Ratibor (Oberschlesien)
Die im deutsch-polnisch-tschechischen Grenzraum gegründete Marktsiedlung Ratibor erhielt gegen Ende des 13.Jahrhunderts Stadtrechte und war seit 1610 ‘kaiserliche Stadt’. 1741 wurde der Ort preußisch. 1945 kam die fast völlig zerstörte Stadt unter polnische Verwaltung und heißt seitdem Racibórz mit derzeit ca. 55.000 Einwohnern (Ausschnitte aus hist. Karten, aus: wikipedia.org CCO bzw. wikiwand.com und Kartenskizze 'Polen' mit Racibórz markiert, aus: mapa.livecity.pl).
Erstmals wurden Juden in Ratibor 1367 urkundlich erwähnt; zur damaligen Zeit lebten die Familien ghettoartig zusammen; sie besaßen eine Synagoge und lebten vom Kleinhandel, vom Geldverleih und auch von Handwerken. 1510 wurde der Stadt das Privileg „de non tolerandis Judaeis” zugestanden, das später nochmals erneuert wurde; trotzdem hielten sich in der Folgezeit Juden innerhalb der Stadtmauern auf; allerdings handelte es sich dabei um relativ wenige Familien, die auch nicht dauerhaft hier lebten.
Die jüdische Gemeinde Ratibors, zu der auch Glaubensgenossen aus dem Umland zählten, verfügte seit 1813/1814 über einen eigenen Friedhof.
1828/1829 errichtete man ein Synagogengebäude, das Anfang der 1860er Jahre noch erweitert wurde. Da es aber bald den Ansprüchen der schnell wachsenden Gemeinde nicht genügte, ließ diese - in unmittelbarer Nähe mehrerer christlicher Kirchen und mitten im Zentrum Ratibors - zwischen 1887 und 1889 einen repräsentativen, siebenachsigen Synagogenneubau erstellen, der neobarocke Merkmale besaß.
Neue Synagoge von Ratibor (links: Lithographie, rechts: Bildpostkarte um 1900, aus: commons.wikimedia.org CCO)
Verschiedene Organisationen und Vereine, die vor allem auf sozialem Gebiet wirkten, bereicherten das Gemeindeleben. Seit 1882 war die jüdische Gemeinde Ratibor Mitglied im Verband der Oberschlesischen Synagogengemeinden.
Juden in Ratibor:
--- um 1790 ..................... ca. 20 Juden,
--- 1824 ............................ 261 " ,
--- 1831 ............................ 478 “ ,
--- 1842 ........................ ca. 780 “ ,
--- 1871 ........................ ca. 1.200 “ (ca. 8% d. Bevölk.),
--- 1881 ........................ ca. 1.500 “ ,
--- 1895 ........................... 1.021 “ ,
--- 1900 ............................ 948 “ (ca. 3% d. Bevölk.),
--- 1910 ............................ 770 “ ,
--- 1928 ............................ 706 “ ,
--- 1933 (Jan.) ..................... 640 “ ,
(Dez.) ..................... 563 “ ,
--- 1939 (Mai) ...................... 309 “ (0,6% d. Bevölk.).
Angaben aus: The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), S. 1060
Neue Straße in Ratibor - Postkarte um 1910 (Abb. aus: akpool.de)
Ihren zahlenmäßigen Höchststand erreichte die jüdische Gemeinde Ratibors in den 1880er Jahren; danach setzte eine starke Abwanderung ab. Die meisten Geschäfte Ratibors hatten jüdische Eigentümer, allein 17 lagen am Marktplatz der Stadt. Etwa die Hälfte der Fabriken war im Besitz von Juden, die ihren neuen Wohlstand im Kauf von Landgütern im Umland Ausdruck verliehen. Zu Beginn der 1930er Jahre zählte die Gemeinde Ratibor noch etwa 650 Angehörige. Mit Beginn der NS-Herrschaft beschleunigte sich die Abwanderungstendenz.
Der Pogrom vom November 1938 wurde auch in Ratibor „planmäßig“ durchgeführt: Mehrere Tage lang plünderten und zerstörten Angehörige verschiedener NS-Organisationen jüdische Geschäfte und Wohnungen, verprügelten Bewohner und inhaftierten die Männer; das Synagogengebäude wurde in Brand gesetzt. Angeblich soll vor den Ausschreitungen eine Großdemonstration „Auf dem Ring“ abgehalten worden sein, auf der der hiesige NS-Propagandaleiter zur „Volksbelustigung“ einige Stellen aus dem Talmud vorgelesen und der NSDAP-Kreisleiter Hawellek eine Hetzrede gegen die Juden gehalten haben. Im Juli 1942 wurde das Ende der inzwischen aus nur noch etwa 200 bis 300 Angehörigen bestehende jüdische Gemeinde Ratibors besiegelt: Ihre Angehörigen wurden in die Vernichtungslager deportiert und wurden dort Opfer der "Endlösung".
Die Synagogenruine wurde Ende der 1950er Jahre abgetragen; heute befindet sich hier eine Grünanlage.
ausgebrannte Synagogenruine vor dem Abriss (um 1955)
Seit 2001 erinnert eine Gedenktafel am früheren Synagogenstandort in der ehemaligen Schuhbankstraße an die einst hier lebenden jüdischen Familien.
Vom ehemaligen jüdischen Friedhof sind - außer einigen Fundament- und Grabsteinrelikten - kaum sichtbare Spuren mehr vorhanden; das Areal ist weitestgehend von der Vegetation eingenommen.
Friedhofszugang (Aufn. b., 2006, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Einen größeren Bekanntheitsgrad erlangten die aus einer jüdischen Familie Ratibors stammenden Gebrüder Ludwig und Moritz Traube. Der 1818 geborene Ludwig T. wurde ein berühmter Pathologe; sein acht Jahre jüngerer Bruder Moritz machte als bedeutender Chemiker auf sich aufmerksam. In die Fußstapfen seines Vaters Moritz trat dann dessen Sohn Wilhelm (geb. 1866 in Ratibor), der durch zahlreiche Patente internationale Bekanntheit erlangte. In der NS-Zeit verlor er seine Lehrbefugnis, wurde 1942 inhaftiert und verstarb an Folgen von Misshandlungen; sein Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee.
Seit 2006 erinnert am Gebäude der Post in Racibórz eine Gedenktafel an Arnold Ludwig Mendelssohn, der hier 1855 geboren wurde. Als Komponist und Musikpädagoge machte er sich zu seinen Lebzeiten europaweit einen Namen und erhielt in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens zahlreiche Ehrungen. 1933 verstarb er – seit 1930 Ehrenbürger der Stadt Darmstadt – an den Folgen eines Schlaganfalls.
Weitere Informationen:
Augustin Weltzel, Geschichte der Stadt und Herrschaft Ratibor, Ratibor 1881
Victor Paul (Bearb.), Ratibor – Geschichte bis 1800, online abrufbar unter: sites.google.com/site/ratiborraciborz/geschichte (Text von ca. 1920)
Helmut Eschwege, Die Synagoge in der deutschen Geschichte - Eine Dokumentation, VEB Verlag der Kunst, Dresden 1980, S. 129/130
Harold Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. u. 20.Jahrhundert, Hans Christians Verlag, Hamburg 1981, Teil 1, S. 367 und Teil 2, Abb. 286
P.Maser/A.Weiser, Juden in Oberschlesien. Teil 1: Historischer Überblick, Jüdische Gemeinden, in: "Schriften der Stiftung Haus Oberschlesien, Landeskundliche Reihe", Band 3.1, Gebr. Mann Verlag, Berlin 1992
The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), New York University Press, Washington Square, New York 2001, S. 1060
Adolf Blumenthal (Hrg.), Festrede bei der Einweihung der Neuen Synagoge in Ratibor am 18.Dezember 1889, o.O. 2010
Racibórz, in: sztetl.org.pl
Racibórz, in: kirkuty.xip.pl
Beata Pomykalska/Pawel Pomykalski, Auf den Spuren der Juden Oberschlesiens, Hrg. Haus der Erinnerung an die Juden Oberschlesiens – Zweigstelle des Museums in Gleiwitz, Gliwice 2019