Steinsfurt (Baden-Württemberg)
Steinsfurt ist eine Ortschaft mit derzeit ca. 3.300 Einwohnern im Süden des Rhein-Neckar-Kreises - seit 1973 als größter Ortsteil nach Sinsheim eingemeindet – zwischen Heidelberg (im NW) und Heilbronn (im SO) gelegen (Kartenskizzen 'Rhein-Neckar-Kreis', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0 und 'Stadtgliederung von Sinsheim', NNW 2019, aus: wikipedia.prg, CC BY 2.0).
Die Geschichte der jüdischen Gemeinde Steinsfurt ist im wesentlichen die der Familie Weil.
Nach dem Dreißigjährigen Krieg waren zunächst sehr wenige Juden in Steinsfurt ansässig; sie standen unter dem Schutz des Klosters und späteren Stifts Sinsheim. Das älteste Zeugnis jüdischer Existenz in Steinsfurt stammt aus dem Jahre 1688 mit der Nennung von Isaak Wolf; mit ihm soll die Geschichte der Juden in der Stadt begonnen haben. Erst nach Mitte des 18.Jahrhunderts bildete sich - durch den Zuzug der drei Gebrüder Weil - langsam eine kleine Gemeinde heraus, deren Angehörige sich zunächst der Nachbargemeinde in Rohrbach angeschlossen hatten. Im 19.Jahrhundert verfügte man über einen Betraum im Hause von Leopold Weil in der damaligen Ehrstädter Straße (heute Lerchenneststraße). Ein eigenes Synagogengebäude wurde 1894 in der Adersbacher Straße (heute Dickwaldstraße) in Nutzung genommen, nachdem das dafür notwendige Baukapital durch Schenkungen und Stiftungen aufgebracht worden war.
Bauskizzen der Synagoge Steinsfurt
Von der Einweihungsfeier berichtete „Der Landbote” am 16.Juli 1894:
Freitag der 13.Juli war für die isr. Gemeinde Steinsfurth ein schöner, festlicher, bedeutungsvoller Tag, galt es ja an diesem Tage die neue Synagoge feierlich einzuweihen und dieses neu entstandene Werk unter Gottes Segen zu befehlen. Wohl gefügt in geschmackvoller Form steht das äußere Werk da und lobt seinen Meister. Auch die zweckmäßige innere Einrichtung, die wohlgeordneten inneren Räume, die herrliche Beleuchtung, vorzüglich aber der von dem Frauenverein gestiftete kunstvoll gefertigte Vorhang fanden gerechte Anerkennung in den Augen eines jeden Besuchers. Der eigentliche Weiheakt, welcher zu vollziehen der allverehrte als vorzüglicher Redner bekannte Herr Bezirksrabbiner Dr. Sondheimer berufen war, verlief genau nach dem Programm, ohne die geringste Störung und in musterhafter Ordnung. Ein imposanter Festzug, die Thorarollen, welche aus der alten Synagoge abgeholt wurden, in der Mitte, bewegte sich unter den ersten Klängen der Musik durch die festlich geschmückten Straßen des freundlichen Dorfes. ... Aber der Raum des Gotteshauses war viel zu klein, um die ungemein große Zahl der Festteilnehmer zu fassen. ... Nach Beendigung des gottesdienstlichen Teiles verließ die Versammlung in geordneter Weise das Gotteshaus. Die Festteilnehmer begaben sich dann in die bestimmten Lokalitäten, wo den vortrefflichen Speisen und Getränken wacker zugesprochen wurde. Ein gemütliches Tänzchen beschloß diesen herrlichen Festtag.
Synagoge in Steinsfurt: Ausschnitt einer hist. Postkarte (Sammlung J. Hahn) und (hist. Aufn., Archiv Waibstadt)
Auch eine Mikwe stand den Gemeindeangehörigen zur Verfügung; so hieß es in einem Bericht:aus dem Jahre 1822 „ Dahier in Steinsfurth befinden sich 2 solcher Bäder; das eine bey Samuel Löw Weil das andere bey Moises Feis Weil, welche von sämtlichen Judenfrauen dahier gebraucht werden.".
Zur Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war ein Lehrer in Anstellung.
Zeitungsnotiz aus dem Jahre 1850
Die wenigen jüdischen Kinder besuchten jeweils zwei Jahre die evangelische und katholische Volksschule; Religionsunterricht erteilte ein eigener Lehrer.
Verstorbene Gemeindeangehörige wurden auf dem jüdischen Bezirksfriedhof in Waibstadt beerdigt; seit Ende des 19.Jahrhunderts diente auch der Sinsheimer Friedhof als Ruhestätte.
Seit 1827 gehörte die Steinsfurter Judenschaft dem Rabbinatsbezirk Sinsheim an.
Juden in Steinsfurt:
--- um 1575 ........................ eine jüdische Familie,
--- um 1660 ........................ keine
--- 1803 ........................... 4 jüdische Familien,
--- 1825 ........................... 35 Juden,
--- 1836 ........................... 45 " ,
--- 1864 ........................... 62 " ,
--- 1875 ........................... 80 “ ,
--- 1885 ........................... 58 " ,
--- 1900 ........................... 61 “ ,
--- 1910 ........................... 55 " ,
--- 1925 ........................... 36 “ ,
--- 1933 ........................... 32 “ ,
--- 1940 (Dez.) .................... keine.
Angaben aus: Hans Appenzeller, Die jüdische Gemeinde Steinsfurt: Geschichte der Familie Weil, S. 7
und Wilhelm Bauer, Die ehem. jüdische Gemeinde Sinsheim, Sinsheimer Hefte 1995, Statistik
Die wenigen jüdischen Familien Steinfurts lebten um 1900 vom Handel mit Vieh, Landesprodukten und Landwirtschaftsbedarf; später betätigten sich auch einige im Holz- und Baustoffhandel und in der Landwirtschaft.
Nach ihrer Auswanderung nach Argentinien um 1885 gründeten die Gebrüder Weil in Buenos Aires eine Getreide-Exportfirma, die weltweit agierte und mehrere tausend Mitarbeiter beschäftigte. Nach 1910 kehrten die Brüder wieder nach Deutschland zurück. Dr. Hermann Weil engagierte sich hier in der Wirtschaftspolitik des Reiches. Nach dem Ersten Weltkrieg baute er seine Wirtschaftsbeziehungen ins Ausland noch aus. Einen Teil seines gewaltigen Vermögens setzte Dr. Weil für soziale, humanitäre und wissenschaftliche Zwecke ein; für letztere ehrte ihn die Stadt Frankfurt mit der Ehrenbürger-, die Universität mit der Ehrendoktorwürde.
In Waibstadt ließ Hermann Weil unmittelbar neben dem jüdischen Friedhof ein Mausoleum errichten (fertiggestellt 1927).
Jüdischer Friedhof in Waibstadt (Aufn. aus: schiedt.org, 2011) - Mausoleum der Fam. Weil (Aufn. P. Schmelzle, 2009)
Unter dem Druck des NS-Regimes verließen nach 1936 auch weitere Mitglieder der Familie Weil ihre Heimat Steinsfurt, um in Übersee eine neue Existenz aufzubauen. Einen Monat vor dem Novemberpogrom wurde das Synagogengrundstück verkauft; deshalb überstand das Gebäude die Novembertage 1938. Zu Gewalttaten gegen Juden in Steinsfurt soll es während der „Kristallnacht“ nicht gekommen sein. Der letzte jüdische Bewohner verließ Steinsfurt Anfang 1940.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind vier aus Steinfurt stammende Jüdinnen (sie waren inzwischen in andere Orte verzogen und dann von dort deportiert worden) Opfer des Holocaust geworden (namentliche Nennung der betreffenden Personen siehe: alemannia-judaica.de).
Die Ortschaft Steinsfurt hat zum Gedenken an Dr. Hermann Weil eine Gedenktafel an der von ihm 1923/1924 gestifteten „Fortbildungsschule“ anbringen lassen.
Das ehemalige Synagogengebäude, das nach demVerkauf an einen Nachbarn (Okt.1938) und von Ausschreitungen während des Novemberpogroms fast unbeschädigt blieb, wurde danach als Lagerhalle bzw. Werkstatt genutzt; dessen ursprüngliche Struktur blieb aber weitestgehend erhalten.
Am ehemaligen Synagogengebäude befindet sich eine Informationstafel, die folgende Worte trägt:
SYNAGOGE
Von der Israelischen Gemeinde Steinsfurt 1893 erbaut, diente die Synagoge bis zur Aufhebung dieser Gemeinschaft im Jahre 1936 als jüdisches Gotteshaus.
Seit 1937 in Privatbesitz.
In den 1990er Jahren gründete sich der Verein „Ehemalige Synagoge Steinsfurt e.V.”, der das einstige Synagogengebäude der Nachwelt erhalten will; mit der Restaurierung wurde 2007/2008 begonnen, viele Arbeiten wurden dabei in Eigenleistung erbracht. Im Innern sind die originale Gestaltung von Wänden und Decken sowie der Vorhang am Thora-Schrein erhalten geblieben.
Ehemalige Synagoge (Aufn. J. Hahn, 2012 und GFreihalter, 2010, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 3.0)
Schüler/innen der Realschule Waibstadt haben 2001 eine Bilddokumentation zur Synagoge Steinsfurt zusammengestellt; ebenfalls wurde ein Modell des Gebäudes geschaffen.
Modell der Synagoge (Schülerarbeit RS Waibstadt)
Durch die Kooperation von vier Schulen entstand ein 2008 editierter Kalender unter dem Titel „Spuren jüdischer Kultur im Kraichgau“; dessen Verkaufserlös wurde der Sanierung der ehemaligen Synagoge Steinsfurt zugedacht.
Zehn Jahre später erscheint erneut ein Kalender unter dem fast identischen Titel „Kraichgau – Spuren jüdischen Lebens“, in dem Zeugnisse des Judentums in der Region gezeigt und erläutert werden - so u.a. Orte wie Eppingen, Flehingen, Heinsheim, Meckesheim, Neidenstein, Mingolsheim, Sinsheim und Wiesloch.
Mit Unterstützung der „Denkmalstiftung Baden-Württemberg“ konnte die Innensanierung der Synagoge in Steinsfurt mit ihrer historischen Wandbemalung realisiert werden.
Innenraum der ehem. Synagoge (Aufn. P. Schmelzle, 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Mit Hilfe von jüngst durchgeführten Recherchen von Schülern des Wilhelmi Gymnasiums Sinsheim über Personen, die während der NS-Zeit Verfolgungen ausgesetzt waren, sollen künftig in den Gehwegen vor deren letzten Wohnsitzen in der Kreisstadt sog. „Stolpersteine“ verlegt werden.
Auf dem Gelände nahe der ehemaligen Synagoge wurde 2018 ein Gedenkplatz eingeweiht, der den Opfern des NS-Regimes gewidmet ist.
Weitere Informationen:
F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Band 19, Stuttgart 1968, S. 264
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988
Wilhelm Bauer, Die ehemalige jüdische Gemeinde Sinsheim, in: "Sinsheimer Hefte", 1995
Hans Appenzeller, Die jüdische Gemeinde Steinsfurt: Geschichte der Familie Weil, in: Ortschronik Steinsfurt, Band III, Hrg. Stadt Sinsheim, überarb. Auflage 2002 (Erstauflage Sinsheim 1989)
Realschule Waibstadt, Die ehemalige Synagoge in Steinsfurt bei Sinsheim, 2002 (online abrufbar)
Steinsfurt, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Text- u. zahlreichen Bilddokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 453 - 455
Informationen vom Verein „Ehemalige Synagoge Steinsfurt e.V.”, 74889 Sinsheim-Steinsfurt, Lochbrunnenstr. 2 (2007)
Alte Synagoge Steinsfurt – Internetpräsentation des Vereins „Ehemalige Synagoge Steinsfurt e.V.“, in: synagoge-steinsfurt.org
Claudia Baer-Schneider (Bearb.), Was kann man mit einer ehemaligen Synagoge anfangen? – Drei Beispiele im Rhein-Neckar-Kreis: Die ehemaligen Synagogen in Ehrstädt, Rohrbach und Steinsfurt (Stadt Sinsheim), in: "Denkmalpflege in Baden-Württemberg, Nachrichtenblatt der Landesdenkmalpflege", 38. Jg., Heft 2/2009, S. 100 - 105
Silke und Ralph Böttcher (Bearb.), Zur Erhaltung von Synagogenbauten im Stadtgebiet Sinsheim. in: "Kraichgau. Beiträge zur Landschafts- und Heimatforschung", Folge 21/2009, Heimatverein Kraichgau,, Eppingen 2009, S. 253 – 262
Christiane Twiehaus, Synagogen im Großherzogtum Baden (1806 - 1918). Eine Untersuchung zu ihrer Rezeption in den öffentlichen Medien, in: "Schriften der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg". Heidelberg 2012, S. 36 - 38
Sinsheim-Steinsfurt: Wandbemalung der alten Synagoge wird restauriert, in: „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 8.5.2015
N.N. (Red.), Steinsfurt erhält einen Gedenkplatz für die NS-Opfer, in: „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 10.11.2016
Verein „Alte Synagoge e.V. - Mahnmal des Friedens“ (Hrg.), Alte Synagoge Steinsfurt, online abrufbar unter: synagogue-steinsfurt.org/de/
mb (Red.), Sinsheim-Steinsfurt. Alte Synagoge soll ein Mahnmal des Friedens sein, in: „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 25.5.2018
Tim Kegel (Red.), Alte Synagoge ist ein Schmuckstück der Erinnerungskultur, in: „Rhein-Neckar-Zeitung“ vom 11.7.2019
Stolperstein-Projekt der "denkmal-aktiv AG" des Wilhelmi Gymnasium Sinsheim (Homepage in Vorbereitung)
N.N.(Red.), Alte Synagoge Steinsfurt: Ein Ort der Erinnerung und des Friedens, in: jack-news.de vom 28.2.2024