Reval/Tallinn (Estland)
Estland (Kartenskizze aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Während jüdisches Leben in Litauen und Lettland schon seit dem Mittelalter schriftlich belegt ist – so erwähnen estnische Quellen aus dem 14. Jh. zwar einzelne Juden (so den Bäcker Johannes Jode aus Reval, 1343, Hinweise auf jüdische Gold- und Silberschmiede und eine kurzlebige bestehende jüdische Gemeinde um 1795) -, kann eine dauerhafte Präsenz von Juden in Estland erst seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachgewiesen werden; d.h. die Judenschaft Estlands kann auf keine längere Tradition zurückgreifen.
Zar Alexander II. erlaubte den Juden im Jahr 1865 offiziell, sich in Estland anzusiedeln. Zwar hatten vor diesem Erlass vereinzelt Juden in Estland gelebt, jedoch hatten sich keine jüdischen Gemeinden bilden können. Die ersten jüdischen Gemeinden im heutigen Estland wurden von ehemaligen Soldaten des Zaren und von Handwerkern gegründet.
Reval um 1900 (Abb. aus: wikipedia.org, CCO)
Die Bildung einer jüdischen Gemeinde in Reval/Tallinn erfolgte den 1830er Jahren; ihr gehörten zunächst etwa 40 Personen. Knapp vier Jahrzehnte später wurde die jüdische Gemeinde in Dorpat/Tartu gegründet, die anfänglich aus fünfzig Familien bestand, deren Zahl sich aber in den Folgejahrzehnten noch deutlich vergrößerte. Anfang der 1930er Jahre sollen in Tartu noch ca. 1.000 Juden gelebt haben.
In beiden Städten wurden Synagogen erbaut: 1883 wurde die Synagoge in Tallinn errichtet (ein erstes Bethaus stammte bereits aus den 1840er Jahren), knapp 20 Jahre später folgte die in Tartu (Dorpat).
Synagoge in Tallinn, 1944 zerstört (Aufn. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Auch in anderen Städten wuchs die Zahl jüdischer Einwohner, so dass bald weitere jüdische Gebetshäuser errichtet und Friedhöfe angelegt wurden.
Synagoge in Tartu/Dorpat - hist. Postkarte (aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Um 1845 datiert in Reval/Tallinn die Anlage eines jüdischen Begräbnisplatzes; zehn Jahre später gründete man eine Chewra Kadischa.
Juden in Reval/Tallinn:
--- um 1820 .................. ca. 40 Juden,
--- um 1855 .................. ca. 50 – 60 jüdische Familien,
--- 1881 ......................... 963 Juden,
--- 1887 ......................... 647 " ,
--- 1897 .................... ca. 1.200 " (ca. 2% d. Bevölk.),
--- um 1920 ................. ca. 1.500 " ,
--- 1959/60 ................. ca. 3.700 " ,
--- 2005 .................... ca. 1.000 " ,
--- 2012 .................... ca. 2.000 " .* * in ganz Estland
Angaben aus: History of the Jews in Reval/Tallinn, Hrg. Beit Hatfutsot
und Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust, New York 2001, Vol. 3, S. 1284 – 1286
Doch die jüdische Bevölkerung organisierte nicht nur das religiöse Leben, auch die Bildung war ein wichtiger Teil ihres Lebens. In den 1880er Jahren wurden in Tallinn Grundschulen und Talmudschulen für jüdische Kinder gegründet; ab dem Ende des 19. Jahrhunderts durften Juden an der Universität Tartu studieren. So stieß die jüdische Bevölkerung, die anfangs hauptsächlich aus Kleinhändlern und Handwerkern bestanden hatte, in akademische Kreise vor. Auch die Kultur spielte eine wichtige Rolle in den jüdischen Gemeinden: Schon bevor im Jahr 1917 der erste jüdische Theaterverein entstand, war der 1884 ins Leben gerufene „Akademische Verein für jüdische Geschichte und Literatur“ um das kulturelle Leben in Tallinn bemüht.
Mit der staatlichen Unabhängigkeit Estlands im Jahr 1918 verbesserten sich die Bedingungen für jüdisches Leben: der junge Staat war geprägt von Respekt und Toleranz gegenüber kulturellen und religiösen Minderheiten. Obwohl es in der Zwischenkriegszeit überall in Europa judenfeindliche Strömungen gab, machte sich in Estland kein öffentlicher Antisemitismus bemerkbar.
Ein Jahr nach Ausrufung der estnischen Selbstständigkeit (1919) wurde in Tallinn die „Jüdische Grundschule“ („Tallinna Juudi Algkool“) gegründet; 1923 wurde diese Schule zum „Jüdischen Privatgymnasium“ („Tallinna Juudi Eraühisgümnaasium“) erweitert (und vom damaligen Staatsoberhaupt Konstantin Päts eingeweiht), in dem Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet wurden; der Unterricht an der Schule erfolgte in russischer Sprache.
Ca. zehn Jahre später wurde ein Lehrstuhl für Jüdische Studien an der Universität Tartu gegründet. Zahlreiche jüdische Vereine, ob kulturell, religiös oder sportlich orientiert, trugen zum öffentlichen Leben in Estlands Städten bei.
Im Jahr 1925 lebten etwa 3.000 Juden in Estland, dessen Minderheitengesetz eines der liberalsten dieser Zeit war und das die Juden als nationale Minderheit anerkannte. So berichtete 1936 die in Großbritannien ansässige jüdische Zeitung „The Jewish Chronicle“: "Estland ist das einzige Land in Osteuropa, in dem weder die Regierung noch das Volk eine Diskriminierung von Juden praktiziert und wo Juden in Frieden gelassen werden und führen dürfen ein freies und unbehelligtes Leben und es in Übereinstimmung mit ihren nationalen und kulturellen Prinzipien zu gestalten."
Im Jahr 1926 wurde erstmals der Jüdische Kulturrat („Juudi Kultuurivalitsus“) als Vertretung der estnischen Juden gewählt. Bis 1934 stieg die Zahl der Juden in Estland auf etwa 4.400 an, etwa die Hälfte von ihnen lebte in Tallinn, ca. 900 in Tartu. Mehr als 50% der Juden waren in Handel und Dienstleistungen tätig, etwa 10% verfügten über eine höhere Bildung. Es existierten jüdische Interessenvertretungen für den Handel und die Industrie und auch ein Ärzteverband. In den größeren Städten unterhielten die jüdischen Gemeinden Wohlfahrtsverbände.
Im Sommer 1940 endete die Freiheit des Judentums in Estland. Die Kulturautonomie wurde abgeschafft und alle Vereine und Gruppen wurden von den sowjetischen Besatzungsbehörden verboten. Die Betriebe, die in jüdischer Hand waren, wurden verstaatlicht. Rund ein Zehntel der jüdischen Bevölkerung Estlands wurde im Juni 1941 gemeinsam mit der estnischen Elite nach Sibirien deportiert. Beim Einmarsch der Deutschen im Jahre 1941 lebten in Estland etwa 4.500 Juden; die meisten flüchteten vor der vorrückenden Wehrmacht nach Osten. Die rund 1.000 Menschen, denen die Flucht in die UdSSR oder nach Finnland nicht rechtzeitig gelungen war, wurden bereits in den ersten Tagen nach dem deutschen Einmarsch in den Wäldern um Tallinn erschossen. Verantwortlich war die unter dem Kommando von Franz Walter Stahlecker stehende SS-Einsatzgruppe A, die gemeinsam mit lokalen Nationalisten und antisemitischen Gruppen zuvor Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung veranlasst hatte. Dabei waren lettische Milizionäre marodierend durch von Juden bewohnte Straßen gezogen und mehrere Geschäfte niedergebrannt. Mehr als 80 Juden kamen hier schon ums Leben. “Die Abschiebung der jüdischen Bevölkerung war dank der Aktion eines Sonderkommandos am 29. und 30. August schnell und einfach. Es gab keinen erkennbaren Widerstand der Juden, die zu der Annahme geführt hatten, dass sie umgesiedelt werden.“ Der verbliebene Rest der jüdischen Bevölkerung wurde in verschiedene Lager gebracht; gegen Ende 1941 waren alle ermordet worden.Im Januar 1942 wurde Estland von den NS-Behörden „judenfrei“ erklärt.
Auf dieser Karte vermerkte Franz Walter Stahlecker 1941 die Zahlen der ermordeten Juden. Estland bezeichnete er als "judenfrei".
Etwa 20 Konzentrations- und Arbeitslager errichteten die Deutschen in Estland. Diese waren vor allem für ausländische Juden vorgesehen. In diesen Lagern - das KZ Vaivara und das KZ Klooga waren die größten - wurden schätzungsweise 10.000 Juden ermordet, die aus allen Teilen Mitteleuropas hierher verschleppt worden waren.
Nicht einmal ein Dutzend estnische Juden überlebten den Holocaust in ihrer Heimat, die jüdischen Gemeinden in Estland waren ausgelöscht worden. Zwischen 1944 und 1950 kehrten ca. 1.500 überlebende estnische Juden, die in die UdSSR hatten fliehen können, nach Estland zurück. Seit der sowjetischen Besetzung zogen im Zuge der "Russifizierung" Estlands nun auch russische Juden nach Estland. Vom Ende des Krieges bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion spielte sich aber das Leben der mehreren tausend Juden in der „Sozialistischen Sowjetrepublik Estland“ weitgehend im Verborgenen ab. Um 1960 lebten in Tallinn ca. 3.700 Menschen mosaischen Glaubens.
Es dauerte jedoch lange Zeit, bis Juden in Estland wieder organisiert lebten und jüdische Einrichtungen gegründet wurden: Ende der 1980er Jahre wurde in Tallinn die Jüdische Kulturgesellschaft ins Leben gerufen, und in den folgenden Jahren entstanden wieder jüdische Schulen und gründeten sich jüdische Sport- und Kulturvereine. Kurz vor Wiedererlangung der estnischen Selbständigkeit wurde am 1.9.1990 in Tallinn die „Jüdische Schule“ („Tallinna Juudi Kool“) eröffnet – wie ihre Vorgängerin in der Karu-Straße (Karu tänav, hist. dt. Name Bärenstraße im Altstadtbezirk). Heute besuchen etwa 200 Schüler die angesehene Schule, die nach dem nationalen estnischen Lehrplan arbeitet, der in Abstimmung mit der israelischen Regierung um besondere Fächer erweitert wurde. Eine aus Israel entsandte Lehrkraft unterrichtet Hebräisch. Auf dem Lehrplan stehen auch jüdische Bräuche, jüdische Geschichte sowie jüdische Literatur. Das Gymnasium ist die einzige höhere jüdische Bildungseinrichtung in Estland; daneben existieren jüdische Sonntagsschulen in den Städten Tartu, Narva und Kohtla-Järve.
Die Wiedererlangung der estnischen Unabhängigkeit im August 1991 hat auch das jüdische Leben im Land beflügelt. 1992 wurde die Jüdische Gemeinde Estlands (Eesti Juudi Kogukond) gegründet und ein neues Minderheitengesetz garantiert die Bewahrung der jüdischen Identität.
Anm. Der größte Teil der in Estland lebenden Juden stammte aus der Sowjetunion; darunter befanden sich zahlreiche Menschen, die im Zuge der forcierten Industrialisierung der kleinen Sowjetrepublik hierher „abgeordnet“ worden waren.
Die wenigen Juden, die den Holocaust überlebt hatten, mussten sich über Jahrzehnte hinweg in einem kleinen Haus versammeln, das ihnen eine Kirchengemeinde zur Verfügung gestellt hatte. Einen Rabbiner gab es damals nicht. Zu den Einrichtungen der Gemeinschaft zählten eine jüdische Schule und ein jüdischer Friedhof.
Holocaust-Mahnmal auf dem jüdischen Friedhof in Rahumäe (Abb. Eesti Meedia)
Erst seit 2000 besaß Estland wieder einen (chassidischen) Rabbiner (Shmuel Kot aus Israel). Die Abwanderung jüdischer Familien – vor allen nach Deutschland, Israel und die USA – konnte seitdem gestoppt werden, so dass jüdisches Leben wieder aufblühte. Heute leben noch ca. 1.500 Juden in Estland, davon allein ca. 1.000 in der Hauptstadt Tallinn.
Synagoge in Tallinn (Aufn. aus: visitestonia.com und A., 2013, in: commons.wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Die neue Synagoge (in der Karu-Straße im Zentrum Tallinns) wurde 2007 eingeweiht und ist damit der erste Synagogenneubau im Baltikum nach 1945. Der modern anmutende Bau – ein Werk der Architekten Lembit-Kaur Stöör und Tõnis Kimmel – wurde vor allem durch Großspenden finanziert. Neben der eigentlichen Synagoge, die ca. 180 Sitzplätze umfasst, beherbergt der Komplex eine Mikwe und ein koscheres Restaurant.
Im Jüdischen Museum von Tallinn – gelegen in der Karu-Straße – zeigt eine Dauerausstellung einstiges jüdisches Leben in Estland. Daneben sind auch Originalobjekte aus der ehemaligen Synagoge von Tartu/Dorpat zu finden
Die jüdische Gemeinschaft in Estland hat derzeit etwa 1.000 Angehörige, zumeist ältere Menschen; zahlenmäßig größte Gemeinde ist mit Abstand die in Tallinn; daneben gibt es kleinere jüdische Gemeinden in Tartu, Narva, Kohtla-Järve und Pärnu (Stand 2021).
Weitere Informationen:
Genss Nosson, Zur Geschichte der Juden in Eesti. Die Revaler Synagoge in Zusammenhang mit der Geschichte der Juden in Revall, Tartu 1933, S. 9 – 54
Israel Gutman (Hrg), Enzyklopädie des Holocaust - Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Serie Piper, München/Zürich 1995, Band 3, S. 1395/1396
Leo Gens (Red.), Estonian synagogues – Manuscript from the archive of the Estonian Architekture Museum
History of the Jews in Reval/Tallinn, Hrg. Beit Hatfutsot – The Museum of the jewish People, online abrufbar unter: dbs.bh.org.il/place/tallinn
Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust, New York 2001, Vlo. 3, S. 1284 – 1286 (Tallinn/Reval) und S.1296/1297 (Tartu/Dorpat)
Dov Lewin (Bearb.), Einzigartiges Schicksal, online abrufbar unter: shalom-magazine.com
Andrea Fiedler-Boldt, Juden in Estland, in: „Baltische Rundschau“ vom 22.2. 2010
Eugenia Gurin-Loov: Tallinna Juudi Gümnaasium 1923–1940 (1941). Ajalugu, mälestused, meenutused, Tallinn 1998
Jürgen Buch, Erste Synagoge Estlands seit 1944, in: „Jüdisches“ No. 10/2007 (online abrufbar unter: http://juergenbuch.de/wp-content/uploads/2009/09/pdf-Synagoge_Estland_2007_10)