Theilheim (Unterfranken/Bayern)
Der unterfränkische Weinbauort Theilheim mit seinen derzeit ca. 750 Einwohnern ist seit 1978 einer von vier Ortsteilen des Pfarrdorfes Waigolshausen im Landkreis Schweinfurt - etwa zwölf Kilometer südlich der Kreisstadt gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Schweinfurt', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Zu Beginn des 19.Jahrhunderts betrug der jüdische Bevölkerungsanteil in Theilheim nahezu 50% (!).
Die ersten urkundlichen Hinweise auf Ansässigkeit von Juden in Theilheim stammen aus der Zeit gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Die Juden, die sich im Dorfe ansiedelten, waren vermutlich aus dem Herrschaftsbereich der Bischöfe und der Reichsstadt Schweinfurt vertrieben worden; allerdings dürfte ihre Anzahl noch im 17.Jahrhundert sehr gering gewesen sein. Neben den jährlichen Schutzgeldzahlungen an die jeweiligen Domherren des Domkapitels in Würzburg mussten die hiesigen Juden bis 1806 auch den sog. Leibzoll entrichten, der bei Betreten eines fremden Territoriums fällig wurde. Ihren Lebensunterhalt bestritten Theilheimer Juden vornehmlich mit Handel in der Region, so auch in der nahen Reichsstadt Schweinfurt, die nur tagsüber - mit einem gelben "Abzeichen" - betreten werden durfte.
Die Zahl der Matrikelstellen war für Theilheim auf 38 begrenzt - eine der höchsten im bayrischen Raum.
Anm.: Alle Juden mussten sich - gemäß dem bayrischen "Judengesetz von 1813" - registrieren lassen und wurden zahlenmäßig den einzelnen Orten zugewiesen. Die Matrikelnummer konnte dabei nur auf den ältesten Sohn vererbt werden; die übrigen Nachkommen besaßen keine Niederlassungsrechte.
Laut der Theilheimer Dorfordnung (1785) waren jüdischen Familien bestimmte Wohnplätze untersagt, zudem ihnen auch einschränkende Verhaltensweisen auferlegt - so durften sie z.B. „auf Sonn- und Feyertagen nicht öffentlich mit einem Gethummel arbeiten, noch weniger mit Waar auf oder zu einer Handelsschaft inner oder außer den Orth gehen“. Bei Zuwiderhandlungen mussten Strafgelder in die Kirchenkasse entrichtet werden.
Die bestehenden Spannungen zwischen der christlichen und jüdischen Bevölkerung eskalierten Anfang der 1830er Jahre; die ortsansässigen christlichen Bewohner bangten um ihre bäuerliche Existenz, auch fürchteten sie, von dem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil majorisiert zu werden. In verschiedenen Eingaben wurde die Forderung nach einer Reduzierung des jüdischen Anteils auf maximal ein Drittel der gesamten Dorfbevölkerung gestellt; so hieß es u.a.:
„ ... Nach dem dermaligen Vermögensstande der Juden zu urtheilen, wird bald der größte Theil der Feldgüter in den Händen der Juden seyn, ... und so wird man bald kaum noch einen mittelmäßig Begüterten unter den Christen antreffen. ... Wenn es dermal schon der Fall ist, daß die Juden durch die ihnen zu Gebothe stehenden Mittel an Gelde, Einigkeit, an Verschlagenheit, an besonderer Thätigkeit etc. für sich ein solches Übergewicht [zu bilden wissen], so ist die geäußerte Besorgnis gewiss nicht überflüssig. ...” [Und so beschloss die christliche Gemeindeversammlung] “bey höchster oder allerhöchster Stelle um Verringerung der Judenschutze auf einen Drittheil der Anzahl der gesamten aktiven Gemeindemitglieder dahier allerunterthänigst nachzusuchen.”
Da die Matrikelzahl unangetastet blieb, wurde diese Beschwerde vermutlich abgelehnt. Die jüdische Gemeinde Theilheims war für ihre Angehörigen sowohl Religionsgemeinschaft als auch Organ der politischen Selbstverwaltung; im Dorfe unterhielt die Gemeinde damals eine Synagoge, eine Religionsschule und eine Mikwe. Über einen eigenen Rabbiner verfügte die hiesige Gemeinde nicht; an ihrer Spitze stand der sog. „Judenvorgänger“, der das innergemeindliche Leben organisierte sowie für das Armenwesen und die Gemeindefinanzen verantwortlich war.
Stellenangebote der Theilheimer Gemeinde von 1879, 1890 und 1903:
Die jüdischen Kinder, die Religionsunterricht durch einen angestellten Lehrer erhielten, besuchten ansonsten die katholische Elementarschule.
1872 errichtete die jüdische Gemeinde einen Synagogenneubau, der an gleicher Stelle ein seit 1732 genutztes Gotteshauses ersetzte. Das neue Gotteshaus verfügte über ca. 120 Männer- und ca. 80 Frauenplätze.
Synagogengebäude (Aufn. um ? , aus: I. Schwierz)
Über einen eigenen Friedhof verfügte die Theilheimer Judenschaft nicht; ihre Verstorbenen beerdigte sie auf dem jüdischen Friedhof in Schwanfeld.
Um 1930 unterstand die Theilheimer Gemeinde dem Bezirksrabbinat Schweinfurt.
Juden in Theilheim:
--- 1697 ........................ 6 jüdische Haushalte,
--- 1731 ........................ 15 jüdische Familien,
--- um 1755 ................. ca. 25 - 30 “ “ ,
--- 1779 ........................ 18 " " ,
--- 1804 ........................ 32 " " ,
--- 1817 ........................ 209 Juden (in 38 Familien, ca. 46%!),
--- 1839 .................... ca. 220 " (in 38 Familien),
--- 1857 ........................ 215 " ,
--- 1867 ........................ 225 “ (ca. 42% d. Dorfbev.),
--- 1880 ........................ 211 " ,
--- 1890 ........................ 164 “ (ca. 32% d. “ ),
--- 1900 ........................ 116 “ (ca. 23% d. “ ),
--- 1910 ........................ 83 “ (ca. 16% d. “ ),
--- 1925 ........................ 81 “ ,
--- 1933 ........................ 70 “ ,
--- 1937 ........................ 50 " ,
--- 1939 ........................ 47 “ ,
--- 1942 (Jan.) ................. 43 “ ,
(Juni) ................. ein " .
Angaben aus: Maschinenschriftliches Manuskript “Die jüdische Gemeinde in Theilheim”
und Baruch Z.Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945, S. 408
und W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … Synagogengedenkband Bayern, Unterfranken, Teilband III/2.2, S. 1624/1625
Mitte des 19.Jahrhunderts übten die 38 durch Matrikel zugelassenen Haushaltsvorstände die folgenden Berufe aus: zehn Kleinhändler, drei Engros- und Detailhändler, vier Landwirte, acht Handwerker und 13 Hausierer. Ab den 1870er Jahren wanderten vor allem jüngere jüdische Bewohner ab.
Bereits vor dem Novemberpogromen kam es in Theilheim zu Übergriffen auf von Juden bewohnten Häusern; so wurde ein unter dem Vorwurf angeblicher "Rassenschande" stehender Jude in den Selbstmord getrieben.
Das Ende der jüdischen Gemeinde in Theilheim kündigte sich in den Morgenstunden des 10.November 1938 an, als auswärtige SA-Angehörige das Synagogengebäude in Brand steckten; die Inneneinrichtung, sieben Thora-Rollen und das Gemeindearchiv wurden dabei fast völlig vernichtet. Die Täter stürmten Häuser jüdischer Bewohner, demolierten das Mobiliar und plünderten auch. Tage später wurden die jüdischen Hausbesitzer unter Drohungen gezwungen, ihre Immobilien zu veräußern.
Der katholische Pfarrer, der in seiner Sonntagspredigt die antijüdischen Ausschreitungen verurteilte, wurde denunziert und für drei Tage inhaftiert; doch auch zahlreiche andere Dorfbewohner hatten wenig Verständnis für die Gewalttaten gezeigt. Die ca. 40 zu Kriegsbeginn noch in Theilheim lebenden Juden wurden größtenteils Ende April 1942 - über Würzburg - nach Izbica bei Lublin deportiert und dort ermordet, die restlichen neun Personen Ende September 1942 nach Theresienstadt verschleppt. Nur ein einziger jüdischer Dorfbewohner soll sich Anfang November 1942 noch in Theilheim aufgehalten haben
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland 1933 - 1945" sind insgesamt 103 gebürtige bzw. längere Zeit in Theilheim ansässig gewesene jüdische Bürger Opfer der Shoa geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/theilheim_synagoge.htm).
Nach Kriegsende mussten sich mehrere ehemalige NSDAP-Angehörige wegen ihrer aktiven Teilnahme an den Synagogenzerstörungen von Theilheim und Schwanfeld vor Gericht verantworten; während zwei Männer zu kurzen Gefängnisstrafen verurteilt wurden, stellte man bei den übrigen Angeklagten das Verfahren ein.
Ehem. Synagogengebäude in Theilheim (Aufn. Jürgen Hanke, 2004 und Aufn. J. Hahn, 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Nach Kriegsende übernahm ein Landwirt das teilzerstörte Synagogengebäude, versah es wieder mit einem Dach und nutzte es als Maschinenhalle. In den Folgejahrzehnten verfiel das Gebäude zusehends, da die Kommune wenig Interesse an dessen Erhaltung zeigte. Derzeit sind Überlegungen angestellt, das Gebäude künftig zu Wohnzwecken zu nutzen (Stand 2020).
An dem ehemals als Synagoge genutzten Gebäude am Kreuzgraben erinnert eine Gedenktafel mit folgender Inschrift an die einstige jüdische Gemeinde der Ortschaft:
Dieses Gebäude diente der Jüdischen Kultusgemeinde Theilheim als Synagoge und wurde 1938 zerstört.
Zur Erinnerung und zum Andenken an unsere ehemaligen jüdischen Mitbürger.
Auch die Kommune Waigolshausen beteiligt sich mit einem „Objekt“ am „DenkOrt Deportationen 1941-1944" am Würzburger Bahnhofsvorplatz. Als ihr Beitrag wurde nicht ein Koffer oder ein anderes Gepäckstück gewählt, sondern die steinerne Skulptur eines Kinderwagens. In Theilheim ist der Standort dieser ungewöhnlichen Skulptur eine Grünfläche in der Von-Erthal-Straße.
steinerne Kinderwagen-Skulptur (Aufn. Michael Stolz, aus: denkort-deportationen.de)
Seit 1997 ist eine Straße in Theilheim nach Mendel Rosenbaum, dem ‚berühmtesten Sohn’ der Gemeinde, benannt. Rosenbaum (geb. 1782 in Theilheim) - auch unter dem Namen „Mendel Zell“ bekannt - gründete 1822 in Zell bei Würzburg – gemeinsam mit seinen erwachsenen Söhnen Jona und Eliahu Rosenbaum - eine orthodoxe Talmud-Religionsschule (Jeschiwa); einer seiner ersten Schüler, Moses Weißkopf, amtierte später als Rabbiner in Paris. Als wirtschaftliche Basis in Zell diente ein Handel mit Kolonialwaren und eine Nagelschmiede; daneben war Rosenbaum in das Unterzeller Unternehmen von Koenig & Bauer (Schnelldruckpressen-Fabrik) involviert. Mendel Rosenbaum und seine Söhne und beeinflussten von hier wesentlich die Entwicklung des religiös-orthodoxen Judentums im bayrischen Raume. Mendel Rosenbaum erhielt 1854 beim bayrischen König Maximilian II. Eine Audienz, bei der er erreichen konnte, dass die noch bestehenden, für Juden geltenden Handelsbeschränkungen aufgehoben wurden. Mendel R. starb 1868 in Zell.
Weitere Informationen:
Baruch Z.Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945, Oldenbourg-Verlag, München 1979, S. 408 - 410
Harm-Hinrich Brandt (Hrg.), Zwischen Schutzherrschaft und Emanzipation, in: "Studien zur Geschichte der mainfränkischen Juden im 19.Jahrhundert", Band 39, Würzburg 1987
Israel Schwierz, Steinerne Zeugen jüdischen Lebens in Bayern - eine Dokumentation, Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 125
Konrad Roth, Die jüdische Gemeinde in Theilheim, in: 900 Jahre Theilheim mit Dächheim 1094-1994, hrg. von der Festgemeinschaft "900 Jahre Theilheim", Würzburg 1994, S. 100 - 104
“Die jüdische Gemeinde in Theilheim”, in: maschinenschriftliches Manuskript zur 900 jährigen Jubiläumsfeier Theilheims, S. 305 ff.
Theilheimer Juden - Ansprache des Archivars Christian Schaub anlässlich des Besuches von Ignaz Bubis (17.Juni 1994)
Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus - eine Dokumentation, Hrg. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1995, S. 611/612
Katharina Pfister (Bearb.), Theilheims jüdische Vergangenheit. Facharbeit in Geschichte am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium in Schweinfurt, 1998
Theresa Huter (Bearb.), Die Synagoge in Theilheim – Zeichen für die ehemalige Bedeutung des Judentums in einer mainfränkischen Landgemeinde, Facharbeit in Geschichte am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium in Schweinfurt, 2000
Theilheim, in: alemannia-judaica.de (mit diversen, zumeist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg", Band 13, Würzburg 2008, S. 242 - 24
Gerald Gerstner (Red.), Ehemalige Theilheimer Synagoge soll Wohnhaus werden, in: „Main-Post“ vom 9.8.2020
W. Bätz (Bearb.), Das traurige Ende der Theilheimer Synagoge, in: „Theilheimer Dorfblatt“, Sept. 2020
Irene Spiegel (Red.), Theilheim: Neues Leben in alter Synagoge, in: „Main-Post“ vom 25.11.2020
Gerald Gerstner (Red.), Auch Kinder wurden deportiert. „DenkOrt Deportationen“: Waigolshausen beteiligt sich mit einem künstlerisch gestalteten Kinderwagen an dem Projekt, in: „Kreis Schweinfurt“ vom 21.12.2020
Gerhard Gronauer/Hans-Christof Haas (Bearb.), Theilheim in: W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … Synagogengedenkband Bayern, Unterfranken, Teilband III/2.2, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2021, S. 1612 - 1628
Uwe Eichler (Red.), Kleiner Denkort auch in Theilheim, in: „Main-Post“ vom 22.9.2021
Gerald Gerstner (Red.), Theilheim: Ein steinerner Kinderwagen erinnert an die Gräueltaten der Nationalsozialisten, in: „Main-Post“ vom 27.9.2022