Seligenstadt (Hessen)

Datei:Seligenstadt in OF.svg Seligenstadt ist eine von derzeit ca. 22.000 Menschen bewohnte Stadt im hessischen Landkreis Offenbach südöstlich von Frankfurt/Main – zwischen Hanau (im N) und Aschaffenburg (im S) gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Offenbach', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Seligenstadt besaß zeitweise mit knapp 8% den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil in der Provinz Starkenburg,  dem ehemaligen Großherzogtum Hessen-Darmstadt.

Seligenstadt – Stahlstich Fritz Bamberger, um 1845 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Urkundliche Nachweise über Ansässigkeit von Juden in Seligenstadt liegen seit Ende des 13.Jahrhunderts vor; bereits zu dieser Zeit gab es im Ort eine Synagoge, eine Mikwe und eine Gasse, in der fast ausschließlich Juden wohnten. Dem Erzbischof von Mainz - ihrem Schutzherrn - mussten die Seligenstädter Juden regelmäßig Abgaben entrichten. Im Laufe des 14.Jahrhunderts kam es in Seligenstadt zu Pogromen. In der zweiten Hälfte des 15. und im 16.Jahrhundert schienen keine jüdischen Familien in Seligenstadt gelebt zu haben; das letzte Zeugnis jüdischer Ansässigkeit stammt aus dem Jahre 1469. Erst nach dem Dreißigjährigen Kriege erfolgte wieder ein nennenswerter Zuzug, aus dem sich im Verlauf eine relativ große jüdische Gemeinde entwickelte. Die älteste nachweisbare „Judenschul“ an der Ecke Juden-/Mistgasse soll sich im sog. „Steinernen Haus“ (oder „Romanischen Haus“) befunden haben; zu welcher Zeit das Gebäude als jüdischer Versammlungsort genutzt wurde, ist allerdings unbekannt.

              Älteste nachweisbare Synagoge in Seligenstadt (Aufn. Heiko Dassow, 2007) 

Nach der Wiedergründung der jüdischen Gemeinde in Seligenstadt nach 1650 stand der Judenschaft ein Bethaus in der Steinheimer Straße zur Verfügung, das 1871 von einem Synagogenneubau an der Frankfurter Straße/Grabenstraße abgelöst wurde. Das Baugrundstück hatte die Kommune der Gemeinde zur Verfügung gestellt.

 Die Seligenstädter Synagoge um das Jahr 1916. Das Postkartenmotiv stammt aus der Sammlung des Seligenstädter Heimatforschers Thomas Laube.

 Synagoge Seligenstadt - Postkarte, um 1915 (aus: Sammlung Th. Laube)  und Westfront des Gebäudes (Aufn. unbekannt, aus: alemannia-judaica.de )

                             Ausschnitt aus einer hist. Bildpostkarte 

Der Neubau wurde auch durch eine „Synagogen-Lotterie” finanziert; die von den Gemeindeangehörigen gestifteten Gebrauchsgegenstände wurden dabei meistbietend versteigert. Zum 25. Synagogenjubiläum wurde der Innenraum aufwändig restauriert.

In Seligenstadt bestand auch für einige Jahrzehnte - bis Ende der 1860er Jahre - eine jüdische Elementarschule, die danach noch als Religionsschule weitergeführt wurde.

 

Stellenanzeigen aus: „Allgemeine Zeitung des Judentums" vom 20.Dez. 1858 und "Der Israelit" vom 30.Juli 1900

Zu Beginn des 18.Jahrhunderts legte die Seligenstädter Judenschaft einen eigenen Begräbnisplatz an der Einhardstraße an; 1888 bzw. 1926 erfolgte eine Erweiterung.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20179/Seligenstadt%20Friedhof%201930.jpg Jüdischer Friedhof Seligenstadt (Aufn. Hermann Laube, 1930)

Die jüdische Kultusgemeinde in Seligenstadt verfügte über eine reiche Infrastruktur: eine Armenkasse, einen Bestattungsverein (Chewra Kadischa), einen Frauenverein für Krankenpflege und Wohlfahrtsarbeit und einen Krankenkassenverein.

Juden in Seligenstadt:

         --- um 1720 ........................   7 jüdische Familien,

    --- um 1755 ........................  10     “       “    ,

    --- 1818 ........................... 116 Juden,

    --- um 1830 ........................ 120   “  (ca. 4% d. Bevölk.),

    --- 1840 ........................... 167   “  ,

    --- 1850 ........................... 193   “  ,

    --- 1860 ........................... 213   “  ,

    --- 1871 ........................... 244   “  ,

    --- 1885 ........................... 280   “  (ca. 8% d. Bevölk.),

    --- 1890 ........................... 244   “  ,

    --- 1910 ........................... 196   “  ,

    --- 1925 ........................... 172   “  ,

    --- 1933 ........................... 146   “  (ca. 30 - 35 Familien),

    --- 1935 ........................... 130   “  ,*   * gemäß der sog.‘Judenkartei’

    --- 1939 (Mai) .....................  77   “  ,

    --- 1942 (Aug.) ....................  32   “  ,

             (Dez.) ....................  keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 247

und                 Marcellin P. Spahn, Zur Geschichte der Seligenstädter Juden, S. 186

 

Die Juden Seligenstadts bestritten ihren Lebensunterhalt zunächst vornehmlich als Viehhändler, ab dem 19.Jahrhundert dann auch als Kaufleute und Händler mit Agrarprodukten; ebenfalls waren einige Handwerker vertreten. Das bedeutendste Saatgetreidegeschäft der Provinz Starkenburg lag in den Händen des Juden Max Kleeblatt. Insgesamt war die finanzielle Lage der hiesigen jüdischen Familien gut; einige konnten zu den begüterten gezählt werden; ab Ende des 19.Jahrhunderts wanderten diese zumeist in die Großstädte ab.

Lehrstellenangebote jüdischer Geschäftsleute um 1900:

      Seligenstadt, um 1900 (aus: wikipedia.org, CCO)

Zu Beginn der NS-Zeit waren noch etwa 30 bis 35 jüdische Familien in Seligenstadt ansässig. Auch hier machten sich die diskriminierenden NS-Maßnahmen gegen Bürger jüdischen Glaubens bald bemerkbar: Juden wurden aus den lokalen Vereinen gedrängt, öffentlich diffamiert und ihrer wirtschaftlichen Lebensgrundlagen beraubt; auch vor körperlichen Attacken wurde nicht halt gemacht.

Während des Novemberpogroms von 1938 fiel die Synagoge einem Brandanschlag zum Opfer; die Gebäuderuine wurde später abgerissen.

Rauchschwaden steigen am 10. November 1938 von der in Brand gesteckten Synagoge an der Ecke Grabenstraße/Frankfurter Straße auf.in Brand gesetzte Synagoge (Aufn. Stadtarchiv Seligenstadt)

Zu Zerstörungen jüdischer Geschäfte und Wohnungen soll es in Seligenstadt aber nicht gekommen sein; das lag wohl daran, dass die hiesige Bevölkerung den NS-Gewaltmaßnahmen zumeist ablehnend gegenüberstand. Da einige Seligenstädter Bürger weiterhin in jüdischen Geschäften einkauften, sah sich die NSDAP-Ortsgruppenleitung veranlasst, in der Lokalpresse diese „Volksgenossen“ anzuprangern.

Judenknechte in Seligenstadt. Man teilt uns mit, daß der Partei Material in die Hände gefallen ist, wonach sogenannte “Volksgenossen” bis in die letzte Zeit in hiesigen jüdischen Geschäften gekauft haben. Es ist ganz klar, daß sich solche Zeitgenossen von selbst aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen haben und ihren Lohn erhalten werden. Ein Jude besaß die Frechheit, jetzt noch bei Zahlungsaufforderungen seine billigen Waren anzupreisen. Es gab auch Zeitgenossen, die bis in die letzte Zeit noch ihre Butter von einer Jüdin bezogen haben. All denen, die mit Juden Bindungen hatten oder noch haben, sei gesagt: Wundert euch nicht, wenn ihr wegen dieses schändlichen Verhaltens zur Rechenschaft gezogen werdet. ...

                     (aus: „Seligenstädter Anzeiger”, Dezember 1938)

Bis Kriegsende hatten die meisten Juden ihren Heimatort verlassen; einige waren emigriert, andere in größere deutsche Städte verzogen. Etwa 30 der in den vier „Judenhäusern“ lebenden Menschen wurden am 17.Sept. 1942 auf LKWs verladen und zur Frankfurter Sammelstelle gebracht; von hier aus wurden sie zusammen mit Hunderten hessischen Juden nach Theresienstadt deportiert. Der evangelische Ortspfarrer vermerkte 1942 in seiner Chronik: „Ab heute ist Seligenstadt judenfrei.” Der jüdische Friedhof wurde Anfang der 1940er Jahre zweckentfremdet, Grabsteine wurden zu Bauzwecken verwendet und das Gelände als Viehkoppel genutzt.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem wurden nachweislich 99 gebürtige bzw. über einen längeren Zeitraum hinweg in Seligenstadt ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer der nationalsozialistischen Schreckenherrschaft. (namentliche Nennung der Opfer siehe: alemannia-judaica.de/seligenstadt_synagoge.htm)

Nur zwei Männer kehrten nach Kriegsende aus Theresienstadt nach Seligenstadt zurück.

 

(Abb. G. 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)     Das ca. 1.500 m² große Areal des jüdischen Friedhofs wurde in der Nachkriegszeit wieder in einen würdigen Zustand versetzt. Die während der NS-Zeit abgeräumten Grabsteine - teilweise zur Anlage des Kellerfundamentes eines Gebäudes an der Einhardstraße zweckentfremdet – wurden beim Abbruch dieses Hauses im Jahre 2000 aufgefunden. Während einige wieder zusammengefügte Grabsteine an der Friedhofsmauer aufgestellt wurden, dienten die übrigen Grabsteinrelikte hier als Denk- und Mahnmal; das kreisförmig angelegte Mahnmal trägt den hebräischen Text des Kaddisch: „Verherrlicht und geheiligt werde Sein erhabener Name in der Welt, die ER nach Seinem Ratschluß geschaffen hat. Er lasse sein Reich kommen, so daß ihr alle mit dem ganzen Haus Israel in unseren Tagen, bald und in naher Zeit es erleben möget. Darauf sprechet: Amen. Ihre Seelen seien eingebunden in den Bund des Lebens.“

Mahnmal auf dem Begräbnisgelände (Aufn. J. Hahn, 2009)http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20153/Seligenstadt%20Friedhof%20160.jpg

 

Am einstigen Synagogenstandort an der Ecke Frankfurter Straße/Grabenstraße erinnert seit Mai 1965 ein Mahnmal an das 1871 eingeweihte jüdische Gotteshaus; es trägt die kurze Inschrift:

Mahnmal

zum Andenken an die Synagoge, die am 9.Nov. 1938 zerstört wurde.

 

1989 ließ die Kommune einen Obelisken mit Gedenktafel am Standort der ehemaligen Synagoge - am heutigen Synagogenplatz - aufstellen. Im November 2005 wurde hier - auf Initiative der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Kirchengemeinden - der Grundstein für eine niedrige Mauer gelegt, die den Grundriss des 1938 zerstörten Gotteshauses nachstellt. Der neu gestaltete Synagogenplatz wurde am „Tag des offenen Denkmals“ im September 2009 offiziell seiner Bestimmung übergeben. Der Obelisk trägt die Inschrift: "Die Bürger der Stadt Seligenstadt gedenken ihrer jüdischen Mitbürger, welche durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in den Jahren 1933-1945 ermordet oder in den Tod getrieben wurden."

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20153/Seligenstadt%20Synagoge%20162.jpg http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20153/Seligenstadt%20Synagoge%20161.jpgObelisk - Synagogenplatz (Aufn. J. Hahn, aus: alemannia-judaica.de)

Jüngst wurde eine großformatige Schautafel mit Informationen zur ehemaligen jüdischen Gemeinde und ihrer Synagoge hier aufgestellt und der Platz durch Anbringen von zwei Stahltoren als Ort des Gedenkens deutlich sichtbar gemacht (2024).

  Synagogengrundriss (Aufn. E.W., 2011, aus: commons.wikimedia.org)

Seit 2007 nimmt Seligenstadt am Projekt „Stolpersteine“ teil; derzeit sind an zahlreichen Standorten insgesamt nahezu 120 Steine in die Gehwegpflasterung eingefügt (Stand 2024) gewidmet sind.

Stolpersteine Seligenstadt STEIN Aschaffenburger Strasse 2.jpg Sieben "Stolpersteine", Aschaffenburger Str. (Aufn. S., 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Stolperstein Seligenstadt Salomon Freihofstraße 3.JPGStolperstein Seligenstadt Mayer Steinheimer Straße 4.JPGStolperstein Seligenstadt Bacharach Steinheimer Strasse 11.JPG

Stolpersteine“ in der Freihofstraße und Steinheimer Straße (Aufn. N., 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 246 - 249

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 187

Marcellin P. Spahn, Zur Geschichte der Seligenstädter Juden. Aus Dokumenten und Berichten, Hrg. Magistrat der Stadt Seligenstadt, 1986

Alfred Kurt/Otto Schlander, Der Kreis Offenbach und das Dritte Reich, o.O. 1991

Benno Szklanowski, Jüdischer Friedhof Seligenstadt - hebräische Grabinschriften, hrg. vom Magistrat der Stadt Seligenstadt, Seligenstadt 1991

Germania Judaica, Band III/2, Tübingen 1995, S. 1362 - 1365

Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I: Regierungsbezirk Darmstadt, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1995, S. 288/289

Thorwald Ritter, Die Synagoge der jüdischen Gemeinde von Klein-Krotzenburg, bloch-Verlag, Frankfurt/M. 1997, S. 37

Dietrich Fichtner, “ ... und wollten so gerne bleiben. 1933 - 1945. Juden in Seligenstadt, CoCon Verlag, Hanau 2000

Seligenstadt, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Ingrid Firner, Jüdisches Leben in Seligenstadt am Main im späten 18.Jahrhundert, in: Historischer Verein für Hessen (Hrg.), Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde NF 60/2002

Gesine Weber, 1872 - 1938 – 2007. Stationen eines jüdischen Sakralbaus im Landkreis Offenbach - Archäologische Untersuchung der zerstörten Synagoge von Seligenstadt, in: "Hessen Archäologie 2007", S. 156 - 159

th (Red.), Nie wieder wegschauen – Gedenkveranstaltung an die Pogromnacht 1938/Offizelles Schild „Synagogenplatz“, in: „Offenbacher Post“ vom 11.11.2011

paw (Red.), Erinnerung an die Juden in Seligenstadt, in: op-online.de vom 6.10.2012

Stadt Seligenstadt (Red.), Seligenstadt: Stadt setzt Verlegung der Stolpersteine fort, in: pressemeldung-hessen.de vom 20.1.2014

Auflistung der Stolpersteine in Seligenstadt, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Seligenstadt

beko ( Red.), 26 Stolpersteine werden noch an zehn Orten in Seligenstadt verlegt, in: „Seligenstädter Heimatblatt“ vom 7.11.2018

Michael Hofmann (Red.), Ein Augenzeuge erinnert sich: Rauch über der Synagoge, in: op-online.de vom 10.11.2018

Th.Ritter/H.Haas (Bearb.), Stolpersteine in Seligenstadt: Rundgang zu Wohnhäusern, Synagogenplatz und jüdischem Friedhof, Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt/M. 2019

Katrin Stassig/Armin Wronski (Red.), Erinnerung wachhalten. „Stolpersteine in Seligenstadt“ erzählt Schicksale der Juden, in: op-online.de vom 22.6.2019

Markus Terharn (Red.), Vertrieben, deportiert, ermordet. Künstler Gunter Demnig verlegt neue Stolpersteine in Seligenstadt, in: op-online.de vom 19.7.2020

Klaus Werner (Bearb.), Haus des Lebens. Haus der Ewigkeit: das Denkmal aus Grabsteinfragmenten auf dem jüdischen Friedhof in Seligenstadt, hrg. vom Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen, 2020

Laura Oehl (Red.), Brand der Seligenstädter Synagoge: „Ich höre es heute noch klirren", in: op-online.de vom 9.11.2023:

N.N. (Red.), Synagogenplatz in Seligenstadt aufgewertet, in: op-online.de vom 25.3.2024

Laura Oehl (Red.), Jüdisches Leben in Seligenstadt wiederentdecken, in: op-online.de vom 9.11.2024