Saarwellingen (Saarland)
Saarwellingen ist eine Kommune mit derzeit ca. 13.000 Einwohnern im Landkreis Saarlouis – rund 20 Kilometer nordwestlich der Landeshauptstadt Saarbrücken gelegen (Kartenkizzen 'Kreise des Saarlandes', TUBS 2021, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 und 'Landkreis Saarlouis', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Saarwellingen anno 1777 (Gemeindearchiv, in: commons.wikimedia.org,CC BY-SA 3.0)
Urkundliche Belege der ältesten jüdischen Familie in Saarwellingen - der Familie Lazar - lassen sich bis Ende des 18.Jahrhunderts zurückverfolgen; doch bereits um 1670/1675 sollen Juden im Orte ansässig gewesen sein; diese lebten vom Handel und Geldverleih. Im letzten Viertel des 18.Jahrhunderts lebten ca. 25 Familien auf dem Gebiet der freien Reichsherrschaft; Handel und Geldverleih waren damals zumeist ihre Lebensgrundlagen. Die Synagogengemeinde Saarwellingen wurde offiziell erst 1890 offiziell gegründet, doch bestand bereits nach 1730 eine jüdische Kultusgemeinde, zu der auch die Juden der Kantone Tholey und Lebach gehörten. Ein Privatraum diente ab ca. 1770 nachweislich als „Betlocal“; erst 1829 konnte die jüdische Gemeinschaft ein eigenes Gebäude in der Engelstraße beziehen, in dem bis zu dessen Zerstörung 1938 Gottesdienste abgehalten wurden.
Synagogenraum rechts im Bild (hist. Aufn.)
Stellenanzeigen aus: „Allgemeine Zeitung des Judentums" vom 7.Aug. 1877 und Dez. 1888
Eine seit ca. 1830 bestehende jüdische Privatschule wurde in den 1890er Jahren in eine öffentliche Elementarschule umgewandelt; in unmittelbarer Nähe des Synagogengebäudes erwarb die Gemeinde ein Grundstück, auf dem 1905/1907 ein neues Schulhaus errichtet wurde.
Ein jüdischer Friedhof war in Saarwellingen um 1725 angelegt worden; damit gehört er zu den ältesten jüdischen Begräbnisstätten im Saarland. 1920 wurde das Areal noch erweitert.
Die Saarwellinger Kultusgemeinde gehörte zum Bezirksrabbinat Trier.
Juden in Saarwellingen:
--- um 1780/90 ....................... 25 jüdische Familien,
--- 1831 ............................. 125 Juden,
--- 1843 ............................. 142 “ ,
--- 1855 ............................. 167 “ ,
--- 1871 ............................. 199 “ ,
--- 1885 ............................. 222 “ ,
--- 1895 ............................. 191 “ ,
--- 1900 ............................. 177 “ ,
--- 1910 ............................. 154 “ (ca. 3% d. Bevölk.),
--- 1935 ............................. 146 “ ,
--- 1933 ............................. 134 “ ,
--- 1936 ............................. 24 “ ,
--- 1939 (Jan.) ...................... 17 “ ,
--- 1940 (Sept.) ..................... 8 “ .
Angaben aus: W.Müller/A.Prediger (Bearb.), Juden in Saarwellingen, S. 10
Die jüdischen Familien in Saarwellingen verdienten zu Beginn des 19.Jahrhunderts ihren oft ärmlichen Lebensunterhalt in der Landwirtschaft und als Arbeitskräfte in der Eisenindustrie; später dominierten diverse Handelstätigkeiten.
Bereits in den 1920er Jahren kam es in Saarwellingen zu antisemitischen „Aktionen“. Trotz der politischen Eigenständigkeit der Saarregion strahlten die innenpolitischen Entwicklungen im Deutschen Reich auch ins Saargebiet aus; aber erst nach der Machtübernahme Hitlers 1933 gewann die NSDAP an der Saar zusehends Stimmen. Dem in Deutschland durchgeführten Boykott der jüdischen Geschäfte waren im Saargebiet enge Grenzen gesetzt; um ein Überschwappen der Boykottmaßnahmen ins Saargebiet zu verhindern, erließen die Verwaltungsorgane klare Anweisungen.
[vgl. Saarbrücken, Saarlouis und St. Wendel (Saarland)
So wies das Landratsamt in Saarlouis am 31.3.1933 die Polizeibehörden in Saarwellingen an, jegliche Boykottversuche der NSDAP im Ansatz zu unterdrücken und gewaltsam gegen Einzelpersonen vorzugehen, die sich vor jüdischen Geschäften sammelten.
„ ... Es ist auf keinen Fall zu dulden, dass vor jüdischen Geschäften Posten aufgestellt werden, die die Namen der Kunden aufschreiben. Sollte dennoch ein solcher Posten aufgestellt werden, so wäre er unverzüglich festzunehmen, auf die Polizeiwache zu führen, seine Personalien festzustellen und die von ihm geführte Liste zu beschlagnahmen. ...”
Als zwei Jahre später das Saargebiet „heim ins Reich” kehrte und die antijüdischen Maßnahmen nun auch hier zur Ausführung kamen, verließen ca. 100 Saarwellinger Juden ihren Heimatort und gingen in die Emigration, zumeist nach Frankreich und Luxemburg.
In der Pogromnacht des 9. November 1938, die in Saarwellingen unter der Losung „Jetz krien die Juden Schläh!” abgelaufen sein soll, zerstörten SA-Angehörige die Inneneinrichtung der Synagoge und warfen Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof um; bei diesen Aktionen soll eine große Menge Schaulustiger zugegen gewesen sein. Auch Wohnungen und deren Bewohner waren von den Gewalttätigkeiten betroffen; in der Nacht vom 12./13.November wurden alle etwa 20 bis 30 noch hier lebenden Juden an die französische Grenze abgeschoben. Doch die französischen Grenzbehörden ließen sie nicht passieren, worauf sie wieder zurückkehrten; alle Juden wurden nun in dem einzig unzerstört gebliebenen jüdischen Hause zusammengelegt. Während ihrer Abwesenheit waren ihre Wohnungen geplündert und teilweise ausgeraubt worden.
Aus Monatsberichten des Bürgermeisters:
„ ... Die hier noch ansässigen 17 Juden bewohnen zusammen 2 jüdische Häuser. Nichtjüdische Häuser werden von Juden hier nicht bewohnt. Die Juden bewegen sich in der Öffentlichkeit noch verhältnismäßig ungeniert. Die Benutzung öffentlicher Einrichtungen wie Bänke und dergleichen mußte ihnen verboten werden. Im übrigen verhalten sie sich ruhig und machen sich nicht bemerkbar. Alle jüdischen Hauseigentümer haben das Bestreben, ihr Vermögen sobald wie möglich zu verkaufen. Die Synagoge ist in das Eigentum der Gemeinde zu einem Preis von 500,- RM übergegangen. Es soll eine Notturnhalle und ein Versammlungsraum der JH und Frauenschaft geschaffen werden. ...”
Die letzten acht in Saarwellingen lebenden Juden wurden am 22.Oktober 1940 ins südfranzösische Gurs deportiert. Ihr Eigentum wurde Mitte Februar 1941 öffentlich versteigert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ fielen dem Holocaust nachweislich 51 aus Saarwellingen stammende bzw. längere Zeit hier ansässig gewesene Juden zum Opfer (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/saarwellingen_synagoge.htm).
1949 standen neun Beteiligte des Pogroms in Saarwellingen vor Gericht; sechs der Täter wurden zu kurzzeitigen Gefängnisstrafen verurteilt, drei freigesprochen.
Der fast 300 Jahre alte jüdische Friedhof an der Schliefstraße, der Anfang der 1940er Jahre eingeebnet worden war, wurde nach Kriegsende - soweit überhaupt möglich - wiederhergestellt; 37 Grabsteine sind unzerstört erhalten geblieben, der älteste von 1829. Fragmente zerstörter Grabsteine wurden zu einem Denkmal (Lapidarium) aufgeschichtet.
Jüdischer Friedhof in Saarwellingen - gesammelte Grabsteinfragmente (alle Aufn. LoKiLeCh, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
ältere Grabsteine
Im Jahre 1950 wurde auf dem Areal ein Gedenkstein mit der folgenden Inschrift aufgestellt (Aufn. L., 2012, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0):
Der einstigen Synagogengemeinde Saarwellingen, ihrem Gotteshause, ihren Mitgliedern, die roher Gewalt erlagen,
den in dieser Erde zur letzten Ruhe gebetteten jüdischen Menschen in Pietät und tiefer Verehrung gewidmet.
Seit 1998 erinnert eine granitene Gedenkstele in der Nähe der ehemaligen Synagoge und der jüdischen Schule an die einstige jüdische Gemeinde von Saarwellingen:
Zur Mahnung und Erinnerung
In dieser Straße standen das Gotteshaus und die Schule der Synagogengemeinde Saarwellingen.
Am 9.November 1938 wurde die Synagoge zerstört.
Die jüdischen Bürger mußten Saarwellingen verlassen.
In den Konzentrationslagern kamen 51 Saarwellinger Bürger jüdischen Glaubens ums Leben.
2002 wurde das ehemalige jüdische Schulhaus in der Engelstraße - genutzt von 1907 bis 1936 - nach dem letzten Lehrer der jüdischen Elementarschule in „Leo-Grünfeld-Haus“ umbenannt. Der 43jährige Leo Grünfeld war zusammen mit seiner Familie in Auschwitz-Birkenau ermordet worden.
Das Gebäude, an dem eine Gedenktafel angebracht ist, dient heute als Zweigstelle der Kommunalverwaltung und als ‚Haus der Jugend‘.
2011 wurden in den Gehwegen der Stadt die ersten sog. „Stolpersteine“ verlegt, inzwischen zählt man ca. 90 dieser kleinen messingfarbenen Steinquader (Stand 2023).
„Stolpersteine“ in Saarwellingen (Aufn. 2012, aus: kunstlexikonsaar.de)
In Schmelz – einer kleinen Kommune nördlich von Saarwellingen - erinnern einige „Stolpersteine“ an Opfer der NS-Herrschaft – so vier an Angehörige der jüdischen Familie Hanau im Ortsteil Hüttersdorf und weitere fünf in Bettingen.
verlegt in Hüttersdorf (Aufn. L., 2019, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Weitere Informationen:
L.Rothschild, Jüdisches Schicksal an der Saar, in: "Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend", No. 19/1971, S. 252 f.
H.W. Herrmann, Das Schicksal der Juden im Saarland 1920 - 1945, in: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz in Verbindung mit dem Landesarchiv Saarbrücken (Hrg.), Dokumentation zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Rheinland-Pfalz und im Saarland 1800 - 1945, Koblenz 1974, S. 259 – 491
Klaus Mayer, Die jüdischen Familien in Saarwellingen (1680 - 1940), in: "Unsere Heimat", 11. Jg., 1988 (Heft 3/4), S. 114 - 133
W.Müller/A.Prediger (Bearb.), Juden in Saarwellingen, in: "Beiträge zur Geschichte des Wellinger Landes", No.1, hrg. von der Gemeinde Saarwellingen, 1989
H.Jochum/J.P.Lüth (Hrg.), Jüdische Friedhöfe im Saarland. Informationen zu Orten jüdischer Kultur. Ausstellungsführer, Saarbrücken 1992, S. 29 f.
Dieter Wolfanger, Das Schicksal der saarländischen Juden unter der NS-Herrschaft, VFG-Verlag, St. Ingbert 1992
Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus - Eine Dokumentation I, Hrg. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1995, S. 712
Eva Tigmann, Was geschah am 9.November 1938 ? - Eine Dokumentation über die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung im Saarland im November 1938, hrg. vom Adolf-Bender-Zentrum St. Wendel, St. Wendel 1998
W.Müller/A.Prediger, Juden in Saarwellingen, in: "Beiträge zur Geschichte des Wellinger Landes", Saarwellingen 1999
Gemeinde Saarwellingen (Red.), Leo Grünfeld. Der letzte Lehrer an der ehemaligen jüdischen Schule in Saarwellingen, online abrufbbar unter: saarwellingen.de/kultur-und-tourismus/gemeindearchiv-geschichte (2002)
Gemeinde Saarwellingen (Red.), Leo-Grünfeld-Haus in der Engelstraße, online abrufbar unter: saarwellingen.de/kultur-und-tourismus/gemeindearchiv-geschichte (2002)
Freundeskreis zur Rettung Jüdischen Kulturgutes im Saarland e.V. (Hrg.), Gelöst ist die Schnur – gebrochen das Band. Jüdische Friedhöfe im Saarland, Saarbrücken 2004, S. 56 f.
Stefan Fischbach/Ingrid Westerhoff (Bearb.), “ ... und dies ist die Pforte des Himmels “. Synagogen. Rheinland-Pfalz Saarland, Hrg. Landesamt für Denkmalpflege, Mainz 2005, S. 457
Saarwellingen, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Hans-Peter Klauck/Klaus Mayer, „Gelöst ist die Schnur – gebrochen das Band“. Die jüdische Gemeinde Saarwellingen 1700 - 1940, hrg. von der Kommune Saarwellingen und Vereinigung für Heimatkunde im Landkreis Saarlouis e.V., Saarwellingen 2013
Hans Peter Klauck, Jüdisches Leben in der Stadt und im Landkreis Saarlouis 1680 – 1940, Saarlouis 2016
Dokumentation des jüdischen Friedhofs in Saarwellingen, in: "epidat - epigrafische Datenbank", Hrg. Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut
Johannes Bodwing (Red.), Saarwellingen verlegt neue Stolpersteine, in: „Saarbrücker Zeitung“ vom 30.10.2018
Tina Leistenschneider (Red.), Jüdischer Friedhof in Saarwellingen. Wenn Grabsteine Geschichten erzählen, in: „Saarbrücker Zeitung“ vom 16.8.2021 (mit Bildmaterial)
Markus Person (Red.), Zehn neue Stolpersteine in saarwellingen verlegt, in: "Saarlandwelle/SR 3" vom 12.4.2022