Steinach/Saale (Unterfranken/Bayern)
Steinach a.d.Fränkischen Saale mit derzeit ca. 1.000 Einwohnern ist heute einer der größten Ortsteile des Marktes Bad Bocklet im Kreis Bad Kissingen - etwa 15 Kilometer nördlich der Kreisstadt gelegen (topografische Karte Lencer, 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0 und Kartenskizze 'Landkreis Bad Kissingen', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts machte der jüdische Bevölkerungsanteil in Steinach zeitweise nahezu 20% aus.
Im Zuge der sog. „Armleder-Verfolgungen“ 1336/1337 werden erstmals jüdische Einwohner in Steinach erwähnt; in diesen Jahren soll die dortige mittelalterliche Gemeinde vernichtet worden sein.
Zu den gemeindlichen Einrichtungen der nach dem Dreißigjährigen Kriege entstandenen neuzeitlichen israelitischen Gemeinde Steinach zählten neben einer um 1675 erbauten Synagoge auch ein Schulhaus mit Lehrerwohnung und eine Mikwe. 1852 wurde das alte Synagogengebäude abgebrochen, um einem Neubau Platz zu machen. Zur Finanzierung des Bauvorhabens sollte eine Kollekte beitragen, die amtlich genehmigt werden musste, wie die folgende Anzeige im "Königlich Bayerischen Intelligenz-Blatt für Mittelfranken" vom 21. Dezember 1850 zeigt:
Eine jüdische Schule soll in Steinach bis Anfang der 1920er Jahre bestanden haben.
aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 17. Mai 1923
Bis ins 20.Jahrhundert hinein galt die jüdische Gemeinde in Steinach als „streng thoratreu“. So waren z.B. „die Erwachsenen verpflichtet, zweimal jährlich als Fasttag den Jom Kippur katan (kleiner Versöhnungstag) zu begehen, und zwar jeweils am Tage vor den jüdischen Monaten Nissan (im Frühjahr) und Ellul (im Herbst). Jeder, der diese Tage nicht mit Fasten und Gottesdienstbesuch verbrachte, wurde mit einer Geldbuße belegt.“ Noch 1935 (!) bat der Gemeindevorstand das Bezirksrabbinat, ihn bei der Einziehung noch ausstehender Geldbußen zu unterstützen.
Der gegen Mitte der 1870er Jahre angelegte jüdische Friedhof von Steinach lag in einiger Entfernung nördlich vom Dorfe in Richtung Unterebersbach; zuvor waren Verstorbene auf dem Bezirksfriedhof in Kleinbardorf beigesetzt worden.
Die Gemeinde Steinach unterstand um 1930 dem Bezirksrabbinat Kissingen.
Juden in Steinach:
--- 1699 ........................ 29 Juden,
--- 1713 ........................ 13 jüdische Familien,
--- 1748 ........................ 32 " " ,
--- 1803 ........................ 29 " " ,
--- 1816 ........................ 113 “ (in 32 Familien, ca. 18% d. Bevölk.),
--- 1848 .................... ca. 140 “ ,
--- 1869 ........................ 127 “ ,
--- 1880 ........................ 144 “ (ca. 19% d. Bevölk.),
--- 1910 ........................ 80 “ ,
--- 1925 ........................ 36 “ (ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1933 ........................ 39 “ ,
--- 1935 ........................ 36 “ ,
--- 1937 (Juni) ................. 24 “ ,
--- 1939 ........................ 13 “ ,
--- 1942 (Febr.) ................ 6 " ,
(Mai) .................. keine.
Angaben aus: Baruch Z.Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945, S. 404
und W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … - Synagogengedenkband Bayern, Teilband III/2.1: Unterfranken, S. 295
Bei der Erstellung der Matrikel (1817) waren für Steinach 24 jüdische Familienvorstände aufgelistet; als deren Erwerbstätigkeiten wurden vielfach „Viehhandel, Schlachten und Schmusen“ genannt.
Ende des 19.Jahrhunderts gehörten die jüdischen Bewohner Steinachs als Vieh- und Einzelhändler, vereinzelt auch als Handwerker zur „Mittelschicht“ des Dorfes. Zwischen jüdischen und christlichen Bewohnern soll es kein „wahrhaftes Gemeinschaftsgefühl“ gegeben haben. Dies mag auch daran gelegen haben, dass die jüdischen Kinder eine eigene Schule besuchten.
Gewerbliche Anzeigen aus den Jahren 1899 und 1904
Zu Beginn der NS-Zeit gab es in Steinach noch zwölf Gewerbebetriebe in jüdischem Besitz, davon allein sieben Viehhandlungen. Die antijüdische Politik des NS-Staates fand bei der Bevölkerung Steinachs nicht ungeteilte Zustimmung, traf sogar auf Ablehnung. Aus einem Bericht der Gendarmeriestation Steinach vom 28.Juni 1934:
„ ... Ein sehr großer Teil der Volksgenossen hat das Judenproblem noch nicht erfaßt, sie pflegen mit den Juden nach wie vor Umgang und betätigen bei diesen Einkäufe; letzteres kann man namentlich bei Eintritt der Dämmerung beobachten. Der Jude ist immer noch frech. Er scheut sich nicht im geringsten, den am schwarzen Brett zu Steinach a.d.Saale angeschlagenen ‘Stürmer’ zu studieren. ... Eine ganze Anzahl Volksgenossen trägt nach außen ein antisemitisches Verhalten zur Schau, in Wirklichkeit halten sie mit den Juden geschäftliche Beziehungen aufrecht. ...”
Anders als in den meisten anderen unterfränkischen Orten fanden in Steinach die antijüdischen „Demonstrationen“ des November 1938 erst zeitverzögert statt; vermutlich war zunächst die NSDAP-Ortsgruppe Steinach davor zurückgeschreckt, sich an jüdischen Einrichtungen bzw. Eigentum zu vergreifen, da sie die hiesige Bevölkerung nicht vollständig hinter sich wähnte. Doch in der Nacht auf den 11.November 1938 kam es auch hier zu Ausschreitungen, die erhebliche Sachschäden verursachten.
Aus dem Bericht der Gendarmeriestation Steinach vom 11.11.1938:
„ Aus Anlaß des Mordüberfalls in Paris fanden auch in Steinach a.d.Saale Vergeltungsaktionen gegen jüdisches Besitztum statt. In der Nacht vom 10. auf 11.November 1938 gegen 24 Uhr versammelten sich größere Menschenmengen vor den jüdischen Privatwohnungen in Steinach. Schlagartig begaben sich die empörten Ortsbürger in die Wohnungen der Juden Justin Straus, Max Leven und Moses Stern. nach dem Einschlagen der Haustüren verteilten sich die Gruppen in den einzelnen Räumen und zerstörten dort die Fensterscheiben, Beleuchtungskörper und einen großen Teil der Inneneinrichtung. ... Gleichzeitig mit den Aktionen in den Privatwohnungen wurde auch die Inneneinrichtung der Synagoge vollkommen zerstört. ...“
Bis 1941 hatten mehr als 30 jüdische Bewohner Steinach verlassen, die meisten konnten noch Übersee emigrieren. Die letzten sechs Einwohner israelitischen Glaubens wurden im Laufe des Jahres 1942 deportiert: vier ins ostpolnische Izcia b. Lublin und zwei nach Theresienstadt. Von den in den 1930er Jahren in Steinach lebenden jüdischen Bewohnern sind 13 deportiert/ermordet worden.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind insgesamt 34 gebürtige bzw. längere Zeit in Steinach ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer des Holocaust geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/steinach_synagoge.htm).
Auf dem in einem Waldstück gelegenen jüdischen Friedhof von Steinach - heute von einer Betonmauer umgeben - sind etwa 100 aufgereihte Grabsteine erhalten; die Friedhofsfläche umfasst ca. 900 m².
Friedhofsgelände (Aufn. Jürgen Hanke, aus: alemannia-judaica.de)
Das ehemalige Synagogengebäude wurde Anfang der 1950er Jahre abgerissen; auf dem Grundstück errichtete die Kommune die neue Volksschule. Eine 1988 angebrachte Tafel erinnert an die ursprüngliche Nutzung des Geländes: "An diesem Platz stand die Synagoge der jüdischen Gemeinde Steinach."
Ein Denkmal aus weißem Stein vor der Schule erinnert heute an die frühere Existenz von jüdischen Familien in Steinach; es trägt die Worte: "Zum Gedenken an die jüdischen Bürger unserer Gemeinde, die während der nationalistischen Herrschaft verfolgt wurden und im Jahre 1942 in die Vernichtungslager deportiert wurden. Den Toten zur Ehre, den Lebenden zur Mahnung" (Aufn. Thomas Beck, Bad Bocklet).
Der Prof.-Alex-Bein-Weg erinnert in Steinach an einen seiner bedeutendsten Söhne.
Alex Bein, der sich als Schriftsteller, Historiker und Archivar einen Namen machte, wurde am 21. Januar 1903 in Steinach geboren; sein Vater war Lehrer und Vorbeter der jüdischen Gemeinde. Nach dem Schulbesuch studierte er Geschichtswissenschaften in Erlangen und Berlin. Nach sechsjähriger Tätigkeit beim Deutschen Reichsarchiv Potsdam entschloss sich Alex Bein zur Emigration nach Palästina. Er wurde vor allem durch seine in zahlreiche Sprachen übersetzte Biographie Theodor Herzls, aber auch durch zahlreiche andere Werke bekannt. Sine Kindheitserinnerungen an Steinach legte Alex Bein in dem Band "Hier kannst Du nicht jeden grüßen" nieder. In Jerusalem fungierte Bein von 1956 bis 1971 als Leiter des Zentralen Zionistischen Archivs. Alex Bein verstarb 1988 in Stockholm.
Jüngst wurde auf Initiative des ‚Rhön-Club‘ die Existenz des ehemaligen hier verlaufenden „Judenweges“ (zwischen Steinach und Platz) ins Bewusstsein gerufen; dieser Weg wurde früher von jüdischen Viehhändlern benutzt, die u.a. mit den Bauern in Burkardroth, Wollbach und Zahlbach Geschäfte tätigten.
Auch die Marktgemeinde Bad Bocklet beteiligt sich am unterfränkischen Projekt „DenkOrt Deportationen 1941-1944“; die geschaffene Koffer-Skulptur soll an die sechs deportierten jüdischen Bewohner aus Steinach erinnern. Während ein Koffer auf der zentralen Gedenkstätte am Würzburger Hauptbahnhof sich befindet, ist dessen Doublette am Standort der früheren Synagoge von Steinach (heute steht dort die Grundschule) platziert.
Koffer-Skulptur von Steinach (Abb. aus: denkort-deportationen.de)
In Bad Bocklet gab es zu keiner Zeit eine jüdische Gemeinde; zeitweise lebten wenige Personen mosaischen Glaubens im "Königlichen Stahlbad". Doch kamen im Rahmen des Kurbetriebes auch jüdische Gäste hierher.
Anzeigen von 1877/1878
Weitere Informationen:
Martha Mittel, Anfang und Ende der jüdischen Gemeinde Steinach/Saale bei Bad Kissingen, unveröffentlichtes Manuskript New York 1976
Werner Eberth, Die sogenannte Reichskristallnacht vom 9./10.Nov. 1938 in Bad Kissingen, Steinach, Maßbach und Poppenlauer, in: „Quellenblätter Heimatkundliche Beilage der Saale-Zeitung für den Landkreis Bad Kissingen", No. 36 und No. 37 (Nov./Dez. 1978)
Baruch Z.Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945, Oldenbourg-Verlag, München 1979, S. 404 - 406
Monika Richarz (Hrg.), Jüdisches Leben in Deutschland, Band 2 - Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte im Kaiserreich, Stuttgart 1979, S. 190 - 200 (Julius Frank)
Herbert Schultheis, Juden in Mainfranken 1933 - 1945 unter besonderer Berücksichtigung der Deportationen Würzburger Juden, in: "Bad Neustädter Beiträge zur Geschichte und Heimatkunde Frankens", Band 1, Verlag Max Rötter, Bad Neustadt a.d.Saale 1980, S. 340 ff.
Israel Schwierz, Steinerne Zeugen jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 124
Alex Bein/Julius H. Schoeps, "Hier kannst Du nicht jeden grüßen" Erinnerungen und Betrachtungen, Georg Olms Verlag, Hildesheim 1996
Michael Trüger, Der jüdische Friedhof in Steinach, in: "Der Landesverband der Israelit. Kultusgemeinden in Bayern", No. 83/2000, S. 22
Trude Maurer, Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden: Beobachtungen zur Alltagsgeschichte Frankens, in: G.Och/H.Bobzin (Hrg.), Jüdisches Leben in Franken, Bibliotheca Academica, Geschichte, Bd. 1, Würzburg 2002, S. 157 f.
Elke Halbleib (Red.), Synagoge innen völlig zerstört, in: „Main-Post“ vom 7.11.2003
Steinach/Saale mit Bad Bocklet, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Klaus Gasseleder, Aus der Chronik einer jüdischen Familie, eines fränkischen Dorfes und eines Weltbades in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, o.O. 2005
Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg", Band 13, Würzburg 2008. S. 211/212
Lothar Mayer, Jüdische Friedhöfe in Unterfranken, Petersberg 2010, S. 176 − 179
Cornelia Berger-Dittscheid (Bearb.), Steinach an der Saale, in: W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … - Synagogengedenkband Bayern, Teilband III/2.1: Unterfranken, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2021, S. 274 - 301
Sigismund von Dobschütz (Red.), Koffer aus Steinach kommt zum DenkOrt Deportationen, in: „Saale-Zeitung“ vom 4.11.2021
Karin Voll. (Red.), Auf den Spuren des „Judenweges“, in: „Fränkischer Tag“ vom 4.3.2024