Stettin (Pommern)

Datei:Stettin und Umgebung 1905.jpg – WikipediaEnglish: Szczecin in Poland Polski: Szczecin Die an der Odermündung gelegene Stadt Stettin ist das heutige polnische Szczecin, Hauptstadt des polnischen Verwaltungsbezirkes Westpommern mit derzeit ca. 400.000 Einwohnern (Ausschnitte aus hist. Landkarte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Polen' mit Szczecin rot markiert, G. 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Das seit 1243 mit dem Magdeburger Recht belehnte Stettin stand unter der Herrschaft der pommerschen Herzöge; Mitte des 13.Jahrhunderts ließen sich erstmals Juden in Stettin nieder; ihre Zahl ist unbekannt. Bis Mitte des 14.Jahrhunderts waren die Juden den christlichen Bürgern gleichgestellt. In der Pestzeit 1348/1349 wurde die jüdische Bevölkerungsgruppe vertrieben.

Seit dem 15.Jahrhundert lassen sich erneut jüdische Familien in Stettin nachweisen; allerdings war deren Aufenthalt nicht dauerhaft.

Ansiedlung vermögender Juden wurde seitens der preußischen Behörden im 18.Jahrhundert gefördert, doch galt ein Verbot der Niederlassung in sog. Festungsstädten, so auch in Stettin. Nur ein einziger Jude besaß um 1690 ein Wohnrecht in der Stadt. Andere durften sich nur mit einem Passierschein tagsüber in der Stadt aufhalten. In den 1770er Jahren sind nur drei jüdische Personen in den Stadtbüchern verzeichnet. Bis Anfang des 19.Jahrhunderts kam es nicht mehr zu nennenswerten Ansiedlungen von jüdischen Familien in der Hauptstadt Pommerns.

Stettin um 1860 - Zeichnung von Chr. Adolf Eltzner (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Erst nach dem Erlass des preußischen „Judenedikts“ von 1812 zogen Juden wieder nach Stettin. 1816 gründeten 18 ansässige Juden hier eine Gemeinde, die sich zunächst „Jüdische Kirchengesellschaft”, ab 1840 dann „Israelische Gemeinde” nannte. Ihr erster Rabbiner wurde Dr. Wolf Aloys Meisel.

Die 1834/1835 erbaute Synagoge - ein Holzbau - lag an der Grünen Schanze, am Rosengarten. Danach wurde auch eine jüdische Schule eröffnet, die als allgemeinbildende Religionsschule angelegt war; es war die erste dieser Art in Vorpommern.

Das Wachstum der jüdischen Bevölkerung Stettins machte in den 1870er Jahren einen Synagogenneubau notwendig; dieser wurde an der Stelle des alten, inzwischen abgerissenen Bethauses errichtet. Der große, mit einer Fassade im maurischen Stil gestaltete Neubau wurde nach zweijähriger Bauzeit 1875 eingeweiht und wies etwa 900 Männer- und etwa 750 Frauenplätze auf; er war damit der größte Synagogenbau Pommerns. Den Weihegottesdienst leitete Rabbiner Abraham Treuenfels in Anwesenheit der Honoratioren der Stadt und Vertretern der evangelischen Kirche.

 

Synagoge an der Grünen Schanze und Innenraum mit Blick auf die Orgel (hist. Aufn., aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

HVogel.png Von 1880 bis zu seinem Tode (1911) war Dr. Heinemann Vogelstein (geb. 1841 in Lage/Lippe ) Rabbiner der Stettiner Kultusgemeinde. Nach einem Studium an der Universität Breslau und dem dortigen Jüdisch-Theologischen Seminar kam er 1868 nach Pilsen; nach mehr als zehn Jahren wechselte er nach Stettin und galt dort als anerkannter Verfechter der religiös-liberalen Richtung im Judentum und Gegner der zionistischen Bewegung. Dr. Heinemann Vogelstein verstarb während einer Reise in St. Moritz/Schweiz

Seine Nachfolger im Rabbineramt Stettins waren Max Wiener (1912-1926), Max Elk (1926- 1935), K. Richter (1936-1938) und als letzter H.Finkelscherer, der bis zu seiner Deportation (1940) die Gemeinde führte.

Seit etwa 1850 existierte in Stettin auch ein jüdisches Waisenhaus und Altersheim.

Bis in die 1890er Jahre andauernde Auseinandersetzungen zwischen liberalen und orthodoxen Gemeindeangehörigen hatten bereits zuvor zu einer Abspaltung der Orthodoxen geführt, die eine kleine „Adass-Jisroel-Gemeinde“ gebildet hatten; diese verfügte über einen eigenen Rabbiner und eine eigene Schule. Allerdings gehörten sie weiterhin der Einheitsgemeinde an.

Wie in anderen Synagogengemeinden war auch in Stettin die Einrichtung eines Friedhofs die erste sozial-religiöse Einrichtung gewesen. Zunächst hatten die Stettiner Juden ihre Verstorbenen im 20 Kilometer entfernt gelegenen Greifenhagen (poln. Gryfin) bestattet. Um 1820 wurde ihnen ein eigener Begräbnisplatz in der Bethanienstraße zugewiesen; zeitgleich gründete sich eine Beerdigungsbruderschaft. Jahrzehnte später wurde das Friedhofsgelände dann mehrfach erweitert, so dass es schließlich eine Fläche von zehn Hektar einnahm.

Zur Stettiner Gemeinde gehörten anfänglich auch die Juden des Kreises Randow.

Juden in Stettin:

         --- 1816 ...........................    16 jüdische Familien,

    --- 1819 ...........................   126 Juden,

    --- 1831 ....................... ca.   250   “  (ca. 1% d. Bevölk.),

    --- 1840 ...........................   381   "  ,

    --- 1843 ...........................   519   “  ,

    --- 1852 ...........................   901   “  ,

    --- 1861 ........................... 1.438   “  ,

    --- 1870 ....................... ca. 1.800   “  (ca. 2,5% d. Bevölk.),

    --- 1880 ....................... ca. 2.300   “  ,

    --- 1895 ........................... 2.850   “  ,

    --- 1909 ....................... ca. 3.000   “  ,

    --- 1927/28 .................... ca. 2.800   “  ,

    --- 1933 ....................... ca. 2.500   “  ,

    --- 1934 ....................... ca. 2.300   “  ,

    --- 1937 (Jan.) ................ ca. 1.950   "  ,

    --- 1940 ....................... ca.   850   “  ,

    --- 1942 (Nov.) ....................    79   “  .

Angaben aus: Wolfgang Wilhelmus, Juden in Vorpommern, S. 99 f.

 

Eine antijüdische Hetzkampagne, die zu Gewalttaten gegenüber der jüdischen Bevölkerung führte, erreichte in Pommern ihren Höhepunkt im August 1881; auch in Stettin kam es zu pogromartigen Unruhen, die erst nach massivem Polizei- und Militäreinsatz unterbunden werden konnten. Der Hofprediger Stöcker und der Antisemit Ernst Henrici hatten die „tumultarischen Kundgebungen gegen die Juden” zu verantworten.

File:Königsplatz mit Stadttheater in Stettin.djvu

Hansabrücke in Stettin  und  Königsplatz, um 1900 (hist. Aufn./Postkarte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

 

Bereits wenige Wochen nach der NS-Machtübernahme 1933 wurden jüdische Geschäftsleute Stettins verhaftet und in das pommersche Konzentrationslager, das sog. „Vulcan-Lager” auf dem Gelände der stillgelegten Stettiner Vulcanwerft, gebracht; hier wurden sie drangsaliert, Geld von ihnen erpresst und einige zu Krüppeln geschlagen. Im Sommer 1933 ließ die Gestapo eine Liste von jüdischen Organisationen und Sportclubs mit den Namen ihrer Vorstandsmitglieder anfertigen, die eine effektivere Überwachung ermöglichen sollte. Die „Pommersche Zeitung” trug durch ihre Hetzartikel wesentlich zur antijüdischen Stimmung bei.

Im Sommer 1935 kam es - in Vorbereitung der Nürnberger Rassegesetze - verstärkt zu Demonstrationen gegen Geschäfte jüdischer Inhaber; eine Beschwerde der Stettiner jüdischen Kaufleute an den Reichswirtschaftsminister beantwortete die lokale NSDAP mit einer Massenkundgebung, die wiederum Schmierereien an jüdischen Geschäften nach sich zog. Die „Pommersche Zeitung” nahm die „ungeheuerliche jüdische Provokation” zum Anlass, ihre antisemitischen Hetztiraden noch zu steigern.

Hinweis: Eine Auflistung aller jüdischen Geschäfte in Stettin erschien in der Ausgabe der „Pommerschen Zeitung“ vom 13.11.1938

                 Im Jahresbericht von 1937 des SD hieß es u.a.:

„ ... Die Stimmung in der Bevölkerung über die Judenfrage ist sehr verschieden. Allgemein wurde festgestellt, daß die Landbevölkerung zu wenig über die Judenfrage aufgeklärt ist und deshalb sie nicht ernst zu nehmen gewillt ist. ..., die Landbevölkerung den Juden wirtschaftlich unterstützt, sei es wegen der günstigen Abzahlungsbedingungen oder aus alter Gewohnheit. Die Zahl der Juden ist durch Ab- und Auswanderung kleiner geworden. Wirtschaftlich schwache Juden haben große Einbußen erlitten, während es den wirtschaftlich besser gestellten Juden gelang, die Umsätze iher Geschäfte zu halten oder gar zu vergrößern ...  Der katholische Bevölkerungsteil und die Anhänger der Bekenntnisfront unterstützen die Juden nicht nur geistig, sondern auch materiell. In besonders starken Maße ist dies bei der katholischen Landbevölkerung der Fall, die eine Gehässigkeit gegen die Juden als unchristlich verdammt. ...“

Da ab Frühjahr 1936 keine jüdischen Kinder mehr öffentliche Schulen besuchen durften, wurde in Stettin eine jüdische Volksschule eingerichtet.

Im September 1938 trafen etwa 700 aus dem Burgenland vertriebene Juden in Stettin ein; die hiesige jüdische Gemeinde wurde verpflichtet, diese Menschen unterzubringen und zu versorgen. Nach einigen Wochen wurden die burgenländischen Juden in die baltischen Gebiete ausgewiesen. Einen Monat später mussten auch die in Stettin lebenden Juden polnischer Staatsangehörigkeit die Stadt verlassen; sie wurden über Schneidemühl in Richtung Polen abgeschoben.

Während des Novemberpogroms von 1938 brannten NSDAP-Angehörige die Synagoge nieder; die wertvollen Kultgeräte waren zuvor von der Gestapo sichergestellt worden.

Nowa Synagoga w Szczecinie 06.jpg Brennende Synagoge Nov. 1938 (Aufn. aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Aus der "Pommerschen Zeitung" vom 12.11.1938:

Die Synagogen brannten in Pommern      4 Uhr morgens ging die Stettiner Synagoge in Flammen auf    /    Die Feuerlöschpolizei machtlos   /   Die Mauern wurden weggesprengt  /  Synagogenbrände in der Provinz   ... In der vierten Morgenstunde des Donnerstag verbreitete sich in Stettin die Nachricht, daß in der Synagoge an der Grünen Schanze Feuer ausgebrochen sei. In kurzer Zeit hatten sich große Menschenmassen an der Grünen Schanze versammelt, die beobachten konnten, wie das Feuer ... außerordentlich rasch um sich griff ...  Die Feuerlöschpolizei ... mußte sich angesichts der raschen Ausdehnung des Brandes auf den Schutz der umliegenden Gebäude beschränken. Gegen 5.30 Uhr morgens war der Dachstuhl so vollständig ausgebrannt, daß das Gebälk krachend im Innern der Synagoge zusammenstürzte ... Bereits gestern nachmittag wurden von den Sprengkommandos Vorbereitungen getroffen, um die noch stehenden Mauern der Synagoge ... zu sprengen. ...

Das Synagogengemäuer wurde von SA-Angehörigen gesprengt und anschließend auf Kosten der Stettiner Synagogengemeinde abgetragen. Gottesdienste wurden fortan im Bethaus der orthodoxen Gemeinschaft abgehalten, allerdings mit der behördlichen Auflage, dass „der Verkehr von Betern auf dem Wege zum Gottesdienst die öffentliche Ordnung nicht beeinträchtigt.“ Weitere Gemeindeeinrichtungen waren am 9.November 1938 der sinnlosen Gewalt zum Opfer gefallen. Noch am gleichen Tage wurden fast alle jüdischen Männer der Stettiner Gemeinde ins KZ Sachsenhausen abtransportiert; Auswanderungszertifikate beschleunigten ihre Freilassung aus der Lagerhaft. Zahlreiche Gemeindemitglieder emigrierten Mitte des Jahres 1939 ins ferne Schanghai.

Jüdisches Leben in Stettin vor und nach dem Holocaust - Stiftung Denkmal  für die ermordeten Juden EuropasKennkarte von Günter Klein

J-Kennkarten - ausgestellt 1939 bzw. 1940 in Stettin (Abb. aus: stiftung-denkmal.de und pommerscher-greif.de)

Mitte Februar 1940 mussten alle Juden Stettins innerhalb weniger Stunden die Stadt bzw. das Reichsgebiet verlassen; nur mit dem Allernötigsten ausgestattet, wurden sie in Schuppen in Bahnhofsnähe verbracht und von dort per Güterzug nach Polen abtransportiert; nur wenige alte Menschen und einige Kinder blieben in Stettin zurück. Die Initiative für diese erste große Deportation deutscher Juden ging vom pommerschen Gauleiter Schwede-Coburg aus.

Gemeinsam mit den Stettiner Juden wurden auch Juden aus Anklam, Greifswald, Löcknitz, Pasewalk, Stralsund, Wolgast, Wollin und anderen Orten deportiert; Zielorte waren Lublin, Piaski, Glusk und Belzyce. Als dann im Laufe des Jahres 1942 die „Aussiedlungen“ aus dem Lubliner Bezirk begannen, wurden die meisten hier untergekommenen Stettiner Juden in der Stadt Belzyce konzentriert. Am 28.Oktober 1942 wurde der Ort von SS-Einheiten umstellt: Alte Menschen und Kinder wurden umgebracht und die Arbeitsfähigen in nahegelegene Arbeitslager verschleppt. Ein Jahr später wurden die meisten Arbeitslager mitsamt ihren Insassen liquidiert.

Im Spätherbst 1942 war Stettin Zwischenstation von etwa 250 in Norwegen verhafteten männlichen Juden. Diese wurden von hier aus nach Auschwitz weitertransportiert. Im November 1942 wurden insgesamt 530 Juden von Oslo abermals nach Stettin verschifft; von hier erreichten sie dann am 1.12.1942 das KZ Auschwitz. Die Deportationen erfolgten trotz norwegischer Protesten, auch der norwegischen Kirchenführern. Sogar einige Kollaborateure wandten sich von der „Quisling-Bewegung“ ab. Ungeachtet aller Proteste setzte die deutsche Besatzungsmacht die antijüdische Politik fort: weitere 158 Juden wurden im Februar 1943 deportiert. Über Berlin erreichten diese zusammen mit deutschen Juden Auschwitz-Birkenau; die meisten von ihnen wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft vergast.

 

 

Nach Kriegsende gründeten polnische Juden im völlig zerstörten Stettin wieder eine neue Gemeinde. Die meisten hielten sich im nördlichen Distrikt von Stettin, in Zabelsdorf (poln. Niebuszewo) auf. Auf ihrem Weg nach Westen, so auch in die Emigration nach Nordamerika bzw. Palästina, erreichten Tausende Juden Stettin. Im ersten Halbjahr 1946 stieg die Zahl der Juden in der Stadt stark an; ausschlaggebend dafür waren Transporte von Umsiedlern, sog. Repatrianten aus der Sowjetunion. Die meisten waren auf Grund ihrer Odyssee mittellos und damit auf materielle Hilfe angewiesen; zudem sprachen viele der jüdischen Neuankömmlinge traditionell nur Jiddisch und waren der polnischen Sprache nicht mächtig; dies erschwerte zusätzlich ihre ohnehin schon missliche Lage. Im April und Mai 1946 erreichten insgesamt 39 Transporte mit ca. 25.000 Menschen westpommersches Territorium; Klein- und Mittelstädte sollten künftig das Wohngebiet der jüdischen Umsiedler sein. Doch nach dem Pogrom von Kielce (Juli 1946) setzte nun eine starke Abwanderung ein.

Unmittelbar nach dem Krieg ließ sich in Stettin eine der drei Agenturen von „Bricha“, eine zionistische Fluchthelferorganisation, nieder, die Juden über die grüne Grenze schmuggelte, um dann in die US-Besatzungszone zu gelangen; von dort aus sollte die Emigration nach Palästina bzw. Übersee erfolgen.

Aus einem offiziellen Lagebericht des Stettiner Wojewoden vom Aug. 1946: „ ... Von den 31.000 Juden haben 80 % das (Stettiner) Gebiet wieder verlassen, sie befinden sich jetzt wohl im Gebiet von München in Obhut des UNRRA, (wo) sie auf die Weiterreise nach Palästina warten. Sie schreiben an ihre Bekannten in Stettin Briefe, darin beklagen sie sich über die sanitären Zustände, die miserable Ernährung und die Hoffnungslosigkeit beim Warten auf eine Möglichkeit zur Weiterreise nach Palästina. Trotzdem will ein Großteil der Stettiner Juden weiterhin illegal nach Westen. ...“ Bei der letzten Volkszählung 1951 wurden 2.077 jüdische Einwohner in Stettin registriert. Ab 1957 kamen erneut jüdische Umsiedler aus der Sowjetunion nach Stettin; insgesamt sollen es in den Jahren 1957 bis 1961 ca. 1.500 Personen gewesen sein. Oft betrachteten die Ankömmlinge Stettin nur als eine Zwischenstation auf dem Weg nach Israel. Nach dem Exodus des Jahres 1968, der ursächlich Folge staatlicher antisemitischer Hetzkampagnen war, wurde jüdisches Leben fast völlig ausgelöscht. Viele jüngere Menschen verließen Polen, die wenigen älteren blieben zumeist.

Schätzungsweise lebten um 2000 etwa 140 Juden in Szczecin; etwa zehn Jahre später setzte sich die kleine jüdische Gemeinschaft aus noch ca. 60 Personen zusammen; diese besitzt in der Stadt ein Bethaus und betreibt eine koschere Küche.

Der jüdische Friedhof Stettins überstand die NS-Zeit nahezu unversehrt; allerdings war das Taharahaus in der Pogromnacht in Brand gesetzt und ein Jahr später abgerissen worden. In kommunistischer Zeit verfiel das Gräberfeld. 1988 wurde auf dem zu einem Park umfunktionierten Friedhofsgelände ein Denkmal enthüllt; es besteht aus elf Grabmälern, vor denen zwei Inschrifttafeln in polnischer und hebräischer Sprache liegen, die die Worte tragen: „In den Jahren 1821-1962 befand sich hier ein jüdischer Friedhof“.

   

Jüdisches Mahnmal auf dem ehem. Friedhofsgelände (Aufn. Arkadiusz Bis, aus: kirkuty.xip.pl)

Auf dem städtischen Zentralfriedhof lagern derzeit noch eine Reihe von Grabsteinen des alten jüdischen Friedhofs.

An einer Mauer am ehemaligen Standort der Stettiner Synagoge wurde 1999 von ehemaligen jüdischen Bewohnern Stettins eine Gedenktafel angebracht, die mehrsprachig abgefasst ist; die deutsche Fassung lautet:

In Erinnerung an die jüdische Gemeinde in Stettin (1812 – 1940).

Auf diesem Platz hat die herrliche Synagoge gestanden. Am 9.November 1938 haben die Nazis diese und andere Synagogen durch Brandstiftung völlig zerstört. Im Winter 1940 wurden alle Stettiner Juden auf einen Todesmarsch nach dem Osten geschickt. Die Überlebenden wurden von den Nazis im Konzentrationslager Belzec ermordet.

 

Stettin war 1875 die Geburtsstadt von Rudolf Levy, einem Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Nach seinem Schulbesuch in Danzig begann er seine Studien, die ihn über Karlsruhe und München nach Paris führten, wo er im neu gegründeten Matisse-Schüler-Atelier arbeitete. Während des Ersten Weltkrieges kämpfte er als Freiwilliger an der Westfront. Nach seiner Emigration aus Deutschland 1933 führte Rudolf Levy ein unstetes Leben, bis er in Italien eine vorläufige Bleibe fand. Ende 1943 wurde er in Florenz verhaftet; auf einem Transport jüdischer Gefangener von Florenz nach Carpi de Modena kam er ums Leben.

  1878 wurde Alfred Döblin als Sohn einer bürgerlich-jüdischen Familie in Stettin geboren. Nachdem der Vater seine Familie verlassen hatte, übersiedelte die Restfamilie nach Berlin. 1900 begann Alfred Döblin sein Medizinstudium, das er 1905 mit der Promotion abschloss. Neben seiner Tätigkeit als Nervenarzt widmete er sich der Schriftstellerei und dem politischen Journalismus. Wenige Wochen nach der NS-Machtübernahme flüchtete er über die Schweiz nach Frankreich. Nach Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft erhielt er 1936 die französische. Als der Krieg Frankreich erreichte, flüchtete er in die USA, wo er bis 1945 lebte. Danach kehrte er - inzwischen zum Katholizismus konvertiert - nach Europa zurück. Sein letztes Lebensjahrzehnt war von schweren Krankheiten geprägt; 1957 verstarb der Arzt und Schriftsteller Alfred Döblin im Landeskrankenhaus in Emmendingen bei Freiburg im Breisgau.  Ein nach ihm benannter Literaturpreis wird seit 1979 alle zwei Jahre von der Akademie der Künste in Berlin vergeben.

 

 

In Altdamm (poln. Dabie, derzeit ca. 13.000 Einw., seit 1939 ein Stadtteil von Stettin) lebten bis zu ihrer Vertreibung bereits gegen Ende des 15.Jahrhunderts jüdische Familien; der Ort gehörte zu den ersten östlich der Oder, in denen Juden sich dank eines 1481 ausgestellten Privilegs ansiedeln durften; allerdings wurden die Familien bereits ein Jahrzehnt später ausgewiesen (Sternberg!). Erst im 19.Jahrhundert siedelten sich erneut Juden an, die alsbald eine kleine Gemeinde bildeten; diese umfasste um 1850 etwa 80 Mitglieder. Neben einem angemieteten Bethaus in der Wallstraße, das es seit den 1840er Jahren gab, stand auch ein eigener Friedhof am Birkenweg zur Verfügung. Um 1860 schlossen sich die Altdammer Juden als Filialgemeinde der Stettiner Kultusgemeinde an. In den 1930er Jahren lebten nur noch ca. 35 Juden in Altdamm. Während der „Reichskristallnacht“ wurde der Betraum in der Wallstraße vollständig demoliert. Im Februar 1940 wurden die verbliebenen jüdischen Bewohner in den Distrikt Lublin deportiert.

 

 

In Pölitz (poln. Police, derzeit ca. 41.000 Einw.) - ca. 15 Kilometer nördlich von Stettin - lebten seit den 1830er Jahren wenige jüdische Familien, die hier eine kleine Gemeinde bildeten. Mit ca. 60 Angehörigen erreichte diese um 1850/1860 ihren zahlenmäßigen Zenit. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts lebten dann nur noch sehr wenige Juden in der Stadt.

Anm. In Pölitz-Messenthin befand sich 1944/45 ein Außenlager des KZ Stutthof; die Häftlinge mussten Zwangsarbeit in den hier befindlichen Hydrierwerken leisten.

 

 

 

Weitere Informationen:

Lotte Marx, Aus der Geschichte der Stettiner jüdischen Gemeinde, in: "Gemeindeblatt der Synagogengemeinde Stettin", No. 6, Stettin 1930

Jacob Peiser, Die Geschichte der Synagogen-Gemeinde zu Stettin. Eine Studie zur Geschichte des pommerschen Judentums, in: "Ostdeutsche Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis", Holzner Verlag, Würzburg 1965 (Erstausgabe Stettin 1935)

Germania Judaica, Band II/2, Tübingen 1968, S. 795

Harold Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. u. 20.Jahrhundert, Hans Christians Verlag, Hamburg 1981, Teil 1, S. 326 f. und Teil 2, Abb. 246

Wolfgang Wilhelmus, Juden in Pommern. 19. und 20.Jahrhundert, in: "Zur Geschichte der deutschen Juden. Ostdeutschland - Böhmen - Bukowina, Kulturpolitische Korrespondenz", 61/1993, S. 30 - 33

Wolfgang Wilhelmus, Juden in Vorpommern im 19.Jahrhundert, in: M.Heitmann/J.H.Schoeps (Hrg.), “Halte fern dem ganzen Land jedes Verderben ...”. Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, Georg-Olms-Verlag, Hildesheim/Zürich 1995, S. 99 ff.

Margret Heitmann, Synagoge und freie christliche Gemeinde in Stettin. Versuch einer ungewöhnlichen Annäherung, in: M.Heitmann/J.H.Schoeps (Hrg.), “Halte fern dem ganzen Lande jedes Verderben ... ”. Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, Georg-Olms-Verlag, Hildesheim/Zürich 1995, S. 225 ff.

Marion Brandt, Ausbürgerung und Enteignung einer Stettiner Familie. Briefe aus der Deportation und Emigration, in: M.Heitmann/J.H.Schoeps (Hrg.), “Halte fern dem ganzen Lande jedes Verderben ...”. Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, Georg-Olms-Verlag, Hildesheim/Zürich 1995, S. 473 - 484

Axel Vinkmann, Soziales Engagement als religiöse Pflicht: Das Israelitische Waisenhaus in Stettin, in: M.Heitmann/J.H.Schoeps (Hrg.), “Halte fern dem ganzen Land jedes Verderben ...” Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, Georg-Olms-Verlag, Hildesheim/Zürich 1995, S. 367 ff.

Christhard Hoffmann, Fluchthilfe als Widerstand - Verfolgung und Rettung der Juden in Norwegen, in: W.Benz/J.Wetzel (Hrg.), Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit, Regionalstudien Bd.1, Metropol Verlag, Berlin 1996, S. 205 ff.

Julius H. Schoeps (Hrg.), Neues Lexikon des Judentums, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2000, S. 783/784

The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust, New York University Press, Washington Square, New York 2001, Vol.1, S. 32 und Vol. 3, S. 1244/1245

Wolfgang Wilhelmus, Geschichte der Juden in Pommern, Ingo Koch Verlag, Rostock 2004

Gerhard Salinger, Die einstigen jüdischen Gemeinden Pommerns. Zur Erinnerung und zum Gedenken, Teilband 2, Teil III, New York 2006, S. 307 – 311 (Altdamm)

Mikolaj Rozen, Die Jüdische Gemeinde in Stettin, in: "Transodra Online", 2007

Janusz Mieczkowski, Zur Geschichte der Juden in Pommern, in: "Transodra Online", 2007

Hans-Gerd Warmann, Vor 70 Jahren: „Herr Abrahamson, Ihre Synagoge brennt!“, in: "Stettiner Bürgerbrief", No. 34/2008, S. 22 – 36

Wolfgang Wilhelmus, Namensliste der 1940 aus dem Regierungsbezirk Stettin deportierten Juden, Hrg. Geschichtswerkstatt e.V., Rostock 2009

Achim Wörn, Die jüdische Bevölkerung in Stettin in den Jahren 1945 – 1950 und ihr Weg via Bayern nach Palästina, in: "Einsichten und Perspektiven. Bayrische Zeitschrift für Politik und Geschichte", 2/2010

Irmfried Garbe, Die erste Deportation von deutschen Juden vor 70 Jahren aus Pommern: Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27.Jan. 2010 in Greifswald, Ernst-Moritz-Arndt-Universität, 2010

The Jewish Community of Szczecin (Stettin), Hrg. Beit Hatfutsot – The Museum of the Jewish People, online abrufbar unter: dbs.anumuseum.org.il/skn/en/c6/e175999/Place/Szczecin

Achim Wörn, Auf gepackten Koffern: jüdisches Leben in Stettin nach 1945, in: Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (Hrg.), "Osteuropa (Zeitschrift)", Band 62/2012, S. 109 – 127

Achim Wörn, Zwischen Neubeginn und Exodus: Jüdisches Leben in Stettin in den Jahren 1945 – 1951, in: „Das war mal unsere Heimat“. Jüdische Geschichte im preußischen Osten. Begleitband zur internationalen Tagung am 2/3.November 2011 in Berlin, Berlin 2013, S. 151 – 159

Szczecin, in: sztetl.org.pl (mit Angaben zum jüdischen Friedhof)

K. Bielawski (Red.), Der jüdische Friedhof von Szczecin, in: kirkuty.xip.pl

Karen Feldbusch (Bearb.), Welche Stettiner Geschäfte sind jüdisch? online abrufbar unter: blog.pommerscher-greif.de/stettiner-geschaefte (2015)

Achim Wörn, Der Jischuw an der Oder. Juden in Stettin, 1945 – 1950, Verlag Herder-Institut, 2021

Magdalena Gebala (Bearb.), „Die Übung“. Zur Erinnerung an die deutschen Juden von Stettin, in: "Dialog-Forum – Perspektiven aus der Mitte Europas" vom 13.2.2023