Neutra/Nitra (Slowakei)

Nové Zámky in der Slowakei Das in der West-Slowakei liegende Neutra (slow. Nitra, ung. Nyitr(i)a) ist neben Preßburg/Bratislava die älteste Stadt der Slowakei; sie war ehemals eines der Zentren des Judentums. Derzeit leben in der Stadt ca. 76.000 Einwohner; damit ist sie die sechstgrößte Stadt der Slowakei – etwa 90 Kilometer östlich der Hauptstadt Bratislava gelegen.

Neutra/Nitra um 1690 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Die jüdische Gemeinde von Neutra/Nitra, deren Geschichte bis ins hohe Mittelalter zurückreicht, gehörte zu den ältesten und bedeutendsten auf slowakischem Boden, deren Existenz – außer einer kurzzeitigen Vertreibung ihrer Angehörigen im frühen 18.Jahrhundert - bis in die NS-Zeit andauerte.

Ab den 1740er Jahren lebten dann dauerhaft jüdische Familien in Neutra.

Die aus ca. 800 Angehörigen sich zusammensetzende Gemeinde erbaute im Jahre 1818 eine neue Synagoge (Paarstraße); zwei Jahre später eröffnete eine eigene Elementarschule. Eine Jeschiwa wurde um 1840/1845 ins Leben gerufen.

Mehrheitlich erklärten sich die Gemeindeangehörigen zur ungarischen Nationalität.

Eine Spaltung in zwei religiöse Lager (mit orthodoxer Mehrheit) führte alsbald zur Einrichtung unterschiedlicher gemeindlicher Einrichtungen; nur im Schulwesen bestand Gemeinsamkeit - allerdings geprägt von einer religiös-orthodoxen Grundhaltung.

In den Jahren 1908/1911 ließ die „Reform-Gemeinde“ einen Synagogenneubau errichten, der vom Baumeister Lipót Baumhorn im maurisch-byzantinischen Stile konzipiert war.

Synagogue in Nitra.JPG Synagoge in Nitra (Aufn. Marcin Szala, 2012, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)

Seit der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts besaß die jüdische Gemeinde ein eigenes Begräbnisareal im Südwesten der Stadt.

  Jüdischer Friedhof in Nitra (Aufn. aus: spectator.sme.sk/)Jewish history still being made - spectator.sme.sk

Anmerkung: Auf dem Friedhof ist auch der berühmte jüdische Gelehrte, Rabbi Ezechiel Baneth (geb. 1776 in Obuda, gest. 1854) begraben; sein Grab ist zu einer Wallfahrtsstätte geworden.

Juden in Neutra/Nitra:

--- um 1750 ..................... ca.     20 Familien,

--- 1793 ........................ ca.    450 Juden,

--- 1827 ............................  1.272   “  ,

--- um 1845 ..................... ca.  2.000   “  ,

--- 1869 ............................  3.141   “  ,

--- 1880 ............................  3.501   “  (ca. 29% d. Bevölk.),

--- 1891 ........................ ca.  3.700   “  ,

--- 1910 ........................ ca.  4.200   “  (ca. 25% d. Bevölk.),

--- 1921 ........................ ca.  3.900   “  ,

--- 1930 ........................ ca.  3.800   “  ,

--- 1940 ........................ ca.  4.350   “  ,

--- 1941 (Dez.) ................. ca.  5.400   “  ,

--- 1944 (Sept.) ................ ca.  1.500   “  ,

--- 1945/1947 ................... ca.    500   "  ,

--- 1990 ........................ ca.     60   “  .

Angaben aus: The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), S. 895/896

und                The Jewish Community of Nitra, aus: dbs.bh.org.il/place/nitra

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/68/Nyitra_d%C3%A9lr%C5%91l%2C1899%2C_Borovszky_szerint.jpgBlick auf Nitra (Postkarte von 1899)

Während der revolutionären Unruhen des Jahres 1848 waren die jüdischen Einwohner von Ausschreitungen betroffen.

Die Neutraer Juden bestimmten maßgeblich das Wirtschaftsleben der Stadt: die hiesigen Geschäfte und Unternehmen (darunter zwei Banken) waren mehrheitlich in jüdischen Händen; auch die hier sich entwickelnde Industrie wurde von jüdischen Unternehmern getragen. In den 1920er Jahren gab es hier ca. 450 Geschäfte und mehr als 100 Handwerkerbetriebe, die jüdische Besitzer hatten.

Auch im öffentlichen Leben spielten Juden eine Rolle: so waren sie im Stadtrat vertreten und übten Richterämter in und um Neutra/Nitra aus.

Als eines der Zentren des ungarischen Zionismus in der Zwischenkriegszeit hatten in der Stadt verschiedene Organisationen zahlreiche Anhänger gefunden.

Neutra/Nitra war eine der ersten Städte, aus der Juden deportiert wurden: betroffen davon waren Ende 1938 ca. 95 mittellose Familien, die über die ungarische Grenze verbracht wurden; gleichzeitig erfolgten Verhaftungen wohlhabender Juden, um damit die Transferierung ihrer Vermögen ins Ausland zu verhindern.

Mit der Etablierung des slowakischen Nationalstaates setzte verstärkt eine antijüdische Gesetzgebung ein, die in relativ kurzer Zeit zur völligen Ausschaltung der jüdischen Geschäftsleute aus dem Wirtschaftsleben der Stadt führte. Die durch die städtischen Behörden vorangetriebene Entrechtung ließ Hunderte jüdischer Männer zu Zwangsarbeitern werden.

Mit der Ankunft von aus Preßburg ausgewiesenen jüdischen Familien (Nov. 1941) stieg die Zahl der hiesigen jüdischen Bewohner, die nun in einem Ghetto- bzw. Sammellager zusammengedrängt lebten, auf kurzzeitig ca. 5.000 Personen an; unter ihnen waren auch österreichische Jüdinnen und Juden, die alle nach Treblinka abtransportiert wurden.

Ein knappes halbes Jahr später setzten die ersten Deportationen ein; davon betroffen waren zunächst ca. 250 Männer und ca. 300 Frauen, die nach Majdanek bzw. nach Auschwitz verschleppt und dort zumeist ermordet wurden.

Nitra, 1942, Deportation der Juden aus der Stadt, Museum SNP – Banska Bystrica. Deportation aus Nitra 1942 (hist. Aufn., aus: Museum Banska Bystrica)

Große Transporte folgten ab Ende April; so wurden mehr als 3.000 Juden aus Nitra und Umgebung in den Distrikt von Lublin deportiert: zum einen ins Ghetto von Lubartow (ca. 30 km nördlich Lublins) und ins Ghetto von Rejowiec verfrachtet; keiner soll überlebt haben.

Nur diejenigen Juden, die aus öffentlichem Interesse „unentbehrlich“ waren, durften zunächst in der Stadt verbleiben. Die Hoffnung, sich durch Taufe der „Endlösung“ zu entziehen, war vergeblich.

 

Nur ein Zehntel der jüdischen Bevölkerung Nitras überlebte den Holocaust.

Die aus ca. 600 Angehörigen bestehende Nachkriegsgemeinde – die beiden religiösen Zweige hatten sich nun wieder vereinigt - wurde in den Folgejahrzehnten auf Grund von Emigration immer kleiner. Doch konnte sich die Kultusgemeinde bis in die 1970er Jahre behaupten. 1990 sollen dann nur noch ca. 60 Juden in Nitra gelebt haben.

Seit dem Jahre 1951 erinnert ein Mahnmal auf einem der beiden wieder instand gesetzten jüdischen Friedhöfe an die während der Shoa ermordeten jüdischen Bewohner.

Nitra - Synagóga.jpg  Inside Synagogue in Nitra.jpg

Synagogeninnenraum (Aufn. Ladislav Luppa, 2015   und  Filo, 2017, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)

Am Synagogengebäude, das seit Mitte der 1980er Jahre einer aufwändigen Restaurierung unterzogen und 2003 der Öffentlichkeit zur kulturellen Nutzung übergeben wurde, erinnert seit 1992 eine Gedenktafel an die einstige Gemeinde der Stadt. Eine auf der ehemaligen Frauenempore untergebrachte Dauerausstellung informiert den Besucher über den Holocaust.

In Nitra hat man 2017 den ersten sog. „Stolperstein“ verlegt.

                                  Stolperstein für Maria Arpassy-Gerstl (Nitra).jpg Aufn. Chr. Michelides, 2017, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)

Adolf Abraham Eckstein (geb. 1857 im slowakischen Neutra/Nitra), der nach seiner Ausbildung zunächst in verschiedenen Städten (Schwerin, Marienwerder) tätig war und sein Studium an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums (in Berlin) und mit seiner Promotion (1886 in Leipzig) abschloss, wurde im Jahre 1888 zum Distrikt- u. Stadtrabbiner in Bamberg ernannt. Seine umfangreiche publizistische Tätigkeit galt vor allem der Geschichte der Juden in Süddeutschland. Der als Vertreter des liberalen Reformjudentums wirkende Adolf Abraham Eckstein starb 1935 an seiner Wirkungsstätte Bamberg.

 

Das Dorf Komjatice liegt ca. 20 Kilometer südlich von Neutra/Nitra entfernt. Gegen Mitte des 18.Jahrhunderts setzte eine zögerliche Ansiedlung jüdischer Familien in Komjatice ein; es waren z.T. Flüchtlinge aus Mähren. Die kleine Gemeinde erreichte um 1890 mit ca. 130 Angehörigen ihren Höchststand; Kleinhandel und Handel mit Landesprodukten bestimmten die wirtschaftliche Basis der hier lebenden Familien. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es im Dorf einige jüdische Großhändler (darunter eine Brennerei).

Nach der Annexion durch Ungarn wurden die jüdischen Männer im Dorf zu Zwangsarbeit eingesetzt. Die deutsche Besetzung (1944) brachte dann das Ende der kleinen jüdischen Gemeinschaft: ca. 50 Personen wurden nach Auschwitz-Birkenau deportiert.

 

In Schala (dt. auch „Schelle“) - es ist das slowakische Šaľa (bis 1927 slow. Šaľa nad Váhom oder Šaly, ung. Vagsellye, etwa 25 Kilometer südwestlich von Neutra/Nitra gelegen - wurde im Laufe des 18.Jahrhunderts eine kleine jüdische Gemeinde gegründet. Die Zahl ihrer Angehörigen wuchs nur langsam, weil die Zuwanderung und Ansässigkeit vom Stadtrat restriktiv gehandhabt wurden. In den 1890er Jahren ließ die jüdische Gemeinde eine Synagoge erbauen (eingeweiht 1896); daneben befand sich eine Mikwe, die von einer heißen Quelle gespeist wurde.

Die jüdischen Kinder besuchten eine eigene Elementarschule, die nach Ende des Ersten Weltkrieges eingerichtet worden war; daneben gab es eine schon länger existierende Religionsschule.

Zu den gemeindlichen Einrichtungen gehörte auch ein Friedhof; eine Chewra Kadischa sorgte für die Beerdigungen. Die Beschriftungen der Grabsteine waren in hebräischer, deutscher oder ungarischer Sprache abgefasst. Bevor dieses Begräbnisareal angelegt worden war, wurden Verstorbene auf dem alten Friedhof in Veča beerdigt.

Juden in Schala/Šaľa:

--- 1840 .........................  12 Juden,

--- 1880 ..................... ca. 150 Juden (ca. 5% d. Bevölk.),

--- 1900 ......................... 272   “  ,

--- 1910 ......................... 321   “  ,

--- 1921 ..................... ca. 400   “  ,

--- 1941 ..................... ca. 440   “  ,

--- 1948 ..................... ca. 120   “  ,

--- 1968 ..................... ca.  30   “  .

Angaben siehe: The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), S. 1120

und                  Sala, in: dbs.bh.org.il/place/sala

Zu Beginn des 20.Jahrhunderts dominierten die Juden das Wirtschaftsleben in der Stadt; fast 40 Geschäfte, 14 Handwerksbetriebe und zwei Industrieunternehmen hatten jüdische Eigentümer.

Mit der Annexion durch Ungarn (1938) setzten auch in Schala/Šaľa Diskriminierung und Verfolgung der jüdischen Familien ein; Unternehmen mussten aufgegeben werden und Männer wurden zur Zwangsarbeit eingesetzt.

Als deutsche Truppen im März 1944 das Gebiet besetzten, wurde ein Ghetto errichtet, in dem auch Juden aus der Region eingewiesen wurden; drei Monate später erfolgte die Deportation der Ghettobewohner nach Auschwitz-Birkenau.

Die nach Kriegsende in die Stadt zurückkehrenden Holocaust-Überlebenden verließen - bis auf sehr wenige - Šaľa im Jahre 1949; Ziel war vor allem der neugegründete Staat Israel.

Das während der Kriegsjahre beschädigte Synagogengebäude wurde abgerissen; an dessen Stelle befindet sich heute ein Mahnmal, das an die Opfer des Holocaust erinnert.

 

Weitere Informationen:

The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), New York University Press, Washington Square, New York 2001, S. 652 (Komjatice), S. 895/896 (Nitra/Neutra) und S. 1120 (Šaľa/Schala)

Maros Borský, Synagogue Architecture in Slovakia towards creating a memorial landscape of lost community, Dissertation (Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg), 2005, S. 143

The Jewish Community of Nitra, Hrg. Beit Hatfutsot – The Museum of the Jewish People, online abrufbar unter: dbs.bh.org.il/place/nitra

The Jewish Community of Sala, Hrg. Beit Hatfutsot – Museum of the Jewish People, online abrufbar unter: dbs.bh.org.il/place/sala

Nitra – Synagogue, in: slovak-jewish-heritage.org/nitra-synagogue.

Auskünfte der Stadtverwaltung Nitra