Stockerau (Österreich)
Stockerau - im Bezirk Korneuburg gelegen – ist mit derzeit ca. 16.000 Einwohnern die größte Stadt im niederösterreichischen Weinviertel (Kartenskizze von Niederösterreich mit Bez. Korneuburg dunkel eingefärbt, A. 2016, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Erst in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts wurden die ersten jüdische Familien im niederösterreichischen Stockerau ansässig; diese relativ späte Ansiedlung stand im Zusammenhang mit der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden nach 1848.
Zunächst organisierten sich die jüdischen Bewohner Stockeraus in einem 1856 gegründeten „Minjan-Verein“, der für die Abhaltung gottesdienstlicher Zusammenkünfte und die Pflege des religiösen Lebens verantwortlich war; allerdings waren die Stockerauer Juden offiziell Teil der Wiener Kultusgemeinde. 1905 lösten sich die Juden Stockeraus von der Wiener Gemeinde und gründeten eine autonome Kultusgemeinde, denen auch die Juden aus den Orten Korneuburg und Langenzersdorf angehörten. Zu diesem Zeitpunkt verfügte die Stockerauer Judenschaft bereits über eine 1903 eingeweihte Synagoge in der Schießstattgasse und einen eigenen Begräbnisplatz, der in den 1870er Jahren am Ortsrand gegenüber dem kommunalen Friedhof angelegt wurde. Eine Chewra Kadischa gründete sich zwei Jahre nach nach der Gemeindekonstituierung.
Synagoge in Stockerau (hist. Aufn.)
Juden in Stockerau:
--- 1900 ........................ 165 Juden,
--- 1910 ........................ 199 " ,
--- 1932 .................... ca. 130 “ ,
--- 1940 ........................ keine.
Angaben aus: Renate Ludwiczek, Die Situation der jüdischen Mitbürger im Laufe der Geschichte in Stockerau
zentraler Platz in Stockerau (hist. Postkarte, um 1935 ?)
Die jüdischen Bewohner Stockeraus verdienten ihren Lebensunterhalt im wesentlichen im Einzelhandel; einige waren auch in freien Berufen tätig.
Nach dem sog. „Anschluss“ an das Deutsche Reich im März 1938 wurde auch in Stockerau der Antisemitismus offizielle Politik, was zur Folge hatte, dass die jüdischen Familien den Ort verließen und nach Wien übersiedelten. Einige konnten noch rechtzeitig emigrieren, andere wurden später in die „Lagern des Ostens“ deportiert. Beim Novemberpogrom von 1938 blieb das Synagogengebäude von Brandstiftung verschont, da es zu diesem Zeitpunkt bereits in den Besitz der evangelischen Gemeinde übergegangen war. Die Stockerauer NS-Stadtverwaltung hatte kurze Zeit zuvor mittels eines erzwungenen Schenkungsvertrags der jüdischen Gemeinde das Gebäude an die hiesige evangelische Kirche übergeben.
Nach der Abschiebung der jüdischen Bewohner nach Wien wurde Ende März 1940 offiziell die jüdische Kultusgemeinde in Stockerau aufgelöst.
Der Shoa fielen 38 Angehörige der israelitischen Gemeinde von Stockerau zum Opfer.
In der Nähe von Stockerau (in Sitzenberg-Reidling) gab es während der letzten Kriegsjahre ein Lager für jüdische Zwangsarbeiter.
In unmittelbarer Nähe der einstigen Synagoge erinnert heute die Holdaus-Gasse an den jüdischen Architekten des Gebäudes.
Vor der Lutherkirche steht seit 2001 ein hochaufragender Gedenkstein (Aufn. M. Müllner, 2008), auf dem die folgende Inschrift sich befindet:
„Dieses Gotteshaus erinnert an die furchtbare Geschichte der gezielten Vernichtung der Juden. 1908 als Synagoge erbaut, 1938 unter der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus enteignet – zur evangelischen Kirche umgebaut. 1953 durch die Evangelische Pfarrgemeinde von der Israelitischen Kultusgemeinde rechtmäßig erworben.
Der gemeinsame Glaube an den einen Gott verbindet Juden und Christen.“
Lutherkirche - ehemals Synagoge (Aufn. K., 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Das ca. 1.800 m² große Friedhofsgelände - hier befinden sich ca. 135 Grabstätten - ist nach seiner Sanierung (von 2016) in einem sehr gepflegten Zustand.
jüdischer Friedhof in Stockerau (Aufn. K. 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Auf dem Areal gibt es auch Grab mit fünf unbekannten Zwangsarbeitern, die gegen Ende des Zweiten Weltkrieges hier beerdigt worden sind.
Beginnend 2022 wurden in Stockerau „Erinnerungssteine“ verlegt, die an Angehörige der jüdischen Gemeinde erinnern, die in der NS-Zeit vertrieben und ermordet wurden.
"Erinnerungssteine" (Abb. aus: orf.at, 2022)
Weitere Informationen:
Albert Starzer, Geschichte der Stadt Stockerau, Stockerau 1911, S. 375
Hans Krehan, Geschichte von Stockerau, Verlag Josef Faber KG, Krems 1979
Josef Mayer, Die Juden in Stockerau, in: "Heimatspiegel - Organ des Kunstförderungsvereines Stockerau und Umgebung", Juli/Dez. 1988
Pierre Genée, Synagogen in Österreich, Löcker Verlag, Wien 1992, S. 85/86
Günter Sellinger, Stockerauer Bilderalbum, Hrg. Stadtgemeinde Stockerau (Bezirksmuseum), 1993
Renate Ludwiczek, Die Situation der jüdischen Mitbürger im Laufe der Geschichte in Stockerau, in: myworld.privateweb.at/evang.stockerau/juden
Walter Baumgartner/Robert Streibel, Juden in Niederösterreich: ‘Arisierungen’ und Rückstellungen in den Städten Amstetten, ....Horn, Korneuburg, Krems, Neunkirchen ... und Wiener Neustadt, in: "Veröffentlichungen der österreichischen Historikerkommission", Band 18, Wien 2004
Christoph Lind, “Der letzte Jude hat den Tempel verlassen ...” Juden in Niederösterreich 1938 - 1945, Mandelbaum-Verlag, Wien 2004, S. 179 - 191
Tina Walzer, Jüdisches Niederösterreich erfahren - eine Reise durch das Weinviertel der vergangenen 150 Jahre, in: "DAVID - Jüdische Kulturzeitschrift", Heft 62 (Sept. 2004)
Magdalena Müllner, Der jüdische Friedhof von Stockerau – Eine Etappe des Glaubensweges 2008 (Aufsatz), 2008
Klaus Köhler, „Ein so ein schrecklich zerrissenes Leben ...“ - Leben und Schicksal der Juden im Bezirk Korneuburg 1848-1946, Mandelbaum Verlag Wien 2013
Jüdischer Friedhof in Stockerau saniert, in: orf.at vom 24.12.2016
Jüdischer Friedhof an Gemeinde übergeben, in: orf.at vom 1.9.2017
N.N./ORF /Red.), Stockerau setzt Zeichen gegen das Vergessen, in: noe.orf.at vom15.5.2022