Reichensachsen (Hessen)
Reichensachsen ist heute ein Ortsteil von Wehretal im hessischen Werra-Meißner-Kreis - knapp zehn Kilometer südlich von Eschwege (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Werra-Meißner-Kreis', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Auf dem reichritterlichen Gebiet der Herren von Boyneburg - dazu zählte auch das Dorf Reichensachsen - wurden Ansiedlungen von Juden geduldet, teilweise aus wirtschaftlichen Gründen auch gefördert. In den Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Krieg sollen sich in Reichensachsen fünf jüdische Familien angesiedelt haben; bis Mitte des 18.Jahrhunderts hatte sich ihre Zahl fast verdreifacht.
Ein 1903 im orientalischen Stil errichteter Synagogenneubau in der Herrengasse ersetzte einen alten Betsaal, der vermutlich an gleicher Stelle sich befunden hatte. Finanziert wurde der Neubau fast vollständig durch den Berliner Bankier Fränkel, dessen Vorfahren aus Reichensachsen stammten.
Synagoge von Reichensachsen (Aufn. links: undatiert, Mitte um 1950) Thoravorhang aus der Mitte des 18.Jahrhunderts
Das „Frankfurter Israelitische Familienblatt“ vom 4. Dezember 1903 berichtete über die Einweihung wie folgt:
Reichensachsen, 29. November. Vorgestern wurde die hiesige neuerbaute Synagoge durch eine erhebende Feier eingeweiht. Herr Architekt August Holzapfel aus Eschwege, der Erbauter des neuen Gotteshauses, übergab, nachdem der Festzug mit der vom Herrn Gemeindeältesten gestifteten und sehr wertvollen Thorarolle an der neuen Synagoge angekommen war, mit passender Ansprache den Schlüssel dem Gemeindeältesten, Herrn Selig, der ihn dem Landesrabbiner Dr. Prager aus Kassel überreichte. Hierauf betrat Dr. Prager das Podium, hielt eine Ansprache an die Versammlung und öffnete die Synagoge. Das Gebäude macht von außen sowohl wie von innen einen überaus prächtigen Eindruck. Herr Dr. Prager hielt in der Synagoge eine Ansprache, worauf die Thorarollen ausgehoben und unter Gesängen mehrere Male in feierlichem Umzuge durch die Synagoge getragen wurden. Herr Kreisrabbiner Dr. Cohn - Eschwege hielt die Festpredigt. Nachmittags und Abends beschlossen Konzert, Festessen und Ball in dem Döhn'schen Saale den Festakt. Das Kaiserhoch brachte Herr Dr. Prager aus.
Mehrere Jahre nach ihrer Einweihung wurde die Synagoge durch einen Blitzeinschlag im Mai 1910 schwer beschädigt. Bis zu Beginn der NS-Zeit gab es in Reichensachsen eine israelitische Elementarschule.
Der jüdische Friedhof Reichensachsens - ca. zwei Kilometer vom Dorf entfernt am Nordhang des Spitzenberges gelegen - wurde vermutlich in der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts angelegt; erstmals urkundlich erwähnt wurde er aber erst 1710.
Zur Reichensächser Gemeinde gehörten auch die jüdischen Bewohner von Wichmannshausen, deren Zahl um 1860 etwa 60 Personen betrug. Die jüdische Gemeinde Reichensachsen gehörte zum Kreisrabbinat Eschwege innerhalb des Rabbinatsbezirkes Niederhessen mit Sitz in Kassel.
Juden in Reichensachsen:
--- um 1665 ........................ 5 jüdische Familien,
--- um 1745 ........................ 14 “ “ ,
--- 1812 ........................... 36 “ “ ,
--- 1835 ........................... 175 Juden,
--- 1861 ........................... 236 “ (ca. 14% d. Dorfbev.),
--- 1885 ........................... 118 “ (ca. 7% d. Dorfbev.),
--- 1905 ........................... 106 “ ,
--- 1932 ........................... 82 “ ,
--- 1933 ........................... 95 “ ,* * infolge von Zuzügen aus dem Umland
--- 1937 ........................... 67 “ ,
--- 1939 ........................... 49 “ ,
--- 1940 ........................... 50 “ ,
--- 1942 (Dez.) .................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 215
und K.Kollmann/Th.Wiegand, Spuren einer Minderheit - Judenfriedhöfe und Synagogen .., S. 24/25 und S. 100
Neben traditionellen Erwerbszweigen wie Viehhandel/Schlachtgewerbe waren jüdische Bewohner von Reichensachsen auch in Handwerkerberufen tätig.
Geschäftsanzeige in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 3.11.1890
In den Jahren unmittelbar vor der NS-Machtübernahme 1933 lebten im Ort etwa 80 jüdische Bewohner; zwölf Familien waren im Viehhandel, drei im Textilhandel tätig. Am Ort (Herrengasse) gab es seit Mitte der 1920er Jahre auch eine Mazzenbäckerei, deren Produkte deutschlandweit vertrieben wurden.
Werbeanzeige von ca. 1928
Innerhalb des Dorfes sollen gutnachbarschaftliche Beziehungen zwischen christlichen und jüdischen Bewohnern bestanden haben; nach 1933 soll es hier zunächst praktisch zu keinen gewalttätigen Ausschreitungen gegenüber Juden gekommen sein. Allerdings wurde während des Novemberpogroms von 1938 die Inneneinrichtung der hiesigen Synagoge völlig zerstört. Nachdem man die Thorarollen herausgeschleppt hatte, wurden sie in den Mühlengraben geworfen. Das Gebäude ging alsbald in private Hände über und diente einem Handwerker als Werkstatt.
Anfang der 1940er Jahre wurden insgesamt 33 jüdische Bewohner aus Reichensachsen deportiert; alle wurden ermordet
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ wurden insgesamt 64 aus Reichensachsen und fünf aus Wichmannshausen stammende bzw. längere Zeit hier ansässig gewesene Juden Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/reichensachsen_synagoge.htm).
Der Familienname Plaut war in Reichensachsen - wie im nordhessischen Raume - oft vertreten. Über die Entstehung dieses Namens gibt es zwei Theorien: Eine geht vom hebräischen Wort für Flüchtling ‚Palit’ aus, demnach sollen die Familien aus Polen zugewandert sein; die andere leitet das Wort vom Begriff ‚Plato’ ab, der auf eine sephardische Herkunft hindeutet. Der aus dem Dorfe stammende Moritz Plaut gehörte im 19.Jahrhundert zu den bedeutendsten Bankiers in Berlin und zählte wegen seiner Beteiligung an Industrieunternehmen zu den Gründern von zahlreicher Fabriken.
Anfang der 1950er Jahre wurde das ehemalige Synagogengebäude abgerissen.
Seit 2003 erinnert ein Gedenkstein in der Langenhainer Straße an die ehemalige jüdische Bevölkerung des Ortes; auf dem Stein sind namentlich 33 Reichensachsener Shoa-Opfer eingemeißelt.
2023 wurden in Reichensachsen vor der ehem. Mazzenfabrik (Steinweg) und in der Herrengasse die ersten zehn sog. „Stolpersteine“ verlegt.
Das fast 9.000 m² große jüdische Friedhofsareal - es liegt an einem Abhang des Spitzenberges etwa zwei Kilometer außerhalb der Ortschaft - weist heute noch ca. 200 Grabsteine auf; das Begräbnisgelände wurde mehr als zwei Jahrhunderte genutzt.
jüdischer Friedhof (Aufn. Wanfried Dublin, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0 und Claudia KemPino, 2023, aus: komoot.de)
Die Geschichte der Juden von Datterode beginnt mit dem Jahr 1683, als der mit einem Schutzbrief ausgestattete Jude Meyer Calmann sich im Dorf niederließ. Im 19.Jahrhundert lebten in Dorf durchschnittlich sechs jüdische Familien; deren Zahl hielt sich bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges.
Verstorbene fanden auf den jüdischen Friedhöfen in Reichensachsen und Netra ihre letzte Ruhe.
Die Judenschaft Datterodes gehörte als Filialgemeinde offiziell der Kultusgemeinde von Reichensachsen an. Im Dorf war auch ein Betraum vorhanden (Leipziger Str.).
Juden in Datterode:
--- 1744 ......................... 4 jüdische Familien,
--- 1835 ......................... 28 Juden,
--- 1861 ......................... 59 “ ,
--- 1905 ......................... 29 “ ,
--- 1924 ......................... 16 “ ,
--- 1932 ......................... 10 “ ,
--- 1937/38 ...................... 2 jüdische Familien.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 120
Kleinanzeigen jüdischer Gewerbetreibender (1901/1903)
Zu Beginn der NS-Herrschaft wohnten noch zwei jüdische Familien in Datterode.
Die meisten der bereits in den Jahren zuvor an andere Orte verzogenen Datteroder Juden wurden 1941/1942 von ihren neuen Wohnorten deportiert (vgl. dazu: Gegen das Vergessen, in: heimatverein-datterode.de). Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind insgesamt 17 aus Datterode stammende jüdische Bewohner Opfer des Holocaust geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/netra_synagoge.htm).
Die Tür zu einer "Laubhütte" (Sukka) aus dem Dorfe Datterode war einige Zeit im Besitz des Israel-Museum in Jerusalem, ging dann aber in den 1990er Jahren auf dem Wege einer Versteigerung in private Hände über.
Tür zu einer Laubhütte aus Datterode (Aufn. Th. Beck, Heimatverein Datterode)
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 215 – 217
Thea Altaras, Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945? Königstein 1988 S. 77/78
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945. Hessen I Reg.bezirk Darmstadt, 1995, S. 236
K.Kollmann/Th.Wiegand, Spuren einer Minderheit - Judenfriedhöfe und Synagogen im Werra-Meißner-Kreis, Verlag Jenior & Pressler, Kassel 1996, S. 24/25 und S. 100 f.
Karl Beck, Aus der Geschichte meines Heimatdorfes (Datterode). Erinnerungen, Bilder und Gedichte, Norderstedt 2006
Heimatverein Datterode e.V., Zur jüdischen Geschichte in Datterode (online abrufbar unter heimatverein-datterode.de)
Reichensachsen mit Wissmannshausen, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Angaben zu Angehörigen der jüdischen Gemeinde)
Der jüdische Friedhof in Reichensachsen, in: alemannia-judaica.de (mit Aufnahmen von Klaus Kurre)
Gräberliste des jüdischen Friedhofs von Reichensachsen, online abrufbar unter: lagis-hessen.de
Christina Prauss, Vom Untergang bürgerlicher Lebenswelten – Der Kaufhausgründer Lehmann Löbenstein aus Datterode und seine Kinder, in: "Eschweger Geschichtsblätter" Heft 23/2012, hrg. vom Geschichtsverein Eschwege e.V.
Hans Isenberg, Die öffentliche israelitische Schule in Reichensachsen und ihr Lehrer Samuel Blach, Aufsatz 2015 (als PDF-Datei abrufbar)
Hans Isenberg, Synagogen- und Schulgebäude in Reichensachsen, Aufsatz 2015 (als PDF-Datei abrufbar)
Hans Isenberg, Die öffentliche israelitische Schule in Reichensachsen und ihr Lehrer Samuel Blach, in: “Eschweger Geschichtsblätter”, hrg. vom Geschichtsverein Eschwege e.V., Heft 31/2020
Eden Sophie Rimbach (Red.), In Reichensachsen wurden die ersten zehn Stolpersteine verlegt, in: “HNA – Hessische Niedersächsische Allgemeine” vom5.1ß.2023