Ortenberg/Nidder (Hessen)

 Datei:Kurhessen Kr Gelnhausen.png – Wikipedia Wetteraukreis Karte Ortenberg mit derzeit ca. 9.000 Einwohnern (in zehn Ortsteilen) liegt an den südlichen Ausläufern des Vogelsbergs - etwa acht Kilometer nördlich von Büdingen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Wetteraukreis', aus: ortsdienst.de/hessen/wetteraukreis).

Ortenberg (Hesse) De Merian Hassiae.jpg

Ansicht von Ortenberg Mitte des 17.Jahrhunderts, Topographia Hassiae (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

 

Ältester Beleg für jüdisches Leben in Ortenberg datiert von 1242 – zu einer Zeit, in der Ortenberg noch keine Stadtrechte besaß. Zu Beginn des 15.Jahrhunderts waren zwei Juden ('Samuel und Kalme mit Familien') in der Stadt Ortenberg ansässig, die als "Schutzjuden" eine jährliche Abgabe an die Grafen von Stolberg entrichten mussten. In den beiden Jahrhunderten zuvor sollen sich möglicherweise bereits einzelne Juden vorübergehend in Ortenberg aufgehalten haben; so wird im Archiv der jüdischen Gemeinde Frankfurt eine gewisse 'Hannah von Ortenberg' genannt.

Im Laufe des 15. Jahrhunderts erhielten dann weitere jüdische Familien das Recht, sich in Ortenberg niederzulassen.

Während des Dreißigjährigen Krieges variierte die Zahl der hier lebenden jüdischen Familien sehr; so lebten 1635 überhaupt keine Juden in Ortenberg, bei Kriegsende allerdings wieder sechs Familien. Aus dieser Zeit ist die Gründung einer Synagoge belegt, die aber von den Stadtoberen nur ungern gesehen wurde, wie ein Schreiben von 1653 an den Stadtherrn belegt:

... Die verfluchte Judenschul, welche jetzo öffentlich, vor diesem aber in aller Stille heimlich ohne einiges Menschen Ärgernis gehalten, darin die liebe Obrigkeit zuvorderst und alle Christgläubigen täglich bei ihren Zusammenkünften vormalediert und verspeit werden, welche auch so großes Ärgernis erregt, jederzeit zu ihren Baalsfesten, allen Bürgern zum Verdruß und Beschwerung ein solche Gelauf und Geplärr von Fremden halten, daß groß Ungemach daraus entsteht, damit dieselbe gänzlich cassiert und abgeschafft, sie die Juden als Sklaven und dienstbare Knechte wie unter anderen Herrschaften und nicht so frei gehalten werden.

              http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20427/Ortenberg%20Juedisches%20Begraebnis%20Frongeld%201792.jpg Dokument (betr. Begräbnis- u. Frongeld) von 1792

Gegen Mitte des 18.Jahrhunderts erwarb die Judenschaft Ortenbergs ein Grundstück an der Stadtmauer, auf dem eine neue Synagoge gebaut wurde; diese wurde bis 1877 genutzt und anschließend wegen Baufälligkeit aufgegeben. In einem Aufruf an die Glaubensgenossen wurde um Spenden für die Einrichtung eines neuen Betraumes gebeten; in einem Artikel der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 6.9.1876 hieß es u.a.:

Unsere Brüder, Israeliten! Der unterzeichnete Vorstand der israel. Gemeinde findet sich veranlaßt, seiner Glaubensgenossen Mildthätigkeit in Anspruch zu nehmen. Unsere Synagoge, vor 120 Jahren aus Holz gebaut, ist so baufällig, daß sie eine wahre Ruine ist; sie droht jeden Tag übereinander zu fallen; es ist lebensgefährlich, in derselben ein Beter zu sein. ... Wie waren also genöthigt, für eine andere Synagoge Sorge zu tragen und kauften ein Haus, wozu wir eine Anleihe machten, weil die hiesige Gemeinde nur 16 Mitglieder zählt, wovon 2/3 mittellos sind. Es fehlen uns aber noch 3.000 (sage dreitausend) Mark ... Wir ersuchen deßhalb unsere Glaubensgenossen Barmherzige und Wohltätige, uns nicht im Stiche zu lassen. ...

Ortenberg (Oberhessen), den 7. Elul                                           Der Vorstand: Maier. Heß. Oppenheimer.

Mit Hilfe eingegangener Spenden (auch der Graf von Stolberg-Roßla-Ortenberg hatte für das Vorhaben ein Geschenk von 300 Mark gemacht), dem Erlös aus dem Verkauf des alten Gebäudes und der Aufnahme eines Darlehens konnte die jüdische Gemeinde die neue Synagoge im folgenden Jahre im Obergeschoss eines von der Familie Oppenheimer angekauften Gebäudes vor der Stadt ihre neue Synagoge einrichten und in Anwesenheit des Großherzoglichen Rabbiners der Provinz Oberhessen (Dr. Levi) einweihen. Diese Synagoge wurde bis 1933 genutzt.

In einem Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 13. Nov.1877 hieß es zur Einweihung des Gebäudes:

"Gießen, 29. October (Privatmittheil.). Als ein Zeichen fortschreitenden Humanität und brüderlichen Verhaltens und Verkehrens der christlichen Ortsgemeinden und Vorstände gegen ihre jüdischen Mitbürger, wollen Sie gefälligst folgende Thatsachen in Ihrer geschätzten Zeitung registriren. Im Laufe verwichenen Sommers, bei der Synagogenweihe zu Artenberg (Anm.: muss Ortenberg heißen), und letzten Samstag, bei der zu Nidda, die ich vollzogen, und die beide in solennester Weise stattgefunden, haben sich nicht blos die betreffenden christlichen Geistlichen und die Kreis- und Landbehörden am Zuge wie am Gottesdienste betheiligt: es haben auch die verschiedenen christlichen Gesangvereine bei der Feier in erhebendster Weise mitgewirkt, und die Ortsvorstände einen namhaften Beitrag zu den Kosten des Synagogenbaues geleistet …"

Der Artikel wurde vom damaligen Großherzoglichen Rabbiner der Provinz Oberhessen Dr. Levi (Gießen) verfasst.

Im folgenden Jahr richtete die jüdische Gemeinde im Obergeschoss eines von der Familie Oppenheimer angekauften Gebäudes vor der Stadt ihre neue Synagoge ein; diese wurde bis 1933 genutzt.

  https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20155/Ortenberg%20Israelit%2016061898.jpg

Kleinanzeigen aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 1.12.1887, 16.6.1898  und 11.4.1904

In der Nähe des Stadtbrunnens war eine Mikwe vorhanden, die bis um 1930 in Gebrauch war.

Der jüdische Friedhof lag vor der Stadt an der Nidder; der genau Zeitpunkt seiner Anlegung ist unbekannt, dürfte aber im frühen 18.Jahrhundert liegen. Der älteste vorhandene, noch lesbare Grabstein ist dem Jahre 1728 zuzuordnen.

Zur jüdischen Gemeinde gehörten auch die Familien aus Bleichenbach.

Die Gemeinde gehörte zum liberalen Provinzialrabbinat von Gießen.

Juden in Ortenberg:

         --- um 1420 .......................   2 jüdische Familien,

    --- um 1590 .......................   4     “        “    ,     

    --- um 1630 .......................   8     “        “    ,

    --- um 1660 .......................  10     “        “    ,

    --- um 1790 .......................   9     “        “    ,

    --- 1828 ..........................  82 Juden (ca. 8% d. Bevölk.),

    --- 1861 .......................... 102   “   (ca. 9% d. Bevölk.),

    --- 1871 ..........................  81   “   (ca. 8% d. Bevölk.),

    --- 1880 ..........................  68   "  ,

    --- 1900 ..........................  69   “  ,

    --- 1910 ..........................  45   “   (ca. 5% d. Bevölk.),

    --- 1925 ..........................  45   “  ,

    --- 1932/33 .......................  36   "   (in 10 Familien),

    --- 1939 ..........................   ein Jude.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 189

 

Seit etwa 1900 ging die Zahl der in Ortenberg wohnenden Juden deutlich zurück; vor allem junge Leute wanderten aus, zumeist in die USA. Zu Beginn der NS-Zeit lebten nur noch zehn jüdische Familien in Ortenberg; ihren Lebensunterhalt bestritten sie vornehmlich im Textil- sowie im Pferde- und Viehhandel.

                       Geschäftsanzeige der Metzgerei Gustav Kaufmann von 1924

Christliche Mehrheit und jüdische Minderheit sollen bis Anfang der 1930er Jahre konfliktfrei zusammengelebt haben. Doch auch in Ortenberg zeigte die NS-Propaganda alsbald ihre Wirkung. Alle jüdischen Einwohner Ortenbergs verließen bereits in den ersten Jahren der NS-Zeit ihren Heimatort, zogen in größere deutsche Städte und/oder emigrierten von hier zumeist in die USA und nach Palästina. Die jüdische Gemeinde löste sich bereits vor 1936 auf.

Aus dem „Niddaer Anzeiger” vom 28.Juli 1936:

... Ortenberg ist judenfrei. Vorige Woche sind die beiden letzten Judenfamilien abgereist. Bei der letzten Volkszählung waren noch 54 Juden hier ansässig, die zum größten Teil nach Palästina, Holland und Amerika ausgewandert sind.

Als einziger Jude blieb Isaak Liebermann, der „in Mischehe“ mit einer „deutsch-blütigen“ Frau verheiratet war, in Ortenberg zurück.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..."  fielen 16 gebürtige bzw. längere Zeit in Ortenberg ansässig gewesene jüdische Bewohner der "Endlösung" zum Opfer; aus Bleichenbach waren es 14 Personen (namentliche Nennung der Opfer, in: alemannia-judaica.de/ortenberg_synagoge.htm).

 

Das ehemalige Synagogengebäude (Wilhelm-Leuschner-Str.), in dem 1933 der letzte Gottesdienst stattgefunden hatte und das dann wenig später verkauft worden war, wurde nach 1945 zu einem Mehrfamilienhaus umgebaut.

Die ehemalige Mikwe – ein kleines Häuschen an der einstigen Stadtmauer gelegen – ist baulich erhalten.

Eine 2008 geschaffene Gedenktafel (angebracht an einer Mauer in der Schlossstraße), die namentlich die 17 jüdischen NS-Opfer auflistet, trägt die folgende Inschrift:Zum Gedenken an die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ermordeten jüdischen Bürgerinnen und Bürger Ortenbergs".

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20427/Ortenberg%20Mahntafel.jpg Gedenktafel für die Ortenberger jüdischen NS-Opfer (aus: alemannia-judaica.de)

Das an der Nidder liegende ca. 3.300 m² große jüdische Begräbnisgelände weist heute noch ca. 100 Grabsteine auf, wobei die ältesten aus der Zeit der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts stammen.

Grabstein-Ensemble

Alte Grabsteine (alle Aufn. Stefan Haas, 2015)

 

 

In der Wasenstraße in Bleichenbach - einem Stadtteil von Ortenberg - erinnern seit 2017 neun sog. „Stolpersteine“ an Angehörige der jüdischen Familie Leopold; während drei Familienmitglieder die NS-Zeit überlebten, wurden sechs von ihnen Opfer der Shoa.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20427/Ortenberg%20Stolpersteine%20Fam%20Leopold%20Wasenstrasse%20Ortenberg-Bleichenbach2.jpgAufn. Michael Schroeder, Ortenberg

 

 

In Usenborn – heute ebenfalls ein Ortsteil von Ortenberg – war im Laufe des 19.Jahrhunderts auch eine kleine jüdische Gemeinde existent (1830 mit ca. 50 Angehörigen); zum gemeindlichen Eigentum gehörten ein Synagogengebäude und eine Mikwe. Neben zwei Händlern bestritten die meisten hier ansässigen Juden ihren Lebenserwerb mit der Ausübung verschiedener Handwerke. Als sich die Zahl der Gemeindeangehörigen deutlich verringert hatte, brach man um 1885 das am Ort befindliche Synagogengebäude ab, um es dann in Glauberg wieder aufzubauen.

 

 

Hinweis: Im badischen Ortenberg/Ortenaukreis gab es zu keiner Zeit eine jüdische Gemeinde. Vorübergehende Ansässigkeit einer jüdischen Familie des Menche Jud ist aus der Zeit des 16.Jahrhunderts bekannt. Nach vorübergehender Duldung wurde die Familie vom Landvogt Graf Friedrich von Fürstenberg ausgewiesen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war das Schloss Ortenberg im Besitz von Theodor Freiherr von Hirsch (geb. 1838 in München), der dem jüdischen Glauben angehörte. Auf Grund seines vielfältigen sozialen Engagements für Ortenberg erhielt er im Jahre 1897 die Ehrenbürgerschaft.

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 189/190

Fritz Engel, Zur Geschichte der Juden in Ortenberg, Ortenberg 1981 (maschinenschriftliches Manuskript)

Thea Altaras, Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945? , Königstein i.Ts. 1988, S. 192

Thea Altaras, Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945?, Teil II, Königstein i.Ts. 1994, S. 154 - 156

Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I: Regierungsbezirk Darmstadt, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1995, S. 331/332

Germania Judaica, Band III/2, Tübingen 1995, S. 1078/1079

Ortenberg mit Bleichenbach, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Ortenberg in Oberhessen (Hrg.), Ehemaliges Judenbad – Jüdischer Friedhof, online abrufbar unter: ortenberg.de

Der jüdische Friedhof in Ortenberg, in: alemannia-judaica (mit zahlreichen Aufnahmen von Stefan Haas aus dem Jahr 2015)

Manuela Baumann (Red.), Neun Stolpersteine in Bleichenbach erinnern an Schicksal jüdischer Mitbürger, in: “Kreisanzeiger – Zeitungsgruppe Zentralhessen” vom 15.11.2017

Potenkowski (Red.), Erinnerung an jüdisches Leben in Ortenberg, in: “Kreis-Anzeiger” vom 13.11.2018

Manfred Meuser/Michael Schroeder (Bearb.), Geschichte der jüdischen Gemeinde von Ortenberg in Hessen, in: "Ortenberger kleine historische Schriften", Band 4, hrg. vom Kulturkreis Altes Rathaus Ortenberg e.V., 2018

Corinna Willführ (Red.), Zeugen aus Stein und Schrift für Ortenbergs jüdische Vergangenheit, in: “Frankfurter Neue Presse” vom 17.9.2022

Ortenberg/Baden (Ortenaukreis), in: alemannia.judaica.de (betr. Familie des Freiherrn Theodor von Hirsch basierend auf Forschungen von Hermann Bürkle aus Ortenberg)