Schlettstadt (Elsass)
Das zentral im Unterelsass liegende Schlettstadt ist das heutige französische Sélestat mit derzeit ca. 19.000 Einwohnern - etwa 45 Kilometer südlich von Straßburg/Strasbourg gelegen (Ausschnitt aus Landkarte von 1905, Schlettstadt am unteren Kartenrand, aus: wikipedia.org, gemeinfrei).
Nachweislich haben sich Juden seit Anfang des 14. Jahrhunderts im unterelsässischen Schlettstadt niedergelassen; doch dürften sich die Wurzeln einer jüdischen Gemeinde bereits Jahrzehnte früher gebildet haben. Die hiesigen Juden waren zunächst „Kammerknechte“ des Königs, wurden von diesem aber zeitweilig an den Elsässer Landgrafen verpfändet; zudem besteuerte auch die Stadt die jüdischen Familien.
Im Herbst 1347 fiel die Schlettstädter Bevölkerung über die Juden her und plünderte ihre Wohnungen. Während der Pestpogrome von 1348/1349 wurde die Gemeinde vernichtet; Juden wurden öffentlich verbrannt, einigen gelang es zu fliehen. Die christlichen Bewohner hielten sich dabei am Eigentum der getöteten Juden schadlos.
Massaker an den Juden von Schlettstadt, 1349 (Abb. aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)
Wenige Jahrzehnte später durften sich erneut wenige jüdische Familien unter dem Schutz des Herzogs von Lothringen in Schlettstadt niederlassen; sie lebten damals vom Geldverleih und -handel. Ende des 15.Jahrhunderts wurden die Juden aus Schlettstadt vertrieben; bis in die Zeit der Französischen Revolution hielten sich jüdische Händler nur kurzzeitig in der Stadt auf, um hier ihren Geschäften nachzugehen. Erst nach 1800 gründeten hier erneut ansässig gewordene Familien eine Gemeinde.
Eine erste Synagoge gab es in Schlettstadt bereits Anfang des 14. Jahrhunderts. Nach der Gemeindegründung zu Beginn des 19.Jahrhunderts nutzten die Juden Schlettstadts viele Jahrzehnte lang einen Betraum.
Artikel aus: "Allgemeine Zeitung des Judentums" vom 23.8.1888
1890 wurde eine neue Synagoge erbaut; über dem Portal des im neoromanischen Stil errichteten Gebäudes befindet sich die Inschrift: „Dies ist das Tor zum Herrn. Die Gerechten werden es durchschreiten. Psalm 188,20.“
Synagoge Schlettstadt, hist. Ansichtskarte (Abb. aus: alemannia-judaica.de)
Synagoge in Schlettstadt (Ausschnitte aus hist. Postkarten)
Ein Artikel in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ berichtete am 19. Sept. 1890 über die Einweihungsfeierlichkeiten:
Schlettstadt i. Els., 8. September. Anläßlich der Einweihung der Synagoge fand ein Bankett statt, bei welchem der Bezirkspräsident, Herr von Freyberg folgende Ansprache hielt: ‚Während Geist und Gemüth noch erfüllt sind von den Eindrücken der frommen Feier, der wir heute beigewohnt haben, so erachten wir es doch nicht für ausgeschlossen, daß wir nun auch froher Geselligkeit Raum geben. Der allgütige Schöpfer hat uns ja diese sonnige Erde angewiesen, auf daß wir einträchtig darauf wohnen und ihre Gaben im Frieden genießen. Freilich sind wir noch weit entfernt von diesem idealen Zustande. Es sind im einzelnen Menschen, so auch in den Massen, Strömungen und Triebe lebendig, die sich dem entgegenstellen. Von jeher haben Hass und Eigennutz die Individuen unter sich, die Völker gegeneinander in Zwiespalt versetzt. Allein das ist gerade die sittliche Aufgabe, die dem Menschen gesetzt ist, daß er durch die Kraft des Glaubens und Willens sich und der Mitwelt den Frieden erkämpfe. Darin besteht eine Hauptaufgabe jeder Religionsform. Und wir Christen geben unseren israelitischen Mitbürgern gerne das Zeugniß, dass sie in Bezug auf Gottesfurcht, gesetzlichen Sinn und Barmherzigkeit keinem anderen Bekenntnisse nachstehen. Aber der Einzelne, und sei er noch so mächtig und einflußreich, ist für sich allein nicht imstande, der Gesellschaft Duldung und Eintracht zu gebieten. Es muss der Zug der Zeit, es müssen die öffentlichen Zustände diesem Streben entgegenkommen. Freuen wir uns nun, daß wir einer Epoche und einem Staatswesen angehören, in denen sich dem einträchtigen Zusammenleben der verschiedenen Bekenntnisse keine starren Schranken mehr entgegensetzen. Jetzt umfaßt uns Alle ein gemeinsames großes Vaterland; eine starke Staatsgewalt, deren Wahlspruch ist: ‚Liebet die Brüder’, schützt Freiheit und Recht. Ein junger, gottesfürchtiger Fürst, den die Vorsehung mit den seltensten Gaben und Herrschertugenden ausgestattet hat, verkörpert in sich und belebt alle guten Kräfte der Nation. Freuen wir uns, sage ich, daß es uns vergönnt sei, in dieser Zeit, in diesem Lande, unter diesem Kaiser zu leben und zu wirken. Lassen Sie uns diesem frohen Bewusstsein Ausdruck geben, indem wir unserem Allergnädigsten Herrn und Kaiser unsere laute Huldigung darbringen: Kaiser Wilhelm II. lebe hoch!’. – Unter den Gästen befand sich auch der protestantische Pfarrer Zwilling, welcher ein Hoch auf die Duldsamkeit der einzelnen Religionsgemeinschaften ausbrachte.
Bereits im 17.Jahrhundert war ein jüdischer Friedhof angelegt worden.
Jüdischer Friedhof, um 1950 (Abb. LGJMS, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Seit Mitte der 1860er Jahre besaß Schlettstadt ein von Muttersholtz nach hier verlegtes Rabbinat.
Juden in Schlettstadt:
--- um 1395 ......................... 5 jüdische Familien,
--- um 1475 ......................... 6 “ “ ,
--- 1807 ............................ 19 Juden,
--- 1846 ........................ ca. 180 “ ,
--- 1861 ............................ 272 “ ,
--- 1900 ............................ 373 “ ,
--- 1910 ............................ 248 “ ,
--- 1936 ............................ 213 “ ,
--- 1953 ............................ 128 “ .
Angaben aus: Michel Rothé/Max Warschawski, Les synagogues d’Alsace et lieur histoire, S. 36
Die Synagoge wurde in der NS-Zeit teilweise zerstört, die jüdischen Familien zunächst in den unbesetzten Teil Frankreich ausgewiesen und später von dort teilweise deportiert.
Nach dem Kriege gründete sich wieder eine jüdische Gemeinde, die die Restaurierung der Synagoge vorantrieb; allerdings verzichtete man dabei auf ihre ursprüngliche Kuppel.
Synagoge in Sélestat (Aufn. Olivier Lévy u. Victor Quiroz, 2007/2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Die ältesten erhaltenen Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Sélestat stammen aus der Zeit um 1700.
Auf dem jüdischen Friedhof in Sélestat (links: Aufn. J. Hahn, 2007 u. rechts: Aufn. O., 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Auf dem Friedhofsgelände erinnert ein Mahnmal an die während des Zweiten Weltkrieges ermordeten Juden von Seléstat.
Mahnmal (Aufn. J. Hahn, 2007)
Im nahen Weiler (frz. Villé, derzeit ca. 1.800 Einw.) gab es eine kleine israelitische Gemeinde, die sich erst nach Mitte des 19.Jahrhundert gebildet hatte. Ihre Höchstzahl erreichte die Gemeinde um 1910 mit ca. 60 Personen. Die Gemeinde gehörte zum Rabbinat von Dambach, nach dessen Auflösung zu dem in Barr. Über die Einweihung ihrer neuen Synagoge berichtete die „Allgemeine Zeitung des Judentums“ am 7.Okt. 1904:
... Auch in Weiler bei Schlettstadt wurde am 25. vorigen Monats (25. August 1904) durch Oberrabbiner Ury und Rabbiner Dr. Bloch – Dambach eine neue Synagoge ihrer Bestimmung übergeben. Diese noch junge kleine Gemeinde hatte bisher nur einen Betsaal benützt. Sehr bemerkt wurde, dass der üblichen Sitte entgegen der Kreisdirektor weder selbst erschienen noch einen Vertreter geschickt hatte, und dass aus dem Städtchen selbst nur die protestantischen Beamten (Amtsrichter, Polizeikommissar, Zollbeamte und andere), nicht aber der katholische Bürgermeister und Gemeinderat an der Feier teilnahmen.
Synagoge in Weiler (hist. Aufn. um 1905)
1939/1940 waren zwölf jüdische Familien in Weiler wohnhaft. Diejenigen, die in den folgenden Monaten nicht mehr den Ort verlassen konnten, wurden 1940 nach Südfrankreich deportiert. Das Synagogengebäude wurde während der deutschen Okkupation als Lager zweckentfremdet.
Anfang der 1950er Jahre fand sich im Ort wieder eine kleine Gemeinde zusammen, die das alte Synagogengebäude – nach völliger Umgestaltung – wieder nutzte; nur das Eingangsportal lässt heute noch auf die einstige bauliche Gestaltung schließen.
Ehemaliges Synagogengebäude (Aufn. aus: tourisme.alsace.com und Aufn. R. Hammann, 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Im Dorf Bassenberg (frz. Bassemberg, derzeit kaum 250 Einw.) – in unmittelbarer Nähe von Weiler (Villé) – bildete sich im Laufe des 18.Jahrhunderts eine jüdische Gemeinde; um 1785 wurden hier ca. 80 jüdische Bewohner gezählt. Im Laufe des 19.Jahrhunderts war deren Zahl deutlich rückläufig; nach 1860 lebten in Bassenberg nur noch sehr wenige jüdische Familien. Gottesdienste fanden aber hier auch weiterhin statt, da die Synagoge in Bassenberg auch für jüdische Personen aus der Umgebung religiöses Zentrum war. Endgültig löste sich die winzige Gemeinde um 1900 auf.
Notiz in der "Jüdischen Rundschau" vom 29. Dez.1905
Anfang der 1830er Jahre war eine neue Synagoge in Nutzung genommen worden; sieben Jahrzehnte später wurde das Gotteshaus geschlossen und das Gebäude veräußert.
Weitere Informationen:
Heymann Chone, Rabbi Joseph von Schlettstadt. Zur Geschichte der Familie Treves, in: "Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland", No. 7/1937, S. 1 - 4
Paul Adam, Histoire religieuse de Sélestat, Band 1: Des origines à 1615, Sélestat 1967
Germania Judaica, Band II/2, Tübingen 1968, S. 744/745 und Band III/2, Tübingen 1995, S. 1317 - 1326
Gerd Mentgen, Geschichte der Juden in der mittelalterlichen Reichsstadt Schlettstadt, in: "Annuaire des Amis de la Bibliothèque Humaniste de Sélestat 1990", S. 51 - 73
Michel Rothé/Max Warschawski, Les synagogues d’Alsace et lieur histoire, Jerusalem 1992
Gerd Mentgen, Studien zur Geschichte der Juden im mittelalterlichen Elsaß - Forschungen zur Geschichte der Juden, in: "Schriftenreihe der Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Juden e.V.", Verlag Hahnsche Buchhandlung, Hannover 1995, S. 45 f., S. 95 f., S. 282 ff. und S. 536 f.
Christian Dirwimmer, La Communaute Juive de Ville pendant la seconde Guerre Mondiale, 1995 (Aufsatz)
Sélestat (Schlettstadt), in: alemannia-judaica.de (mit hist. Aufnahmen der Synagoge)
Villé, in: alemannia-judaica.de
Bassemberg, in: alemannia-judaica.de
Günter Boll (Bearb.), Die ältesten Epitaphien des Judenfriedhofs bei Schlettstadt (1699 – 1714), als PDF-Datei abrufbar unter: alemannia-judaica.de/images/Images 300/Epitaphien Friedhof Schlettstadtt.pdf (von 2000)