Ortelsburg/Masuren (Ostpreußen)
Der ostpreußische Kreis Ortelsburg - unmittelbar an der polnischen Grenze im masurischen Seengebiet gelegen - war der größte Landkreis, aber auch einer der ärmsten in Preußen. Die südöstlich von Allenstein gelegene Stadt Ortelsburg ist das heutige poln. Szczytno mit derzeit ca. 23.000 Einwohnern (Ausschnitt aus hist. Landkarte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Polen' mit Szczytno rot markiert, Y. 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Die Anfänge jüdischen Lebens in Ortelsburg lagen in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts, als zwei jüdische Familien aus Polen die Erlaubnis zur Ansiedlung in dem Landstädtchen erhielten. Von hier aus bereisten sie die preußischen Jahrmärkte, um mit ihren Textilwaren zu handeln. Um die Wirtschaft zu stärken und damit die Lebensverhältnisse seiner Bewohner zu verbessern, befürwortete die Kleinstadt in der Folgezeit die Ansiedlung weiterer jüdischer Familien; nach 1810 nahm die Zahl der Juden deutlich zu. Ab den 1830er Jahren gab es vermutlich schon eine feste Gemeindestruktur.
Eine Synagoge war 1835 eingerichtet worden. Es gab einen Vorbeter und Lehrer, der kurzzeitig in der kleinen privaten jüdischen Schule Religionsunterricht für die wenigen Kinder erteilte. Doch erst 1847 fand die offizielle Gründungsversammlung der Synagogengemeinde Ortelsburg statt; der Gemeinde gehörten auch Juden der Nachbarorte Friedrichshof, Passenheim, Schwentainen und Willenberg an; erst Jahre später genehmigte die Regierung das „Statut für die Synagogengemeinde zu Ortelsburg”.
In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts wuchs die Zahl der Gemeindemitglieder weiter erheblich an. 1886 weihte die jüdische Gemeinde ihre Synagoge in der Polnischen Straße (spätere Kaiserstraße) ein; auf dem Gelände wurde auch eine Mikwe eingerichtet.
Bei der Zerstörung von Ortelsburg durch russische Truppen in den ersten Kriegswochen 1914 brannte auch die Synagoge in der Kaiserstraße völlig nieder; danach diente zunächst ein Provisorium als Bethaus.
kriegszerstörte Synagoge - Aufn. von 1914
1924 wurde die neue Synagoge - vom Ortelsburger Architekten August Wiegand entworfen - feierlich eingeweiht.
neue Synagoge in der Kaiserstraße (hist. Aufn.) Abb. aus: historische-masurische-vereinigung.de
Eine eigene Begräbnisstätte besaß die Judenschaft Ortelsburgs seit 1815. Auf dem ca. 1.700 m² großen Gelände - damals weit außerhalb der Stadt gelegen - wurden neben verstorbenen Juden aus Ortelsburg auch die aus dem gesamten Kreisgebiet begraben - so u.a. aus Passenheim/Pasym und Kukuswalde/ Grzegrzółkiso.
Juden in Ortelsburg:
--- 1788 ........................... 3 jüdische Familien,
--- um 1820 ........................ 12 “ “ ,
--- 1848 ........................... 110 Juden,
--- 1855 ........................... 76 “ (in 16 Familien),
--- 1871 ........................... 199 “ ,
--- 1885 ........................... 178 “ ,
--- 1895 ........................... 176 “ ,
--- 1910 ........................... 139 “ ,
--- 1925 ........................... 145 “ ,
--- 1932 ....................... ca. 150 “ ,
--- 1939 (Mai) ..................... 27 “ .
Angaben aus: Andreas Kossert, Die jüdische Gemeinde Ortelsburg. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Masuren, S. 90
Innerhalb der Ortelsburger Kaufmannschaft nahmen Juden bis zum Ersten Weltkrieg eine dominante Stellung ein. Zahlreiche jüdische Geschäfte befanden sich in der Stadtmitte, am Markt und in der Kaiserstraße; zum festen Kundenstamm gehörte vor allem die ländliche Bevölkerung aus der nahen Umgebung. Die politische und wirtschaftliche Unsicherheit der Nachkriegsjahre wirkte sich auch auf die Geschäfte der jüdischen Kaufleute negativ aus; die Umsätze gingen zurück.
zerstörtes Ortelsburg, 1914 (Aufn. aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)
Gegen Ende der 1920er Jahre verschlechterte sich mit dem Aufstieg der „Deutschvölkischen Freiheitsbewegung” das gesellschaftliche Klima in Ortelsburg; diese Organisation genoss in der Region große Sympathien und propagierte in ihren Ortsgruppen offenen Antisemitismus.
Bei den Reichstagswahlen am 31.7.1932 gewann die NSDAP in der Region Ortelsburg fast 77% der Stimmen; bei den Märzwahlen 1933 waren es mehr als 87% ! Mit Beginn der NS-Zeit steigerte sich der staatlich organisierte Terror der neuen Machthaber derart, dass schon in den ersten Jahren nach 1933 ein Teil der Ortelsburger Juden die Stadt verließ. Bereits im März 1933 verübten SA-Angehörige Anschläge auf jüdische Geschäfte, und es kam zu ersten Festnahmen; Käufern wurde das Betreten jüdischer Geschäfte verwehrt, dabei wurde auch Gewalt angewendet. Einen vorläufigen Höhepunkt antisemitischer Hetztiraden bildete eine Großveranstaltung Mitte August 1935, zu der eigens Gauleiter Erich Koch nach Ortelsburg gekommen war. Bei einem Demonstrationszug durch die Straßen der Stadt wurden Transparente mitgeführt, die u.a. folgende Aufschriften trugen: „Mit den Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder - Oder” und „Jede jüdische Verleumdung und jede jüdische Lüge ist eine Ehrennarbe im Körper unserer Kämpfer”. In der Nacht vom 9./10.November 1938 brannte auch in Ortelsburg die Synagoge nieder; alsbald wurde die Ruine abgebrochen.
Wie viele Juden aus Ortelsburg noch rechtzeitig emigrieren konnten, ist unbekannt. Insgesamt wurden etwa 75 jüdische Bewohner aus dem Kreise Ortelsburg Opfer der NS-Gewaltherrschaft; sie kamen in den Vernichtungslagern ums Leben.
Nach Kriegsende kehrte nur eine einzige jüdische Einwohnerin in die Stadt zurück.
Heute leben keine Juden in Ortelsburg mehr. Nur der jüdische Friedhof mit seinen ca. 70 noch lesbaren Grabsteinen (mit hebräischen und deutschen Inschriften) - er gilt trotz der während des Zweiten Weltkrieges erfolgten Teilzerstörung heute als der noch am besten erhaltenen in Masuren - weist auf die ehemalige israelitische Gemeinde hin; der älteste vorhandene Stein datiert von 1827.
Gräberfeld des Friedhofs in Ortelsburg (Aufn. Jerzy Lapo, um 2010, aus: sztetl.org.pl und W. Olbrys, 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0 pl)
Weitere Informationen:
Hermann Gollub, Die Geschichte der Stadt Ortelsburg, 1926 (Nachdruck 1993)
Ronny Kabus, Juden in Ostpreußen, Husum 1998, S. 85, S. 129 und S. 133
Andreas Kossert, Die jüdische Gemeinde Ortelsburg - Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Masuren, in: M.Brocke/M.Heitmann/H.Lordick (Hrg.), Zur Geschichte und Kultur der Juden in Ost- und Westpreußen, Georg Olms Verlag, Hildesheim/u.a. 2000, S. 87 – 124
Szczytno, in: sztetl.org.pl (mit Abbildungen aller Grabsteine)
Krzysztof Bielawski (Red.), Der jüdische Friedhof in Szczytno, in: kirkuty.xip.pl (mit aktuellen Aufnahmen)
Marzena Zwierowicz (Bearb.), Jewish cemetery Szczytno, 2014, online abrufbar unter: zabytek.pl/en/obiekty/szczytno-cmentarz-zydowskil