Rechnitz/Burgenland (Österreich)
Rechnitz (ung. Rohonsz, kroat. Rohunac) ist eine Marktgemeinde mit derzeit ca. 3.000 Einwohnern im Bezirk Oberwart im österreichischen Burgenland (Kartenskizze Österreichs mit Burgenland gelb markiert und Skizze des Burgenlandes ohne Eintrag von Rechnitz, aus: zamg.ac.at).
Die jüdische Gemeinde von Rechnitz war die größte und bedeutendste der drei batthyánischen Judengemeinden im Südburgenland; sie zählte im 19.Jahrhundert zeitweise mehr als 900 (!) Angehörige, die mehr als 20% der Ortsbevölkerung ausmachten.
Möglicherweise war Rechnitz bereits im 15.Jahrhundert Wohn- bzw. Aufenthaltsort jüdischer Familien; damit könnte die Ortschaft die älteste Judengemeinde des südlichen Burgenlandes beherbergt haben. Unter der Herrschaft der Fürsten Batthyány siedelten sich nachweislich seit dem 16. Jahrhundert jüdische Familien in der westungarischen Region um Rechnitz, Körmend, Groß-Kanisza, Schlaining und Güssing an; die judenfreundliche Politik war fast ausschließlich wirtschaftlich motiviert: die Schutzherren benötigten Geld für ihren oft aufwändigen Lebensstil, zum anderen für die Landesverteidigung gegen die Türken. In Schutzbriefen gewährte die Grundherrschaft der Judenschaft relativ weitreichende Rechte, sodass sich eine fast autonome jüdische Gemeinde entwickeln konnte; so lag z.B. die untere Gerichtsbarkeit in den Händen jüdischer „Funktionäre“. So war im Schutzbrief von 1787 niedergeschrieben, dass „in Rechnitz 36 Judenfamilien leben ... sie können mit allerlei Waren handeln ... können auch Richter und Geschworene wählen ... sich Tempel und Schulen bauen ... und ihre Toten auf einem umfriedeten Friedhof begraben“. Doch immer wieder wurde jüdisches Leben in Rechnitz durch Kriege stark in Mitleidenschaft gezogen; auch die Pest forderte hier zahlreiche Opfer.
Eine jüdische Gemeinde gründete sich in Rechnitz in der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt existierte bereits eine eigene Synagoge bzw. ein eigenes Bethaus. 1707 erwarb die Judengemeinde ein Grundstück, wo elf Jahre spätere ein barocker Synagogenneubau errichtet wurde, der 400 Personen Platz bot. Ihm wurde später ein Gebäude mit Rabbinerwohnung und Schule anschlossen. In den 1830er Jahren wurde die Synagoge noch erweitert.
Synagoge links im Bild (hist. Postkarte, aus: rechnitz.at)
Gemeindekomplex in Rechnitz (hist. Aufn.) Innenraum der Synagoge in Rechnitz (aus: rechnitz.at)
Die Rechnitzer Judengemeinde entwickelte sich zu einem überregional bekannten geistigen Zentrum jüdischer Kultur, das zahlreiche jüdische Rabbiner und Gelehrte anzog. Ab Anfang der 1820er Jahre wirkte in Rechnitz der Rabbiner Gabriel Engelsmann (geb. 1771), auch Gabriel Ben Reuben Israel HaKohen genannt, dessen strenge orthodoxe Haltung sich jeglichen Neuerungen widersetzte. In seiner Jeschiwa verbreitete er seine starre religiöse Haltung. Nach seinem Tode (1850) fungierte Lazar Louis Schloß (geb, 1794) während der achtjährigen Vakanz des Rabbinatssitzes als Rabbinatsverweser. Nach 1850 schloss sich die Gemeinde dem Reformjudentum an, als Dr. Maier Zipser, eine führende Persönlichkeit des ungarischen Reformjudentums, als Rabbiner in Rechnitz wirkte. Die Rechnitzer Gemeinde richtete 1847 eine mehrklassige Schule ein, die bis Anfang der 1920er Jahre bestand; in den Jahren vor ihrer Auflösung wurden die wenigen jüdischen Kinder von einer katholischen Lehrerin unterrichtet.
Bereits seit den 1680er Jahren verfügte die jüdische Gemeinde am westlichen Rand der Ortschaft über ein eigenes Beerdigungsareal, das mehrfach erweitert wurde.
Begräbnisbuch der Chewra Kadischa von Rechnitz (1833) (Abb. aus: Österreichisches Jüdisches Museum, Eisenstadt)
Juden in Rechnitz:
--- um 1670 ................. ca. 40 jüdische Familien,
--- 1727 .................... ca. 160 “ “ ,
--- 1735 ........................ 323 Juden,
--- 1808 ........................ 407 “ ,
--- 1822 ........................ 765 “ ,
--- 1830 ........................ 789 “ ,
--- 1841 ........................ 916 “ (ca. 21% d. Bevölk.)
--- 1857 ........................ 815 “ ,
--- 1880 ........................ 479 “ ,
--- 1900 ........................ 311 “ ,
--- 1920 ........................ 187 “ ,
--- 1934 .................... ca. 140 “ ,
--- 1938 (Jan.) ............. ca. 125 " ,
(Dez.) ................. keine.
Angaben aus: Hugo Gold (Hrg.), Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden des Burgenlandes, S. 134
Ungeachtet der schweren Abgabenlasten konnte sich die Rechnitzer Judengemeinde rasch und nachhaltig entwickeln. Zu Beginn des 18.Jahrhunderts lebten in Rechnitz etwa 160 jüdische Familien, die zumeist als Händler/Kleinkaufleute tätig waren; doch gab es unter ihnen auch einige Handwerker und Bauern. Mitte des 19.Jahrhunderts wohnten in Rechnitz etwa 850 Juden, die zumeist im Handel und Gewerbe tätig waren und wirtschaftlich davon profitierten, dass es am Ort eine Garnison gab. Mit dem Abzug der Garnison zogen auch die Juden vermehrt in die Städte; die Zahl der in Rechnitz verbleibenden Juden betrug nach Ende des Ersten Weltkrieges nie mehr als 200 Personen.
Zur Situation der Rechnitzer Judenschaft um 1900 liegt der folgende Bericht vor:
„ ... In der Judengasse, Herrengasse, Hochstraße und am Hauptplatz wohnten Juden und Christen nebeneinander. Es gab sehr innige Nachbarschaftsbeziehungen. Zu einer Hochzeitsfeier gingen auch die andersgläubigen Nachbarn mit zum Gottesdienst und zum anschließenden Festmahl. Die Rechnitzer Juden haben sich der Bevölkerungsmehrheit angepaßt. Sie waren nicht streng religiös, denn zu Schabbes gingen die Kinder in die Schule, und die Erwachsenen hatten ihre Geschäfte offen. Es ist ihnen ja auch nichts anderes übriggeblieben. Um aber wenigstens teilweise ihren Glaubensvorschriften und ihren Geschäften nachgehen zu können, hat sich fast jede Judenfamilie eine Haushaltshilfe genommen, vor allem für den Samstag, zum Schabbes. Die Christenfrauen und Mädchen sind diesem Angebot gerne nachgekommen, da sie mit Zucker oder anderen Lebensmitteln belohnt wurden. ...”
(aus: Johann Temmel, Die jüdische Gemeinde in Rechnitz)
Mit der neuen Grenzziehung im Jahre 1921 setzte sich die Abwanderung – zumeist in Richtung Wien – fort. Der letzte Gemeinderabbiner beendete zwei Jahre später hier seine Tätigkeit, da die schrumpfende Gemeinde dessen Besoldung nicht mehr tragen konnte. Die sich allgemein seit 1930 verschlechternde wirtschaftliche Lage ließ auch die jüdischen Geschäftsleute und die Gemeinde verarmen.
Wenige Wochen nach dem sog. „Anschluss“ an das Deutsche Reich 1938 setzte in Rechnitz die systematische Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Bewohner ein. Auf Weisung der Bezirkshauptmannschaft wurden die am Ort lebenden Juden erfasst, ebenso deren Vermögenswerte, die alsbald beschlagnahmt wurden. Ein Teil der Familien wurde ausgewiesen; einigen gelang es dann, von Wien aus nach Palästina, China oder Übersee zu flüchten. Mitte April 1938 begann die Deportation der noch verbliebenen Rechnitzer Juden (etwa 45 Personen); sie wurden zusammengetrieben, auf Autobusse verladen und abtransportiert; im Niemandsland zwischen Österreich und Jugoslawien wurden sie ohne Papiere ihrem Schicksal überlassen. Ihren gesamten Besitz hatten sie zurücklassen müssen, der nun zu Schleuderpreisen an „Arier“ verkauft wurde.
Anm.: Erst durch Intervention der „Gildemeester-Auswanderungshilfsaktion“ konnten die Ausgewiesenen nach Jugoslawien einreisen. Nach der Besetzung durch deutsche Truppen (April 1941) wurden die meisten von ihnen ermordet. Ansonsten ist über das Schicksal der anderen jüdischen Rechnitzer kaum etwas bekannt.
Die Inneneinrichtung der Synagoge in Rechnitz wurde während des Novemberpogroms von 1938 zerstört, wertvolle Kultgeräte nach Eisenstadt gebracht. Das jüdische Gemeindevermögen ging in den Besitz der Kommune Rechnitz über; das Synagogengebäude wurde danach in eine Jugendherberge umfunktioniert.
Nach Kriegsende kehrten nur sehr wenige Rechnitzer Juden zurück; ihr ehemaliger Besitz wurde ihnen zurückerstattet, danach aber zumeist von den Erben verkauft.
Das einstige Synagogengebäude diente bis 1997als Feuerwehrgerätehaus, danach wurde es zu einem Wohnhaus umgebaut; die frühere „Judenschule“ wird zu Schulzwecken benutzt. 1991 wurde hier eine kleine Gedenktafel mit der folgenden Inschrift angebracht:
Zum Gedenken an den Leidensweg unserer ehemaligen jüdischen Mitbürger.
Hier stand ihr Bethaus. Es wurde 1938 von den Nationalsozialisten zerstört.
Gewidmet Gemeinde Rechnitz
Zudem informieren seit jüngster Zeit Schautafeln an einem „Erinnerungsweg“ über die jüdische Gemeinde von Rechnitz und über bedeutende Persönlichkeiten, Orte und Gebäude. So erinnert heute auch eine Gedenktafel an Gustav Pick, den Schöpfer des berühmten „Wiener Fiakerliedes“; er wurde hier 1832 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren.
Der große jüdische Friedhof, der während der NS-Zeit Zerstörungen anheim fiel, ist noch teilweise erhalten geblieben; das Areal wurde 1988 instandgesetzt. Anfang der 1990er Jahre kam es hier zu einer aufsehenerregenden Schändung.
Jüdischer Friedhof Rechnitz: Umgebende Mauer und Teilansicht des Geländes (Aufn. Th. Ledl, 2021, aus: wiipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Ende März 1945 wurden in Rechnitz etwa 180 - 200 ungarisch-jüdische Häftlinge ermordet, die beim Bau von Verteidigungsanlagen eingesetzt werden sollten. Sie gehörten einem 600köpfigen Transport an, der aus dem ungarischen Güns kam. Im Anschluss an ein „Kameradschaftsfest“, an dem auch hochrangige NS-Funktionäre der Region anwesend waren, wurden die „zur Arbeit unbrauchbaren“ Zwangsarbeiter erschossen. Am Folgeabend wurden weitere 18 Juden ermordet, die zuvor als Totengräber arbeiten mussten. Unter den Mördern soll auch die Schlossherrin gewesen sein: Margit Gräfin Batthyány, damals 33 Jahre alt, geborene Thyssen-Bornemisza, Enkelin des Stahlbarons August Thyssen.
Am Kreuzstadl erinnert heute ein Mahnmal an das „Massaker von Rechnitz” und gleichzeitig an alle diejenigen, die beim Bau des Südostwalls ums Leben kamen.
Mahnmal am Kreuzstadtl (Aufn. Roland Pittner, aus: "KURIER")
Im Jahre 2012 wurde hier eine museale Stätte eingerichtet; auf neun Schautafeln werden der Südostwall-Bau, der Einsatz der jüdischen Zwangsarbeiter, Tatorte und Lebensgeschichten erläutert.
Weitere Informationen:
Karl Klein (Bearb.), Die Geschichte der Juden in Rechnitz, in: Hugo Gold (Hrg.), Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden des Burgenlandes, Edition ‘Olamenu’, Tel Aviv/Israel 1970, S. 116 - 119
Widerstand und Verfolgung im Burgenland 1934 bis 1945 - eine Dokumentation, Hrg. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 1979, S. 294 ff.
Gerhard W. Salzer-Eibenstein, Das südburgenländische Judentum, in: Israelitische Kultusgemeinde in Graz (Hrg.), Geschichte der Juden in Südösterreich, Graz 1988, S. 27 – 150
Rudolf Kropf, Juden im Grenzraum: Geschichte, Kultur u. Lebenswelt der Juden im Burgenländisch-Westungarischen Raum und in den angrenzenden Regionen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Symposium im Rahmen der ‘Schlainiger Gespräche’ (1990), Eisenstadt 1993
Johann Temmel, Die jüdische Gemeinde in Rechnitz, in: Gombos/Gruber/Teuschler (Hrg.), “ ... und da sind sie auf einmal da gewesen “ - Zur Situation von Flüchtlingen in Österreich. Beispiel Rechnitz, Oberwart 1992, S. 69 - 107
Pierre Genée, Synagogen in Österreich, Löcker Verlag, Wien 1992, S. 97
Beiträge zur Geschichte der Juden im Burgenland, in: Studientagungen, Friedenszentrum Stadtschlaning, 1994
Gemeinde Rechnitz (Hrg.), Rechnitz. Chronik einer Gemeinde - Urgeschichte und Entwicklung bis zum Jahr 2000, Rechnitz o.J.
Wegweiser für Besucher der jüdischen Friedhöfe und Gedenkstätten in Wien, Niederösterreich, Burgenland, Steiermark und Kärnten, Hrg. Verein Schalom zur Wiedererrichtung u. Erhaltung der Jüdischen Friedhöfe, Wien 2000
Burgenländische Volkshochschulen (Hrg.), Zerstörte Gemeinden im Burgenland - Eine Spurensuche 2002, online abrufbar unter: vhs.a-business.co.at
Peter F.N. Hörz, Jüdische Kultur im Burgenland. Historische Fragmente – volkskundliche Analysen, in: "Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien", Band 26, Wien 2005, S. 347 – 380
Gert Polster, Die Entwicklung der israelitischen Kultusgemeinden Güssing, Rechnitz und Stadtschlaining in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Das Judentum im pannonischen Raum vom 16. Jahrhundert bis zum Jahr 1914, Kaposvár 2009
Walter Manoschek (Hrg.), Der Fall Rechnitz – Das Massaker an Juden im März 1945 (mit einem Text von Elfriede Jelinek), Verlag Braumüller, Wien 2009
E.Brugger/M.Keil/A.Lichtblau/Chr.Lind/B.Staudinger, Geschichte der Juden in Österreich, Verlag Carl Ueberreuter, Wien 2013, S. 360 u. S. 434 – 436
Verein RE.F.U.G.I.U.S. (Rechnitzer Flüchtlings- u. Gedenkinitiative) u. Marktgemeinde Rechnitz (Hrg.), „Erinnerungsweg – Jüdisches Leben in Rechnitz“, online abrufbar unter: gedenkweg.at
Burgenländische Forschungsgesellschaft (Hrg.), Jüdische Kulturwege im Burgenland – Rundgänge durch die „Sieben Gemeinden“ (Schewa Kehillot) und die Gemeinden des Südburgenlandes, Broschüre, 1. Aufl., Eisenstadt 2016, S. 28/29 (auch online abrufbar unter: forschungsgesellschaft.at)
"Peace Road 2020 – Wege können verbinden". Auf der Route des Todesmarsches der ungarischen Juden 1945 (2020)
Herbert Gossi, Lebenswelten jüdischer Familien in Rechnitz im 20.Jahrhundert, in: Sonderheft der „Burgenländischen Heimatblätter“, hrg. vom. Burgenländisches Landesarcihiv, Eisenstadt 2020
Herbert Gossi (Red.), Lebenswelten jüdischer Familien in Rechnitz im 20.Jahrhundert, in: „DAVID – Jüdische Kulturzeitschrift“, Heft 135 (Dez. 2022)