Ratingen (Nordrhein-Westfalen)
Die Stadt Ratingen – derzeit ca. 87.000 Einwohner zählend – ist eine Stadt des Kreises Mettmann im Regierungsbezirk Düsseldorf - ca. zehn Kilometer nordöstlich der Landeshauptstadt Düsseldorf (hist. Karte von ca. 1640, aus: wikipedia.org gemeinfrei und Kartenskizze 'Kreis Mettmann', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Die Existenz von Juden in Ratingen wurde erstmals Ende des 16.Jahrhunderts in den Ratsprotokollen erwähnt, so von 1592, wonach sie von Bewachungsaufgaben an der Stadtmauer freigestellt waren. Im Laufe der Jahrhunderts lebten allerdings nur sehr wenige jüdische Familien in der Stadt; ihre größte Zahl erreichte die Judenschaft im Laufe des 19.Jahrhunderts mit etwa 70 bis 80 Personen.
Im Namen der Ratinger Juden verfasste der Gemeindevorstehers David Joseph 1816 ein Gesuch an den Landrat und bat hierin um die Genehmigung zum Bau einer Synagoge; darin hieß es: „ ... Um also diesen Unannehmlichkeiten und Andachtsstörungen auf immer zu entgehen, und künftig unseren Gottesdienst auf eine feierliche Art ausüben zu können, haben wir einmüthig beschlossen, eine Synagoge zu erbauen, das heißt in so fern uns die hochlöbliche Regierung dazu die gnädigste Erlaubniß ertheilt, in Ratingen den Platz dazu anreißt, und einen kleinen Fond zur Bestreitung eines Theils der Kosten für Erbauung des Tempels anweisen würde; oder nur bewilligen möchte, durch eine Kollekte bey unseren Glaubensgenossen in einigen Städten der hiesigen Provinz, um verhältnißmäßige Summen zu sammeln, damit wir alsdann das übrige aus eigenen Mitteln zur Vollendung des Ganzen beizubringen im Stande wären. Im Vertrauen auf die allgemein anerkannte gütige Regierung haben wir unsere Wünsche befriedigt zu sehen; und bitten demnächst ganz unterthänigst um eine baldige Antwort.“
Bereits seit 1817 (oder 1818) verfügte die Gemeinde dann über eine eigene Synagoge an der Bechemer Straße; zuvor soll es in einem Hause einer jüdischen Familie in der Lintorfer Straße einen Betraum gegeben haben (erstmals 1769 erwähnt).
Synagogengebäude Ende der 1930er Jahre in der Bechemer Straße (hist. Aufn., Stadtarchiv Ratingen)
Der vermutlich um 1780 angelegte erste jüdische Begräbnisplatz lag außerhalb der Ratinger Stadtmauern an der heutigen Angerstraße/Werdener Straße; seine letzte Belegung war 1937. Zudem gab es im Ratinger Stadtgebiet noch zwei kleine jüdische Friedhöfe. – Der Friedhof am Blomericher Weg (im heutigen Ratinger Stadtteil Breitscheid) gehörte zum historischen Ort „Kettwig vor der Brücke“ und war der ältere von zwei Begräbnisstätten der Kettwiger Gemeinde.
Anmerkung: In Kettwig ließen sich im 18.Jahrhundert erstmals jüdische Familien nieder; die kleine Gemeinschaft erreichte aber kaum mehr als 50 Angehörige. Um 1800 ist eine Synagoge erwähnt. [vgl. Essen (Nordrhein-Westfalen)]
Die jüdische Gemeinde Ratingen gehörte seit Ende der 1850er Jahre als Filialgemeinde zum Synagogenbezirk Düsseldorf.
Juden in Ratingen:
--- 1804 ........................... 36 Juden,
--- 1828 ........................... 47 “ ,
--- 1843 ........................... 31 “ ,
--- 1853 ....................... ca. 70 “ ,
--- 1861 ........................... 64 “ ,
--- um 1880 .................... ca. 45 “ .
--- 1927 ........................... 24 “ ,
--- 1933 ........................... 18 “ ,
--- 1939 ........................... keine.
Angaben aus: Erika Münster (Bearb.), Juden in Ratingen seit 1592 - Eine Dokumentation
und Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil II: Reg.bez. Düsseldorf, S. 408
Ihren Lebensunterhalt verdienten die wenigen jüdischen Familien zu Beginn des 20.Jahrhunderts als kleine Kaufleute und Viehhändler; die meisten von ihnen wohnten in der Oberstraße. Ende der 1920er Jahre wurde letztmalig ein Gottesdienst in der Ratinger Synagoge abgehalten; die Zahl der Gemeindeangehörigen war so weit zurückgegangen, dass nicht mehr die zur Abhaltung eines Gottesdienstes vorgeschriebene Mindestzahl von zehn erwachsenen Männern vorhanden war. Danach besuchten die Ratinger Juden Gottesdienste in Düsseldorf. 1936 wurde das Synagogengrundstück von der Stadtverwaltung angekauft, die es zwei Jahre später - nach öffentlicher Versteigerung - einer Privatperson übereignete. 1937 wurde auch das jüdische Friedhofsgelände angekauft, das nach der Verwüstung im November 1938 eingeebnet und zu einer Grünanlage umgestaltet wurde.
Aus der „Ratinger Zeitung” vom 7.12.1940:
Abriß der Synagoge In den letzten Wochen ist man dabei, die frühere Synagoge an der Bechemerstraße niederzulegen. Das Gebäude wurde schon vor einigen Jahren auf Abbruch verkauft. Man möchte nur wünschen, daß die Spitzhacke hier schneller gründliche Arbeit machte, dann ist in Ratingen die letzte Erinnerung an die Zeit, da in unserem Vaterlande Juden Einfluß hatten, beseitigt. Zur Zeit bietet die Abbruchstelle noch ein sehr trostloses Bild. An Stelle der Synagoge soll später ein Geschäftshaus erbaut werden.
Ob in den Novembertagen 1938 das Synagogengebäude geschändet wurde, bleibt unklar. Ende des Jahres 1939 lebten keine jüdischen Einwohner mehr in Ratingen.
Auf dem ehemaligen Synagogengrundstück in der Bechemer Straße wurde Ende der 1950er Jahre ein Neubau errichtet, an dessen Seitenfront seit 1984 eine schlichte Inschrift angebracht ist.
Am 60.Jahrestag des Novemberpogroms wurde an gleicher Stelle eine neue Gedenktafel (Aufn. aus: vile-netzwerk.de) mit der folgenden Inschrift eingeweiht:
Hier stand die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Ratingen. Erbaut 1817
Sie wurde 1936 unter dem Druck der Nationalsozialisten verkauft, entweiht und später abgerissen.
...
Auf Initiative des Ratinger Heimatvereins wurde vor dem ehemaligen Synagogengrundstück eine Platte mit einer Abbildung der Synagoge in den Boden eingelassen.
Bodenplatte vor der ehemaligen Synagoge (Aufn. Heimatverein Ratingen)
Bereits 1946 war von der Stadtverwaltung auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof ein Gedenkstein aufgestellt worden. Im Jahre 2013 wurde das Areal als „Ort der Erinnerung“ umgestaltet.
In Ratingen leben derzeit ca. 200 Bürger/innen jüdischen Glaubens, etwa die Hälfte davon sind Mitglieder des Kulturvereins; sie gehören zur Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Seit 2009 unterhält dieser Verein an der Mülheimer Straße eine Bibliothek und ein kleines Museum. 2022 konnte der Kulturverein auf sein 20jähriges Bestehen zurückblicken.
In der Stadt erinnern seit 2005/2014 sog. „Stolpersteine“ an die ehemaligen Wohnsitze von fünf in der NS-Zeit verfolgten jüdischen Familien.
"Stolpersteine" für Fam. Kellermann, Bechemer Str.
für Fam. Levison, Bechemer Str. (alle Aufn. Gmbo, 2015, aus: wikipedia.org, CCO)
Zwischen Hösel und Kettwig liegt auf einer Höhe der alte jüdische Friedhof am Blomericher Weg, zu dem früher der „Leichenweg“ aus dem Ruhrtal führte. Auf dem Gelände wurden seit 1786 Angehörige der kleinen jüdischen Gemeinde aus Kettwig vor der Brücke bestattet. Heute sind auf dem Gelände noch 44 Grabsteine vorhanden.
Aufn. D. 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
Impressionen vom jüdischen Friedhof am Blomericher Weg (Collage von Lucia Kirschbaum, 2011)
In der Stadt Heiligenhaus (östlich von Ratingen/Kreis Mettmann, derzeit ca. 26.000 Einw.) wurden zu den bislang schon verlegten fünf sog. „Stolpersteinen“ - davon sind vier Steine ehemaligen jüdischen Bewohnern gewidmet - noch drei weitere hinzugefügt, die Angehörige der Bäckerfamilie Oss erinnern (Stand 2021). Der Arbeitskreis „Stolpersteine“ initiierte 2022/2023 die Verlegung weiterer Steine, so an drei Mitglieder der Familie Jacobs. Von den während der NS-Zeit in Heiligenhaus lebenden 24 Personen mosaischen Glaubens sind alle Opfer der Shoa geworden.
verlegt in der Hauptstraße (Aufn. P. Gaßner, 2009, aus: wiki-de.genealogy.net)
In Erkrath – einer Stadt südlich von Ratingen – wird ebenfalls mit "Stolpersteinen" einigen (zumeist nicht-jüdischen) NS-Opfern gedacht; die ersten vier Steine wurden bereits 2007 verlegt.
Weitere Informationen:
Josef Schappe, Nichts gegen einen Synagogenbau. Die Juden und ihr Leben in zwei Jahrhunderten in Ratingen, in: "Rheinische Post" vom 14.1.1983
Josef Schappe, Das Leben der Juden in Ratingen - Synagoge war schon nicht mehr Bethaus, in: "Rheinische Post" vom 18.1.1983
Juden im Kreis Mettmann. Bibliographie - Zeitzeugen zur Geschichte, Selbstverlag des Kreises Mettmann, 1990
Hermannn Tapken (Bearb.), Ratingen von 1933 bis 1945. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Ein Quellen- und Lesebuch, Hrg. Verlag für Heimatkunde und Heimatpflege e.V., Ratingen 1990
Erika Münster (Bearb.), Juden in Ratingen seit 1592 - Eine Dokumentation, in: "Schriftenreihe des Stadtarchivs Ratingen", Reihe C - Band 5, Hrg. Stadtarchiv Ratingen 1996
Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 442/443
Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil II: Reg.bezirk Düsseldorf, J.P.Bachem Verlag, Köln 2000, S. 408 – 412
Bastian Fleermann, „... sahen uns genöthigt, ein Zimmer zu miethen“. Die Verhandlungen über den Bau der Synagoge in Ratingen 1816/1817, in: "Die Quecke. Ratinger und Angerländer Heimatblätter", 75/2005, S. 205 – 211
Ursula Reuter, Jüdische Gemeinden vom frühen 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts, Bonn 2007, S. 55
Menschen – Orte – Erinnerung. Jüdisches Leben in Ratingen, Hrg. Stadtarchiv Ratingen, 2008
Renate Habets, Kiesel zum Gedenken. Erzählungen, alcorde-Verlag, 2012
Hanna Eggerath/Helmut Neunzig, „Ihr Andenken sei ihnen zum Segen“ - Dokumentation des jüdischen Friedhofs am Blomericher Weg, in: "Schriftenreihe der Ratinger Stadtarchivs", Band 8/2014
Gabriele Hannen (Red.), Ratingen - Spuren jüdischen Lebens in der Stadt, in: rp-online vom 18.7.2015
Stadt Ratingen (Hrg.), Historischer Stadtrundgang - Station 20: Ehemaliger Standort der Synagoge, in: stadt-ratingen.de
Stadt Ratingen (Hrg.), Familienforschung – Jüdische Einwohner Ratingens bis 1944, in: stadt-ratingen.de
Auflistung der in Ratingen verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Ratingen
N.N. (Red.), Die Geschichte der Juden in Ratingen, in: rp-online vom 20.5.2021
Achim Blazy (Red.), Jüdisches Leben in Ratingen – Zwischen Miteinander und Distanz, in: rp-online vom 25.10.2021
Andrea Bindmann (Red.), 20 Jahre Schalom Ratingen. Jüdischer Kulturverein wird 20 Jahre alt, in: „Rheinische Post“ vom 19.1.2023
köh/RP (Red.), Zwei Adressen für die „Stolpersteine“, in: „Rheinische Post“ vom 12.6.2023 (betr. Heiligenhaus)