliche Volksschule – religiöse Unterweisung von auswärtigen Lehrern. Der Vorbeterdienst wurde zumeist von Gemeindeangehörigen ehrenamtlich übernommen (ausgenommen an hohen Feiertagen).

https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20261/Oestrich%20Israelit%2001091898.jpghttps://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20178/Oestrich%20Israelit%2011091902.jpg https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20178/Oestrich%20Israelit%2012021920.jpg

Kleinanzeigen aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom vom 1.9.1898,  vom 11.9.1902 und vom 12.2.1920

Die Begräbnisstätte – nördlich von Oestrich inmitten der Weinberge gelegen – bestand bereits seit den 1670er Jahren – sie ist damit die älteste ihrer Art im Rheingau – und wurde von zahlreichen Gemeinden der Umgebung genutzt. Auf dem fast 5.000 m² großen Begräbnisgelände stehen heute noch ca. 145 Grabsteine, die teils hebräische, teils deutsche Inschriften tragen.

Jüdischer Friedhof Oestrich-Winkel (06).jpg

Ansicht des jüdischen Friedhofs in Oestrich (Aufn. Marion Halft, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

In Winkel existierte um 1820/1830 auch eine Mikwe, die aber Ende der 1830er Jahre aus hygienischen Gründen geschlossen werden musste; deshalb suchte man fortan die Mikwen in Eltville und Bingen auf.

Die winzige Gemeinde war dem Rabbinat Wiesbaden unterstellt.

Anm.: Die jüdischen Familien in Winkel gehörten zur Gemeinde Rüdesheim.

Juden in Oestrich (-Winkel):

--- 1818 ..........................   4 jüdische Familien,

--- 1842 ..........................  46 Juden,*                * in Oestrich und Winkel

--- 1856 ..........................   2 jüdische Familien,

--- 1865 ..........................   6     “        “   ,

--- 1900 ..........................  45 Juden,*            

--- 1905 ..........................  36   "  ,

--- 1933 ..........................  25   “  ,

--- 1937 ..........................   5 jüdische Familien.

Angaben aus: Walter Hell, Die Juden Oestrich-Winkels in herzoglich-nassauischer Zeit (1806-1866)

 

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20261/Oestrich%20Israelit%2001091898.jpg  http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20261/Oestrich%20Israelit%2005091901.jpg http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20178/Oestrich%20Israelit%2011091902.jpg

Stellenangebote aus der Zeitschrift „Der Israelit“ von 1899, 1901 und 1903

Seit Ende der 1920er Jahre besaßen die Oestricher Juden eine Synagoge in einer angemieteten Scheune in der Hallgartener Straße; doch wurde diese wegen Wegzuges einiger Familien bald aufgegeben und durch einen Betraum in einem Privathaus ersetzt.

Anfang der 1930er Jahre lebten noch ca. 25 jüdische Personen am Ort.

Der Boykott im Frühjahr 1933 fand zunächst in Oestrich-Winkel kaum Beachtung; doch wurden noch im gleichen Jahr Beschlüsse in der Kommune gefasst, künftig Juden von öffentlichen Aufträgen auszuschließen und sie auch nicht mehr in lokalen Vereinen zu dulden.

Von den 1937 in Oestrich anwesenden fünf jüdischen Familien wanderte die Familie Eugen Strauß nach Uruguay aus.

Beim Novemberpogrom 1938 wurde der Betraum in der Kranenstraße von SA-Angehörigen geschändet; auch Geschäfts- und Wohnräume wurden demoliert und z.T. auch geplündert. An den Ausschreitungen in Oestrich beteiligten sich neben den örtlichen NSDAP-Mitgliedern auch solche aus Winkel und Mittelheim; zudem wurden sie dabei unterstützt von SA-Angehörigen aus Eltville und Rüdesheim. Auch Kinder und Jugendliche sollen sich an Plünderungen beteiligt haben.

J-Kennkarten gebürtiger Oestricher Juden – ausgestellt 1939 in Rüdesheim bzw. Mainz

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind zehn gebürtige bzw. längere Zeit am Ort wohnhaft gewesene jüdische Bürger Opfer der „Endlösung“ geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/oestrich_synagoge.htm )..

Drei Jahre nach Kriegsende wurden sieben aktiv in Oestrich am Pogrom Beteiligte vor dem Landgericht Wiesbaden wegen Körperverletzung, Landfriedens- und Hausfriedensbruch zu Haftstrafen zwischen vier Monaten und zwei Jahren verurteilt. Hingegen wurden die Rädelsführer der Ausschreitungen in Winkel nicht belangt. - Ehemalige Nationalsozialisten mussten den beschädigten Oestricher jüdischen Friedhof wieder in Stand setzen.

 

In Oestrich-Winkel und seinen Ortsteilen erinnern seit 2013/2014 zahlreiche sog. „Stolpersteine“ an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus; gegenwärtig findet man nahezu 40 solcher in die Gehwegpflasterung eingelassener Gedenktäfelchen (Stand 2020).

 Oestrich-Winkel Stolpersteine Brandpfad 13.jpgfür Familie Strauss, Brandpfad (Aufn. Alfons Tewes, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

 .... und in der Kranenstraße  Oestrich-Winkel Stolperstein Kranenstraße 19 Eduard Rosenthal.jpgOestrich-Winkel Stolperstein Kranenstraße 19 Babette Rosenthal.jpgOestrich-Winkel Stolperstein Kranenstraße 19 Fritz Rosenthal.jpgOestrich-Winkel Stolperstein Kranenstraße 19 Anny Steeg.jpg

 

vgl. dazu:  Eltville (Hessen)

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 157 – 159 (unter Eltville)

Eltville, in: alemannia-judaica.de

Oestrich-Winkel, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Walter K. Hell, Die Juden von Oestrich - Winkel vom 17. Jahrhundert bis zu ihrer Vertreibung und Vernichtung, in: „Der Ausscheller. Mitteilungsblatt des Stadtarchivs“ No. 35 - 37/2006

Thea Altaras, Synagogen und jüdische Rituelle Tauchbäder in Hessen – Was geschah seit 1945?, Königstein im Taunus, 2007, S. 370

Walter K. Hell, Die Juden von Winkel und ihr Schicksal im Dritten Reich - Aufsatz (online abrufbar)

Osterich, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Jürgen Eisenbach/Walter Hell (Bearb.), Jüdisches Leben in Oestrich-Winkel, Ausstellung 2013

Barbara Dietel (Red.), Erste „Stolpersteine“ wurden in Oesterich-Winkel und Mittelheim verlegt, in: „Wiesbadener Kurier“ vom 29.8.2013

Barbara Dietel (Red.), Letzter Stolperstein in Oestrich-Winkel erinnert an Alice Brehm, in: „Wiesbadener Kurier“ vom 15.3.2016

Kommunalverwaltung Oestrich-Winkel im Rheingau (Bearb.), Stolpersteine in Oestrich-Winkel, online unter: oestrich-winkel.de

Barbara Dietel (Red.), Jüdischer Friedhof in Oestrich soll mehr ins Bewusstsein gerückt werden, in: „Wiesbadener Kurier“ vom 25.11.2016

Auflistung der in Oestrich-Winkel verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Oestrich-Winkel