Steinheim/Main (Hessen)

Jüdische Gemeinde - Hanau/Main (Hessen) Main-Kinzig-Kreis Karte Bis zur Säkularisation (1803) gehörte Steinheim zum Kurfürstentum Mainz, danach fiel es an Hessen-Darmstadt. 1974 wurde Steinheim - entstanden aus den beiden Teilen Groß-Steinheim und Klein-Steinheim - der Stadt Hanau/Main im Main-Kinzig-Kreis eingemeindet (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Main-Kinzig-Kreis', aus: ortsdienst.de/hessen/main-kinzig-kreis).

Steinheim am Main - Stich von 1655 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

 

Während Groß-Steinheim bereits zu Beginn des 14.Jahrhunderts jüdische Bewohner besaß, kann in Klein-Steinheim erst ab dem Dreißigjährigen Krieg die Existenz von Juden nachgewiesen werden. Die in der "Judengasse" Groß-Steinheims lebenden Familien wurden vermutlich Opfer der Pestpogrome von 1348/1349; erst in den 1620er Jahren waren wieder wenige jüdische Familien im Orte ansässig. Dass Juden seit Jahrhunderten hier gelebt haben, dokumentiert ein alter israelitischer Friedhof, der vermutlich bereits im 14.Jahrhundert angelegt worden war; seit ca. 1895/1900 war ein neues Beerdigungsgelände in der Frankfurter Straße in Nutzung, nachdem der alte Friedhof wegen vollständiger Belegung geschlossen worden war.

Das relativ große 1899/1900 errichtete Synagogengebäude in der Kirchstraße - es ersetzte ein Bethaus am Neubrunnenplatz - wurde im Rahmen mehrtägiger Feierlichkeiten unter Teilnahme der christlichen Ortsbevölkerung eingeweiht. Das Bauvorhaben konnte auch dank einer Lotterie realisiert werden.

                                    

                        

                      Synagoge in Steinheim (hist. Aufn., um 1930), rechts: Rekonstruktionsskizze (aus: Altaras)

                  In ihrer Ausgabe vom 29.3.1900 berichtete die Zeitschrift „Der Israelit”:

Gr.-Steinheim, 26. März. Eine eben so seltene wie erhebende und in ihrem Verlauf gelungene Feier war es, die am Freitag, den 16. März l. J., hier begangen wurde. Galt es doch, den nach hartem Kampfe, großer Mühe und unter schweren Opfern errichteten Tempel seiner Bestimmung zu übergeben. Die Feier begann Nachmittags 3 1/2 Uhr mit einem Abschiedsgottesdienste in der alten Synagoge, wobei Herr Rabbiner Dr. Goldschmidt - Offenbach, eine allen zu Herzen gehende Abschiedspredigt hielt. Um 4 Uhr setzte sich der Festzug in Bewegung, durch die auf’s prächtigste geschmückten Straßen, unter Vorantritt der Feuerwehr, Schuljugend und Stadtkapelle, alsdann folgten Schlüsselträgerin und Ehrendamen, Thoraträger, Rabbiner und Lehrer, Behörden und Geistlichkeit, Gemeindevorstand, Deputationen sämtlicher hiesigen Vereine usw. Bei Ankunft an der neuen Synagoge wurde der Schlüssel dem Rabbiner übergeben, welcher die Pforten des Gotteshauses öffnete. Unter den Klängen der Musik begab sich der Festzug in die Synagoge, deren schönes Innere einen geradezu überwältigenden Eindruck auf die alle Räume füllende Menge hervorbrachte. Nach dem Chorgesang Mah tauwuh hielt Herr Dr. Goldschmidt eine meisterhafte Festpredigt, welche einen tiefen Eindruck auf alle Zuhörer macht. Alsdann folgte der Abendgottesdienst, welcher von unserm allverehrten und beliebten Kantor, Herrn Lehrer Oppenheimer und dem hiesigen Synagogenchor unter allgemeinem Beifall ausgeführt wurde. Auch von dem Gottesdienste am Samstag Morgen kann ich dasselbe berichten. Am Sonntag, den 18. März folgte die Einweihung des neuen Schulsaales. Um 3 Uhr Nachmittags zogen die Schüler vom Rathause nach dem neuen Schullokale in der neuen Synagoge, gefolgt von Rabbiner, Lehrer, Vorstand und den Gemeindemitgliedern und begleitet von einer großen Zahl der christlichen Mitbürger, unter den Klängen der Musik. Die Feier im neuen Schulzimmer begann mit dem Schülerchor "Danke dem Herrn", welcher von Herrn Lehrer Oppenheimer auf’s Beste eingeübt war, alsdann wurde von einer Schülerin ein sehr hübscher Prolog vorgetragen. Herr Rabbiner Dr. Goldschmidt sprach dann einige sehr schöne Worte, worauf der Synagogenchor einen Schluß-Choral vortrug. So endete diese schöne Feier, die allen ihren Theilnehmern noch lange im Gedächtniß haften wird, und die unserer Stadt in jeder Hinsicht zu Ehre gereicht."

Zur Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war ein Lehrer angestellt, der neben der religiösen Unterweisung der Kinder auch die Aufgaben des Vorbeters und Schächters zu versehen hatte.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20107/Grosssteinheim%20Israelit%2018101882.jpg

   Ausschreibungen der Lehrerstelle in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 18.10.1882, vom 25.11.1886 und vom 9.11.1893

Zur jüdischen Kultusgemeinde Steinheim gehörten auch die wenigen Familien aus Dietesheim, Hainstadt und Kleinauheim; um 1900 gehörten ihr etwa 120 Angehörige an.

Die Gemeinde gehörte zum Bezirksrabbinat Offenbach am Main.  

Juden in Steinheim/Main:

         --- 1828/30 ........................  38 Juden,

    --- 1861 ...........................  64   “   (4,5% d. Bevölk.),

    --- 1871 ...........................  66   “  ,

    --- 1880 ...........................  72   “  ,

    --- um 1900 .................... ca. 120   “  ,*    * Synagogengemeinde

    --- 1910 ...........................  79   “  ,

    --- 1925 ...........................  58   “  ,

    --- 1933 ...........................  48   “  ,

    --- 1939 ...........................  28   “  ,*

    --- 1942 (Dez.) ....................  keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 296

 

Wegen der zunehmenden Entrechtung verließ bereits in den ersten Jahren der NS-Herrschaft ein Teil der jüdischen Familien ihren Heimatort.

In der Pogromnacht vom November 1938 wurde die in der Kirchstraße gelegene Synagoge von SA-Angehörigen zunächst geplündert, anschließend die Inneneinrichtung zerstört; die Thorarollen wurden auf den Leichenwagen geladen und unter dem Gejohle der Zuschauer durch die Straßen gefahren und vor dem Dorf verbrannt. Wenige Monate später folgte der Zwangsverkauf des Synagogengebäudes.

Auch Wohnungen von jüdischen Familien waren Ziele der Gewalt, so auch die des letzten Kantors/Lehrers Oppenheimer, der aus seiner Wohnung vertrieben und danach in Frankfurt/M. lebte. Zusammen mit seiner Frau gelang ihm noch die Flucht aus Deutschland (nach Argentinien).

Die letzten 17 Gemeindeangehörigen wurden im September 1942 deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden  ..." sind 44 gebürtige bzw. längere Zeit in Steinheim ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer des Holocaust geworden; aus Dietesheim fielen acht, aus Klein-Auheim 20 und aus Hainstadt fünf  Juden der "Endlösung" zum Opfer (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/steinheim_synagoge.htm).

 

Seit 1980 erinnert eine Gedenktafel an die einstige jüdische Gemeinde Steinheims. An der Stelle des ehemaligen alten jüdischen Friedhofs im Süden Steinheims (Ecke Darmstädter Straße/Dalbergstraße) befindet sich heute eine Grünanlage; ein dort 2008 aufgestellter Gedenkstein trägt die Inschrift: „Zur Erinnerung an die älteste Begräbnisstätte der jüdischen Gemeinde in Steinheim, die bis zum Jahre 1892 genutzt und nach 1933 eingeebnet wurde.“ 2015 erfolgte die „symbolische Wiederherstellung“ des Steinheimer alten jüdischen Friedhofs, indem man das Gelände neu gestaltete und ein eisernes Tor, versehen mit zwei Davidsternen, anbrachte.

Auf dem noch bestehenden jüngeren jüdischen Friedhof - nördlich der Odenwaldstraße - sind mehrere Grabsteine der in den 1930er Jahren aufgelassenen alten Begräbnisstätte zu finden.

   

Jüdischer Friedhof in Steinheim (Aufn. L.,  2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0  und  Stadt Hanau)

 

Der jüdische Kaufmann Louis Meyer-Gerngroß stiftete seiner Heimatstadt das sog. „Friedensdenkmal“, das wenige Jahre vor Beginn des Ersten Weltkrieges auf dem Marktplatz aufgestellt worden war. Während der antijüdischen Ausschreitungen im November 1938 wurde es beschädigt und zwei Jahre später ganz niedergerissen. 20 Jahre nach Kriegsende richtete man es an gleicher Stelle wieder auf. 1980 wurde zur Erinnerung an die jüdischen NS-Opfer des Ortes eine Metallplatte eingearbeitet; diese trägt folgende Inschrift:

Das Friedensdenkmal stiftete 1911 Louis Meyer-Gerngross, ein jüdischer Bürger, seiner Vaterstadt. Die Steinheimer Jüdische Gemeinde begann im Jahre 1335. Sie endete mit der Hitlerzeit durch Mord und Vertreibung. Es starben damals aus Steinheim Mitglieder der Familien Herz, Mayer, Meyersohn, Oppenheim und Selig; aus Klein-Auheim Mitglieder der Familien Hirschmann, Lilie, Loeb und Ronsheim.

Wir ehren die Toten. Sie mahnen die Lebenden.

Das Friedensdenkmal gilt heute als Mahnmal, nachdem seit 1980 eine zusätzlich dort angebrachte Bronzetafel an die jüdischen Opfer aus Steinheim und Klein-Auheim erinnert, die während der NS-Zeit ums Leben kamen. Nach dem jüdischen Kaufmann Louis Meyer-Gerngroß ist eine Straße in Steinheim benannt. 

Ende 2011 wurden 14 sog. „Stolpersteine“ in die Gehwege Steinheimer Straßen verlegt; ein Jahr später folgten weitere neun Steine.

verlegt für Fam. Meyersohn, Darmstädter Str. undefinedundefinedundefined

Stolperstein Hermann Herz, 1, Steinheimer Vorstadt 1, Steinheim, Hanau, Main-Kinzig-Kreis.jpgStolperstein Emma Herz, 1, Steinheimer Vorstadt 1, Steinheim, Hanau, Main-Kinzig-Kreis.jpg Stolperstein Leopoldine Herz, 1, Steinheimer Vorstadt 9, Steinheim, Hanau, Main-Kinzig-Kreis.jpgStolperstein Alfred Herz, 1, Steinheimer Vorstadt 9, Steinheim, Hanau, Main-Kinzig-Kreis.jpgStolperstein Bertha Herz, 1, Steinheimer Vorstadt 9, Steinheim, Hanau, Main-Kinzig-Kreis.jpgStolperstein Friedrich Herz, 1, Steinheimer Vorstadt 9, Steinheim, Hanau, Main-Kinzig-Kreis.jpgfür Angehörige der Familie Herz (Aufn. G., 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

 

[vgl. Hanau (Hessen)]

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 296 – 298

Thea Altaras, Das jüdische Rituelle Tauchbad und: Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945? Teil II, Königstein/Ts. 1994, S. 137/138

Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945. Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt 1995, S. 212/ 213

Ernst Henke, Geschichte der Juden der Stadt Steinheim am Main. Unter Mitarbeit von Leo Mayer und Willi Walther, Hrg. Magistrat der Stadt Hanau, Cocon-Verlag, Hanau 2003

Steinheim am Main, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Leo Mayer, Die jüdische Gemeinde von Steinheim am Main (1320 - 1945) - mit den Orten Klein-Auheim, Hainstadt und Dietesheim, Selbstverlag, Hanau 2007

Erhard Bus, Jüdische Friedhöfe in Steinheim, in: Wolfgang Arnim Nagel-Stiftung, Magistrat der Stadt Hanau und Hanauer Geschichtsverein 1844 e.V. (Hrg.), Begraben – aber nicht vergessen, Hanau 2008

Erwin Diel (Red.), Messing des Anstoßes, in: op-online.de vom 24.4.2010 (betr. Verlegung von Stolpersteinen)

Christoph Süß (Red.), Bewegte Erinnerung. In Steinheim gibt es dank einer Bürgerinitiative die ersten Stolpersteine, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 26.10.2011

Steinheim, in: Vor dem Holocaust – Fotos zum jüdischen Alltagsleben in Hessen (einige personenbezogene Aufnahmen), online abrufbar unter: vor-dem-holocaust.de

Jan-Niklas Vierheller (Red.), Erinnern und Gedenken Steinheim, online abrufbar unter: erinnern-gedenken-steinheim.de

Auflistung der in Hanau/Steinheim verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Hanau