Sien (Rheinland-Pfalz)
Die derzeit ca. 600 Einwohner zählende Ortschaft Sien gehört heute der Verbandsgemeinde Herrstein-Rhaunen im Landkreis Birkenfeld an – ca. 15 Kilometer östlich von Idar-Oberstein gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte 'Fürstenthum Birkenfeld' von 1881 ohne Eintrag von Sien, aus: wikipedia.org, CCO und Kartenskizze 'Landkreis Birkenfeld' mit Sien dunkel markiert, aus: commons.wikimedia.org, CC0).
In dem kleinen Ort Sien, am Nordrand des Pfälzer Berglandes gelegen, stammen die ersten schriftlichen Zeugnisse über hier ansässige jüdische Familien aus der Mitte des 18.Jahrhunderts. Diese waren von den Fürsten von Salm-Kyrburg und den Herren von Sickingen mit zeitlich begrenzten Schutzbriefen ausgestattet worden und diesen abgabenpflichtig. Mit Beginn der französischen Herrschaft 1798 wurden die hier lebenden Juden den übrigen Dorfbewohnern rechtlich gleichgestellt. Ihre berufliche Tätigkeit beschränkte sich damals fast ausschließlich auf den Viehhandel; in den Jahrzehnten danach arbeiteten sie auch als Krämer bzw. Kleinwarenhändler.
Ab 1815/1816 gehörte das Dorf Sien zum Gebiet des Herzogs von Sachsen-Coburg-Gotha, etwa 20 Jahre später wurde es preußisch. 1820 werden das Dorf und seine Bewohner u.a. folgendermaßen charakterisiert: „ ... Dieses Dorf, wozu auch die nahe dabey gelegenen Sienerhöfe gerechnet werden, zählt 38 zweystöckige, 21 einstöckige Häuser, sechs von jenen sind ziemlich solid und von Stein gebaut, die übrigen sind von Holz und in einem schlechten Zustand. ... Die Bevölkerung besteht aus 404 Individuen, in dem eigentlichen Sien ist die Anzahl der Evangelischen, auf den Sienerhöfen die der Katholischen vorherrschend, in jedem gibt es einige, welche sich zu der Reformierten Religion und einige, welche sich zu der Jüdischen bekennen. ... Die Gewerbethätigkeit beschränkt sich vorzüglich auf den Ackerbau, ... einige Juden, welche mit Vieh handeln und jezuweilen schlachten, bey diesen sind auch einige Ellen und Spezereywaaren zu haben. ...”
Zunächst fanden gemeinschaftliche Gottesdienste der Siener Juden in Privaträumen statt. Das Anliegen der Gemeindeangehörigen, ein eigenes Synagogengebäude zu haben, wurde seitens der Amtsbürgermeisters unterstützt, der 1839 schrieb: „ … Bisher hatten die Israeliten hier sich eine Stube gemiethet, wo sie ihre Andacht verrichteten, allein diese ist so klein, daß nicht mehr als die Hälfte der Glaubensgenossen wegen beschränkten Raumes dem Gottesdienst beiwohnen kann, zudem ist die Miethe aufgekündigt. Die Erbauung eines Gotteshauses für die Israeliten hier ist daher eine dringende Nothwendigkeit. Aus eigenen Mitteln den Bau zu vollführen, sind die Israeliten hier, da sie größtentheils arm sind, außer Stande und wäre daher eine Unterstützung für solche wünschenswerth.“ (zitiert nach: Eckhoff, Die ehemalige jüdische Gemeinde Sien. Spuren und Erinnerungen, 2.Aufl., Sien 1999)
Um 1850 wurde eine kleine Synagoge errichtet. Die neue Synagoge war ein bescheidenes Gebäude aus Sandstein mit einem schiefergedeckten Dach; eine Holztreppe neben dem Eingangsportal führte zur Frauenempore.
Synagogengebäude in Sien (hist. Aufn., aus: sien.de) Portalinschrift* (Skizze Ruth Eckhoff)
*Portalinschrift lautet: „Dies ist das Tor zum Ewigen, Gerechte treten durch es hinein."
Gottesdienste konnten nicht regelmäßig abgehalten werden, da die Zahl der religionsmündigen Männer oft nicht ausreichte; nur am Sabbat und allen Festtagen sollen hier - unter Teilnahme der wenigen Juden aus Oberreidenbach und Sienhachenbach - Gottesdienste stattgefunden haben; eine Synagogenordnung liegt aus dem Jahre 1874 vor. Als nach 1900 die Zahl der Gemeindeangehörigen immer mehr zurückging, wurde die Synagoge in Sien kaum noch genutzt; wenige Jahre später war jeglicher Gottesdienst eingestellt worden.
aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 23. Juni 1887
Die jüdischen Kinder Siens nahmen am Unterricht der lokalen evangelischen Volksschule teil; Religionsunterricht erteilte unregelmäßig ein jüdischer Lehrer.
Zu den Einrichtungen der jüdischen Gemeinde von Sien gehörten neben einer Mikwe auch der weit außerhalb des Dorfes, am „Oberen Jungewald“ gelegene kleine Friedhof; der älteste der noch ca. 50 vorhandenen Grabsteine auf dem ca. 600 m² großen Gelände stammt aus dem ausgehenden 18.Jahrhundert.
Jüdischer Friedhof in Sien (Aufn. Otmar Frühauf, 2008)
Zur jüdischen Gemeinde Sien zählten zeitweise auch die Juden aus Sienhachenbach, Oberreidenbach und Hundsbach.
Juden in Sien:
--- um 1760/70 ..................... ca. 5 - 10 jüdische Familien,
--- 1808 ........................... 42 Juden,
........................... 65 " ,*
--- 1828 ........................... 51 “ ,
--- 1834 ........................... 66 “ ,
--- 1843 ........................... 71 “ ,
........................... 203 “ ,* * Bürgermeisterei Sien
--- 1852 ........................... 72 “ (ca. 13% d. Dorfbev.),
--- 1865 ........................... 165 “ ,*
--- 1895 ........................... 36 “ ,
--- 1925 ........................... 10 “ ,
--- 1941 ........................... 6 “ ,
--- 1942 (Dez.) .................... keine.
Angaben aus: Ruth u. Ulrich Eckhoff, Die ehemalige jüdische Gemeinde Sien - Spuren und Erinnerungen, S. 52
Alle um 1820/1850 hier lebenden Juden waren Mitglieder von vier kinderreichen Familien, die ihren bescheidenen Lebenserwerb als Tagelöhner, Viehhändler/Metzger und Krämer bestritten. Die meisten wohnten in einer Gasse nahe der Kirche, die im Volksmund „Judengasse“ genannt wurde. Nach 1850 ging der jüdische Bevölkerungsanteil Siens deutlich zurück; mangelnde Erwerbsmöglichkeiten auf dem Lande und bessere wirtschaftliche Perspektiven in den Städten waren die Ursache für die Abwanderung.
Zu Beginn der NS-Zeit lebten nur noch sehr wenige jüdische Bewohner in Sien. Auf Grund der über viele Jahre gewachsenen persönlichen Beziehungen zwischen jüdischen und christlichen Dorfbewohnern kam es in den ersten Jahren der NS-Diktatur in Sien zu keinen antijüdischen Ausschreitungen.
1935 ging das Synagogengebäude im Zuge einer Zwangsversteigerung an die Kommune über, die es bald in private Hände übergab. Nach Umbaumaßnahmen wurde es als Wohnhaus genutzt; deswegen blieb das Gebäude während der Novembertage von 1938 auch unzerstört. Hingegen kam es in Sien beim Pogrom zu Ausschreitungen gegen jüdische Einwohner und deren Eigentum; mehrere von auswärts kommende SA-Angehörige sollen dafür verantwortlich gewesen sein. Auch der jüdische Friedhof soll damals verwüstet worden sein. Im Laufe des Jahres 1942 wurden die letzten sechs jüdischen Bewohner Siens deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind 15 aus Sien stammende bzw. längere Zeit hier ansässig gewesene jüdische Bewohner der Shoa zum Opfer gefallen (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/sien_synagoge.htm).
An dem zu einem Wohnhaus umgebauten ehemaligen Synagogengebäude ist eine kleine Informationstafel angebracht, die das ursprüngliche Aussehen des Hauses in einer historischen Fotografie zeigt.
Aufn. Otmar Frühauf, 2008
Im nahen Dörfchen Hundsbach - heute ein Teil der Verbandsgemeinde Meisenheim - war eine jüdische Gemeinde beheimatet, die trotz ihrer geringen Angehörigenzahl auch über ein bescheidenes Synagogengebäude in der Untergasse verfügte; in ihr versammelten sich neben den Hundsbacher Juden auch die aus den Nachbarorten Bärweiler, Becherbach, Löllbach und Schweinschied.
Ehem. Synagoge in Hundsbach (links: Aufn. um 1985, Landesamt – rechts: Aufn. Otmar Frühauf, 2008)
aus: "Der Israelit" 1887/1902
Der Hundsbacher Synagogenverband gehörte dem Rabbinatsverband Meisenheim an. Den Gemeindeangehörigen stand seit Ende des 17. Jahrhunderts ein östlich des Dorfes gelegener ‚Judenkirchhof’ zur Verfügung. Nach 1900 suchten die wenigen Hundsbacher Juden an Feiertagen die Siener Synagoge auf.
Auf dem ca. 1.200 m² großen Friedhofsareal sind etwa 50 Grabsteine - allerdings stark verwittert - erhalten geblieben.
Jüdischer Friedhof in Hundsbach (Aufn. Otmar Frühauf, 2008)
Das ehemalige Synagogengebäude, das nach dem Krieg als Lagerhaus verwendet und dann unter Denkmalschutz gestellt wurde, erfuhr in den 1990er Jahren eine Restaurierung (siehe Abb. oben rechts); es dient heute als Wohnhaus.
Weitere Informationen:
Willy Franz, Menschen unserer Heimat. Juden an der Nahe, in: "Heimatkalender: Beiträge zur Geschichte und Gegenwart des Landes an der oberen Nahe", Idar-Oberstein 1956, S. 85 ff.
Erich Gemmel, Festschrift zur 1000-Jahrfeier der Gemeinde Sien, Sien 1970
Axel Redmer, Das Ende der Synagogen - vergessene Gebäude an der oberen Nahe, in: "Mitteilungen des Vereins für Heimatkunde im Landkreis Birkenfeld und der Heimatfreunde Oberstein", No. 62/1988, S. 137 - 149
Axel Redmer, Staatenlos und vogelfrei. Widerstand, Verweigerung und Verfolgung von Menschen aus dem Bereich der oberen Nahe 1933 bis 1945, 1. Teil: Die Ausgebürgerten, Birkenfeld 1993
Dokumentation jüdische Grabstätten im Kreis Bad Kreuznach. Geschichte und Gestaltung, in: "Heimatkundliche Schriftenreihe des Landkreises Bad Kreuznach", Band 28/1995, S. 225 – 236
Hans-Werner Ziemer, Die jüdischen Familien in Becherbach bei Kirn und Hundsbach, in: "SACHOR - Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz", 5. Jg., Ausgabe 2/1995 Heft 10
Ruth u. Ulrich Eckhoff, Die ehemalige jüdische Gemeinde Sien. Spuren und Erinnerungen, 2.Aufl., Sien 1999
Stefan Fischbach/Ingrid Westerhoff (Bearb.), “ ... und dies ist die Pforte des Himmels “. Synagogen. Rheinland-Pfalz Saarland, Hrg. Landesamt für Denkmalpflege, Mainz 2005, S. 192/193 (Hundsbach) und S. 343 (Sien)
Sien mit Oberreidenbach und Sienhachenbach, in: alemannia-judaica.de
Hundsbach mit Löllbach, Schweinschied und Bärweiler, in: alemannia-judaica.de
Reiner Schmitt, Gedenkbuch - Die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung aus den Orten des Birkenfelder Landes 1933 - 1945 (Abentheuer, Baumholder, Birkenfeld, Bosen, Gonnesweiler, Grumbach, Hoppstädten, Hottenbach, Idar-Oberstein, Nahbollenbach, Niedereisenbach, Oberreidenbach, Offenbach, Rhaunen, Ruthweiler, Sensweiler, Sien, Sötern, Stipshausen, Thallichtenberg, Weierbach), o.O. 2011