Schlitz (Hessen)
Schlitz ist heute eine Kleinstadt mit ca. 10.000 Einwohnern im äußersten Osten des hessischen Vogelsbergkreises - etwa 25 Kilometer nördlich von Fulda (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: wikipedia.org CCO und Kartenskizze 'Vogelsbergkreis', Andreas Trepte 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Der älteste Beleg über die Existenz von Juden in Schlitz stammt aus dem ausgehenden 16.Jahrhundert. Ob im 17.Jahrhundert jüdische Familien dauerhaft in Schlitz ansässig waren, gilt als fraglich; mit Sicherheit hielten sich jüdische Hausierer, aber auch Viehhändler, kurzzeitig im Ort auf, um hier ihre Geschäfte zu tätigen - zum Unwillen der christlichen Händler.
Anfang des 18.Jahrhunderts wurde der ambulante Handel der Juden reglementiert: Jüdische Hausierer mussten von nun an „Conzessionsbriefe“ der Grundherrschaft erwerben, die ihnen den Besuch der Märkte erlaubten. So war den Viehhändlern nur ein zwölfstündiger Aufenthalt am Ort gestattet. Als gegen Ende des 18. Jahrhunderts der Hausier- und Viehhandel durch auswärtige Juden in der Reichsgrafschaft derart zunahm, dass wirtschaftlichen Interessen der Bürger und Bauern Schaden zu nehmen drohten, erließ Reichsgraf Carl Heinrich von Schlitz 1799 eine Anordnung, wonach ambulante jüdische Handelsleute nur noch an zwei Wochentagen in seiner Grafschaft handeln durften. Zuwiderhandlungen wurden mit fünf Gulden, bei einem erneuten Verstoß mit dem Entzug der Handelserlaubnis bestraft.
Erste Ansiedlungen von Juden in Schlitz datieren nachweislich aus dem Jahre 1730; dabei handelte es sich um zwei jüdische Metzger. Aber erst nach 1870 kann von einer nennenswerten jüdischen Ansässigkeit in Schlitz gesprochen werden; zumeist waren Juden aus den benachbarten Landgemeinden Langenschwarz und Grebenau zugewandert. Der erste Zuzügler war der Textilhandelsmann Michael Cahn aus Grebenau, der im Jahre 1866 das Wohnhaus Im Grund 3 erwarb; ein Jahr später erhielt er vom Großherzoglichen Kreisamt Lauterbach die Bauerlaubnis für die Errichtung eines Verkaufsladens.
Die orthodoxen Schlitzer Juden verfügten in der Hintergasse, der heutigen Herrngartenstraße, über eine bescheidene Synagoge; das Gebäude, ein früheres Badehaus, war 1899 von der „Religionsgesellschaft“ erworben worden und diente bis 1937 als Bethaus. Eine eigene Gemeinde gründete sich erst 1880 (oder 1900); denn die aus Grebenau und Langenschwarz zugezogenen Familien gehörten bis dato ihren ehemaligen Kultusgemeinden an. Für die Erledigung religiös-ritueller Aufgaben der Gemeinde war zeitweise ein Lehrer angestellt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden dann die wenigen Kinder durch auswärtige Religionslehrer unterrichtet.
Ein eigenes kleinflächiges Friedhofsareal stand den Schlitzer Juden ab 1899/1901 „Auf der Quecker Liete“ (nahe des kommunalen Friedhofs) zur Verfügung; hier wurden ab 1910 auch verstorbene Juden aus Bad Salzschlirf beerdigt.
Die Gemeinde gehörte zum orthodoxen Provinzialrabbinat in Gießen.
Juden in Schlitz:
--- 1730 ........................... 2 jüdische Familien,
--- um 1830 ........................ keine,
--- 1861 ........................... 2 Juden,
--- 1871 ........................... 7 jüdische Familien,
--- um 1900 .................... ca. 85 Juden (in 15 Familien),* *andere Angabe: 53 Pers.
--- 1910 ........................... 64 “ ,
--- 1925 ........................... 35 “ ,** ** Angabe zweifelhaft
--- 1933 ........................... 43 “ (in 13 Familien),
--- 1935 ........................... 30 “ ,
--- 1937 (Dez.) .................... 7 “ ,
--- 1939 (Juni) .................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 272
und Heinrich Sippel, Jüdisches Leben in Schlitz
Um die Jahrhundertwende bestritten die Familien den Lebensunterhalt im Vieh- und Textilhandel; mehrere besaßen Läden und Handlungen im Ort.
Stellenanzeigen jüdischer Gewerbetreibender von 1901 bzw. 1922
Das Zusammenleben der jüdischen Minderheit mit den christlichen Dorfbewohnern war nicht immer problemlos; weite Bevölkerungskreise verhielten sich gegenüber Juden ablehnend bis feindlich. Zu Beginn der NS-Zeit lebten in Schlitz 43 jüdische Einwohner; neben sechs Vieh- und sechs Textilhändlern gab es am Ort je einen Metzger und Fellhändler.
Anzeige im „Heimatblatt” am 1.April 1933
Die zunehmende antijüdische Propaganda in der NSDAP-Hochburg Schlitz verstärkte den Druck auf die hier lebenden Juden derart, dass bereits in den ersten Jahren der NS-Diktatur Schlitzer Juden abwanderten; bis 1937 hatten fast alle den Ort verlassen.
Anzeige zur Geschäftsaufgabe
Das 1899 erworbene Synagogengebäude wurde 1937 an einen hiesigen Handwerker verkauft.
Während des Novemberpogroms von 1938 soll es in Schlitz zu keinen Ausschreitungen gekommen sein, da es zu diesem Zeitpunkt kaum mehr jüdische Bewohner gab. Die letzten drei jüdischen Einwohner verließen den Ort Ende 1938/Mai 1939. Ende Juni 1939 meldete der hiesige Bürgermeister dem Landratsamt: „ ... sind alle Juden von Schlitz verzogen."
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind nachweislich 21 aus Schlitz stammende bzw. längere Zeit hier wohnhaft gewesene jüdische Bürger Opfer des Holocaust geworden (namentliche Nennung der betreffenden Personen siehe. alemannia-judaica.de/schlitz_synagoge.htm).
1991 wurde am Rathaus eine unscheinbare Gedenktafel mit folgender Inschrift angebracht:
Wegen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mußten alle unsere jüdischen Mitbürger die Stadt Schlitz
in den Jahren 1933 - 1939 verlassen.
Zu diesem Unrecht wurde damals geschwiegen.
Das Erinnern und das Bewußtsein dieser Schuld machen Versöhnung möglich und ermahnen uns,
immer wieder für die Menschenrechte einzutreten.
Etwa 100 Meter vom Kommunalfriedhof „Am Galgenberg“ entfernt findet man auf der mit einer Bruchsteinmauer umfriedeten jüdischen Begräbnisstätte noch ca. 30 Grabsteine. In jüngster Vergangenheit wurden die Grabmale des jüdischen Friedhofs in Schlitz einer Restaurierung unterzogen.
jüdischer Friedhof Schlitz - originaler Eingangspfeiler (beide Aufn. U., 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 272/273
Heinrich Sippel, Die Schlitzer Juden, in: "Studien zur Schlitzer Geschichte", Heft 10/1983
Thea Altaras, Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945? Königstein/Ts. 1988, S. S. 112/113
Hans-Peter Saurwein, Jüdische Händler und Hausierer. ... Ein Stück Schlitzer Marktgeschichte, in: "Schlitzer Bote" vom 14.5.1994
Fritz Kumpf, Juden im Schlitzer Land. Betrachtungen, Erinnerungen, Gedanken, in: Kulturverein Lauterbach e.V. (Hrg.), Fragmente ... jüdischen Lebens im Vogelsberg, Lauterbach 1994, S. 50 - 56 und S. 83/84
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945, Hessen I Reg.bez.Darmstadt, 1995, S. 200/201
Heinrich Sippel, Jüdisches Leben in Schlitz, in: "Schlitz im Spiegel der Geschichte", Heft 28/1997, Eigenverlag, Pulheim 1997
Schlitz, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Susanne Böse (Bearb.), Der Friedhof als Kulturraum – Jüdische Bestattungskultur in Schlitz, online abrufbar unter: grabmal-zentrum.de/blog/restaurierung-des-juedischen-friedhofs-in-schlitz/ (Nov. 2016)