Selters/Westerwald (Rheinland-Pfalz)
Selters ist mit derzeit fast 3.000 Einwohnern eine Kleinstadt im Westerwaldkreis und Sitz der gleichnamigen Verbandsgemeinde – ca. 15 Kilometer nordwestlich von Montabaur bzw. ca. 30 Kilometer nordöstlich von Koblenz (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org CCO und Kartenskizze 'Westerwaldkreis' ohne Eintrag von Selters, aus: ortsdienst.de/rheinland-pfalz/westerwaldkreis).
Ab Ende des 17.Jahrhunderts waren kontinuierlich wenige Juden im Dorfe Selters ansässig; doch bereits in den Jahrzehnten zuvor wurden Juden hier erwähnt; der erste 1585 namentlich erwähnte war „Adam der Jude“. Schutzgeldzahlungen mussten an die Grafen zu Wied entrichtet werden. Die meisten lebten in ärmlichen Verhältnissen und verdienten ihren Lebensunterhalt im Klein- und Viehhandel. Die einzelnen Familien hatten - je nach Einkommensverhältnissen - unterschiedlich hohe Schutzgeldzahlungen an die herzoglich-nassauische Landesregierung zu leisten; daneben waren noch Steuern an die Ortsgemeinde fällig.
Seit Anfang des 18.Jahrhunderts verfügten die Juden von Selters über einen Betraum, der sich im Hause einer wohlhabenden jüdischen Familie befand. 1850 kaufte die Judenschaft aus Selters und den Filialgemeinden ein Haus in der heutigen Waldstraße, das als Synagoge eingerichtet wurde.
Synagogengebäude in Selters (hist. Aufn., Landesamt f. Denkmalpflege)
Erst zu Beginn des 19.Jahrhunderts war in Selters eine selbstständige jüdische Gemeinde entstanden; zu ihr gehörten auch die jüdischen Familien aus den Dörfern Hartenfels, Herschbach, Maxsain, Rückeroth und vermutlich auch aus Nordhofen.
Rituell-religiöse Aufgaben waren einem jüdischen Lehrer übertragen, der von der Gemeinde angestellt war.
Stellen-Kleinanzeigen für Besetzung der Lehrer/Kantorstelle von 1869 und 1911
Verstorbene fanden auf dem um Mitte des 19.Jahrhunderts angelegten Begräbnisareal „Auf der Wacht“ (an der Gemarkungsgrenze von Selters/Nordhofen) ihre letzte Ruhe.
Die jüdische Gemeinde Selters zählte zum Rabbinatsbezirk Ems bzw. Weilburg.
Juden in Selters:
--- 1753 .......................... 4 jüdische Familien,
--- 1789 .......................... 8 “ “ ,
--- 1815 .......................... 10 “ “ (58 Pers.),
--- um 1825 ....................... 9 “ “ ,
--- 1843 .......................... 90 Juden,
--- 1871 .......................... 95 “ (ca. 10% d. Bevölk.),
--- 1885 .......................... 70 “ (ca. 7% d. Bevölk.) ,
--- 1895 .......................... 86 “ ,
--- 1905 .......................... 101 “ (ca. 9% d. Bevölk.),
--- 1924 .......................... 93 " ,
--- 1933 .......................... 97 “ ,
--- 1938 (Mitte) .............. ca. 55 “ ,
--- 1939 (Okt.) ................... keine.
Angaben aus: Joachim Jösch/Uli Jungbluth/u.a., Juden im Westerwald, S. 112
Die jüdischen Familien lebten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem vom Viehhandel – zumeist verbunden mit dem Schlachtgewerbe. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts übten Juden in Selters auch Handwerke aus; mehrere hatten nun auch Ladengeschäfte am Ort eröffnet.
Blick auf Selters, um 1920 (Abb. aus: akpool.de)
Von 1928 bis 1933 gehörte Sigmund Sonnenberg als jüdisches Ratsmitglied der Gemeindevertretung an. Die Abwanderung jüdischer Familien aus Selters und Umgebung setzte schon vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten ein; die meisten wanderten in deutsche Großstädte ab.
Bereits Ende September 1938 wurden - so nach einem Bericht des Bürgermeister an den Landrat - „die Fensterscheiben verschiedener jüdischer Anwesen zertrümmert. Die meisten jüdischen männlichen Personen haben daraufhin Selters verlassen. Ziel ist unbekannt.” Am 10.November 1938 wurde die Synagoge in Brand gesteckt; zuvor war die Inneneinrichtung verwüstet worden. Das stark zerstörte Synagogengebäude wurde 1940 abgerissen. Die noch im Dorfe lebenden Juden wurden aus ihren Häusern geholt und ins örtliche Gefängnis gesteckt; hierher verbrachte man auch die Juden aus den Nachbardörfern Herschbach und Maxsain; anschließend wurden die Festgenommenen nach Steinen gebracht. Wohnungen, besonders wohlhabender jüdischer Familien, wurden zertrümmert und mit „Judensternen“ beschmiert; auf dem jüdischen Friedhof warf man Grabsteine um. Einige jüdische Bewohner konnten sich bei christlichen Nachbarn verstecken und tags darauf aus dem Dorfe flüchten. Am 3.Oktober 1939 war Selters „judenfrei”.
Während einigen Familien noch die Emigration in die USA gelang, wurde die Mehrzahl der jüdischen Bewohner "in den Osten" deportiert und fiel der Shoa zum Opfer.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind insgesamt 46 aus Selters stammende bzw. längere Zeit am Ort ansässig gewesene jüdische Bürger Opfer der "Endlösung" geworden (namentliche Nennung der betreffenden Personen siehe: alemannia-judaica.de/selters_synagoge.htm).
Der jüdische Friedhof „Auf der Wacht“ - seit 1961 unter Denkmalschutz stehend - ist einziges größeres bauliches Relikt der ehemaligen Gemeinde.
Blick auf das Begräbisgelände und Hinweistafel (Aufn. L., 2020, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0 und J. Hahn, 2009)
An der evangelischen Kirche am Brunnenplatz wurde am 50.Jahrestag der „Reichskristallnacht“ eine Gedenktafel mit folgender Inschrift angebracht:
Die Güte des Herrn ist`s
dass wir nicht gar aus sind,
seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende.
Klagelied Jeremias 3, 27
Zum Gedenken an die jüdische Gemeinde in Selters und ihre im Jahre 1938 zerstörte Synagoge
Selters, im November 1988
Gedenktafel (Aufn. J. Hahn, 2009)
Zu den sichtbaren Hinweisen jüdischer Geschichte gehört eine freigelegte Mikwe, die im Hause Bahnhofstraße 8 zu finden ist.
Seit 2015 beteiligt sich auch Selters am sog. „Stolperstein“-Projekt; so wurden bislang alle Gedenkquader an mehreren Standorten in der Bahnhofstraße verlegt; mit den 2021 in die Gehwegpflasterung sieben neuen eingelassenen Steinen wurde das Projekt in Selters abgeschlossen.
"Stolpersteine" - verlegt in der Bahnhofstraße (Aufn. T., 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
In Herschbach – derzeit ca. 2.900 Einwohner, heute zur Verbandsgemeinde Selters zugehörig – sind seit dem beginnenden 18.Jahrhundert einzelne jüdische Familien nachweisbar, die dem Landesherrn, den Trierer Kurfüsten, schutzgeldpflichtig waren. Die stets nur wenigen jüdischen Ortsbewohner waren Mitglieder der Kultusgemeinde Selters; über einen eigenen Betraum verfügten die Herschbacher Juden nicht.
Die beiden in den 1930er Jahren in Herschbach über Generationen hinweg alteingesessenen jüdischen Familien Michel und Strauß wurden während des Novemberpogroms von SA-Angehörigen überfallen, misshandelt und ihre Habe geplündert. Unter Anwendung von Gewalt wurden sie dann gezwungen, ihre Wohnhäuser zu verlassen, wurden auf einen Pritschenwagen gepfercht und nach Frielingen abtransporrtiert. Nach kurzer Inhaftierung veranlasste die Kommune umgehend, dass sie ihren Grundbesitz – weit unter Wert – verkaufen mussten. Nachdem die Herschbacher Juden 1941 in das Arbeitslager ‚Tagschacht‘ in Oberlahnstein-Friedrichssegen verbracht worden waren, wurden sie 1942 von dort in ‚Lager des Ostens‘ deportiert.
Insgesamt 16 gebürtige bzw. über einen längeren Zeitraum in Herschbach ansässig gewesene jüdische Bewohner wurden Opfer der Shoa.
Zur Erinnerung an die ehemaligen Bewohner mosaischen Glaubens hat die Gemeinde Herschbach 1998 eine Gedenktafel am Rathaus angebracht.
2024 wurden vor ehemaligen Wohnhäusern jüdischer Familien, die während der NS-Zeit verfolgt, deportiert und ermordet wurden, acht sog. „Stolpersteine“ verlegt.
Drei von acht Stolpersteinen (Aufn. K.Maue-Klaeser, 2024)
Kurz nach dem Dreißigjährigen Kriege wurden nachweislich Juden im nahe Selters gelegenen Maxsain dauerhaft ansässig; doch bereits 1589 wird mit "Seligmann dem Juden" erstmals ein im Dorf lebender Bewohner mosaischen Glaubens genannt. Im 18.Jahrhundert waren es zwei Familien. Um 1830/1840 lebten hier ca. 35 jüdische Bewohner, die ihren Lebensunterhalt vor allem vom Viehhandel bestritten; in den 1930er Jahren waren es nur noch zehn. Seit 1810 besaß die kleine Gemeinde - ihr gehörten auch die sehr wenigen Juden in Hartenfels an - einen eigenen Friedhof, der östlich des Ortes lag. Kurz nach 1900 wurde der Betraum aufgegeben, da kein Minjan mehr zustande kam. Die letzten jüdischen Bewohner Maxsains wurden Ende 1941 deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind 14 aus Maxsain stammende bzw. längere Zeit am Ort ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer der "Endlösung" geworden (namentliche Nennung der betreffenden Personen siehe: alemannia-judaica.de/maxsain_synagoge.htm).
Auf dem ca. 2.500 m² östlich des Ortes in Richtung Freilingen liegenden großen jüdischen Friedhof befinden sich heute noch etwa 35 Grabsteine, die verstreut auf dem Areal stehen.
Jüdischer Friedhof Maxsain (Aufn. 2017, aus: wikipedia.org, CCO)
In Hartenfels stand den wenigen hier lebenden jüdischen Bewohnern - sie gehörten zur Kultusgemeinde Maxsain - ein kleines Begräbnisgelände zur Verfügung; dieser Friedhof steht seit 1991 unter Denkmalschutz; heute sind noch 25 Grabsteine vorhanden. Der Versuch, gegen Ende der 1860er Jahre in Hartenfels eine selbstständige Gemeinde zu bildeten, scheiterte am Einspruch des Bezirksrabbinats und der Regierung.
Auf dem ca. 800 m² großen Begräbnisgelände sind heute noch etwa 25 Grabsteine aufzufinden.
Jüdischer Friedhof Hartenfels (Aufn. S., 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
In Freilingen werden Juden erstmals 1721 genannt. Im Laufe des 19.Jahrhunderts bildete sich eine Gemeinde, die nur aus wenigen Familien bestand; in den 1860er Jahren gehörten ca. 45 Personen der Gemeinde an. Seit ca. 1860 gab es im Dorf eine kleine Synagoge, die einen Betraum ablöste. 50 Jahre später wurde das Synagogengebäude verkauft, da im Dorf keine Juden mehr lebten; bereits in den 1890er Jahren war die Abhaltung von Gottesdiensten kaum mehr möglich gewesen. Die meisten jüdischen Familien waren nach Selters verzogen.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind zwei aus Freilingen stammende Juden Opfer der "Endlösung" geworden (namentliche Nennung der betreffenden Personen siehe: alemannia-judaica.de/freilingen_synagoge.htm).
Ehem. Synagogengebäude (Aufn. um 1990, aus: Jösch/Jungblut)
[vgl. Mogendorf (Rheinland-Pfalz)]
Weitere Informationen:
Hellmuth Gensicke, Zur nassauischen Ortsgeschichte, Niederselters, in: "Nassauische Annalen", 87/1976, S. 189 ff.
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 249 f.
Uli Jungbluth, Nationalsozialistische Judenverfolgung im Westerwald, Verlag Dietmar Fölbach, 2.Aufl. Koblenz/Föllbach 1994
Harald Böhmer/Werner Sahm, Die Geschichte der Juden in Maxsain, in: 800 Jahre Maxsain 1194 - 1994. Die Geschichte unseres Dorfes, Maxsain 1994, S. 94 f.
Uli Jungbluth, Landjuden in Selters/Ww., in: "Nassauische Annalen", 108/1997, Wiesbaden 1997, S. 169 - 183
Joachim Jösch/Uli Jungbluth/u.a., Juden im Westerwald - Leben, Leiden u. Gedenken. Ein Wegweiser zur Spurensuche, Montabaur 1998, S. 111 ff. und S. 159/160
Manfred Schenkelberg/Winfried Himmerich, Chronik von Herschbach 1248 – 1998, Hrg. Ortsgemeinde Herschbach, 1998
Joseph Marx, Chronik der Ortsgemeinde Hartenfels, Hachenburg 1999, S. 550 - 554
Christa Pullmann/Eugen Caspary (Hrg.), Das Gebinde des Lebens - Das Leben der jüdischen Menschen in Weyer, Münster, Oberbrechen und Wolfenhausen, Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Limburg, 2004
Stefan Fischbach/Ingrid Westerhoff (Bearb.), “ ... und dies ist die Pforte des Himmels “. Synagogen. Rheinland-Pfalz Saarland, Hrg. Landesamt für Denkmalpflege, Mainz 2005, S. 263 und S. 342
Selters und umliegende Orte, in: alemannia-judaica.de
Freilingen, in: alemannia-judaica.de
Maxsain mit Hartenfels, in: alemannia-judaica.de
Bernhard Hemmerle (Bearb.), Zur Geschichte der jüdischen Mitbürger in Herschbach, 2007 (PDF-Datei abrufbar unter: alemannia-judaica.de/images/Images 465/Herschbach Zur Geschichte der juedischen Mitbuerger.pdf)
Stadt Selters (Red.), Stadt Selters erinnert an verfolgte Juden mit Stolpersteinen, online abrufbar unter: stadt-selters.de (Sept. 2015)
Auflistung der in Selters verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Selters
Katrin Maue-Klaeser (Red.), Gedenkprojekt wird fortgesetzt: Selters erhält weitere Stolpersteine, in: „Westerwälder Zeitung“ vom 7.1.2021
Katrin Maue-Klaeser (Red.), Andenken an ermordete Mitbürger durch das NS-Regime: Selters verlegt letzte Stolpersteine in: „Westerwälder Zeitung“ vom 5.11.2021
Rolf Jung (Red.), Zerstörte Gedenktafel in Selters, in: „Blick aktuell“ vom 29.8.2022
Katrin Maue-Klaeser (Red.), Stolpersteine mahnen jetzt in Herschbach: Erinnerung an Opfer des Nazi-Terrors lebendig halten, in: „Westerwälder Zeitung“ vom 26.9.2024