Vöhl/Edersee (Hessen)
Vöhl ist heute eine Kommune mit ca. 5.500 Einwohnern im hessischen Landkreis Waldeck-Frankenberg; sie liegt einige Kilometer südlich von Korbach bzw. ca. 40 Kilometer südwestlich von Kassel (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Kreis Waldeck-Frankenberg', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts gehörte jeder 6. Ortsbewohner dem jüdischen Glauben an.
1682 wird erstmals ein Vöhler Jude urkundlich erwähnt. Seit Ende des 18./Anfang des 19.Jahrhunderts war in Vöhl eine autonome jüdische Kultusgemeinde beheimatet.
Eine Synagoge in einem Fachwerkgebäude besaß die orthodoxe Gemeinde seit 1827 in der „Judengasse“, der heutigen Mittelgasse; offiziell eingeweiht wurde sie erst zwei Jahre später (zuvor war das Gebäude als Schule genutzt worden). Dem schlichten Fachwerkbau war äußerlich kaum anzusehen, dass es sich um einen Sakralbau handelte; doch kündete eine Balkeninschrift über dem Erdgeschoss: „Im Jar 1827 den 17. Juli wurde diese Sinego durch Gottes Hülf und Macht durch den Schreinermeister Hillemann von Kirchlotheim und Heinrich Lai mit seinen Gesellen glücklich in Stant gebracht. Gott segne diesen Bau und alle, die gehen ein und aus“.
Um den Umbau zu finanzieren, waren mehrere Kollekten in Oberhessen durchgeführt worden. Über den Sakralraum wölbte sich eine kuppelförmige, mit einem hellblauen Sternenhimmel versehene Decke; auf einer umlaufenden Empore fanden die Frauen Platz. Wenige Jahre später wurde eine Synagogenordnung erlassen; in einer „Kleiderordnung“ hieß es z.B., dass am Sabbat und an den Feiertagen von den Männern ein Zylinder getragen werden muss.
Ehemaliges Synagogengebäude in Vöhl, links: um 1965, rechts: um 2000 (Förderkreis "Synagoge in Vöhl")
Der Sakralraum ist seit 1938 baulich fast unverändert geblieben. Im Synagogengebäude war anfänglich die jüdische Schule untergebracht, die seit Ende der 1820er Jahre bestand; zuvor hatten die jüdischen Kinder die evangelische Ortsschule besucht. Als nach der Jahrhundertwende die Schülerzahl stark rückläufig war, wurde die Schule um 1925 aufgegeben.
Ihre verstorbenen Gemeindeangehörigen wurden bis etwa 1830 auf dem jüdischen Friedhof von Frankenau/Eder beerdigt; danach stand ein eigenes Bestattungsareal in Vöhl zur Verfügung.
Die wenigen Juden aus den beiden Nachbarorten Marienhagen und Basdorf waren der Gemeinde Vöhl angeschlossen, die dem Provinzialrabbinat Marburg unterstand.
Eine prägende Persönlichkeit der Vöhler Kultusgemeinde war Emanuel Katzenstein, der fast ein halbes Jahrhundert der Gemeinde vorstand und 1927 im hohen Alter von 87 Jahren verstarb; ihn würdigte der folgende Kurzartikel:
aus: "Jüdische Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck" vom 8. April 1927
Juden in Vöhl:
--- um 1705 ......................... 8 jüdische Hauhaltungen,
--- 1830 ............................ 76 Juden,
--- 1840 ........................ ca. 140 “ ,
--- um 1850 ..................... ca. 130 “ (ca. 17% d. Dorfbev.),
--- 1885 ........................ ca. 100 “ (in 22 Familien),
--- 1905 ............................ 86 “ ,
--- 1931 ........................ ca. 50 “ ,
--- 1938 (Aug.) ..................... 13 “ ,
--- 1940 (Jan.) ..................... 11 “ ,
--- 1942 (Jan.) ..................... 8 “ ,
(Okt.) ..................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 327
und Homepage des Fördervereins “Synagoge in Vöhl e.V.” (Angaben K.-H.Stadtler)
In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts lebten die Juden Vöhls zumeist recht bescheiden als hausierende Kleinhändler; einige waren auch im Geldverleih tätig. Ende des 19.Jahrhunderts arbeiteten sie vorwiegend als Einzelwarenhändler und Handwerker; Viehhandel spielte in ihrem Erwerbsleben kaum keine Rolle. Um die Mitte des 19.Jahrhunderts erreichte die Zahl der Gemeindeangehörigen ihren Höchststand; damals waren fast 20% aller Einwohner Juden.
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In den Jahren nach der NS-Machtübernahme verließen die meisten jüdischen Bewohner ihren Heimatort und verzogen größtenteils nach Frankfurt/M. und betrieben von hier aus zumeist ihre Auswanderung nach Übersee. Die letzten Juden Vöhls lebten ab 1938 in den Wohnräumen des Synagogengebäudes. Das Fachwerkgebäude überstand den Pogrom von 1938 nur deshalb unbeschadet, weil es kurz zuvor in „arische“ Hände übergegangen war. Vermutlich wurden aber im Innern noch vorhandene Ritualien aus der Synagoge entfernt und von der Polizei oder SA „sichergestellt“.
Anfang September 1942 wurden die drei letzten Vöhler Jüdinnen - via Kassel – „in den Osten“ deportiert. Etwa 40 aus Vöhl stammende jüdische Bewohner sollen dem Holocaust zum Opfer gefallen sein.
Auf dem ca. 1.350 m² großen jüdischen Friedhofsgelände von Vöhl sind heute noch ca. 50 Grabsteine vorhanden, die z.T. bereits abgeräumt waren und als Baumaterial Verwendung finden sollten; einige Steine sind schon teilweise im Erdboden versunken.
Jüdischer Friedhof (Aufn. GL, 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Im November 1998 wurde an der Ecke Arolser Straße/Nordstraße von der Großgemeinde Vöhl ein Gedenkstein aufgestellt; eine dort angebrachte Inschriftentafel erinnert an die Verfolgung und Ermordung Vöhler Juden.
1999 erwarb der neu gegründete „Förderkreis Synagoge in Vöhl e.V.” das einstige Synagogengebäude; unter weitgehender Erhaltung historischer Substanz gelang es, das Fachwerkgebäude zu restaurieren. 2009 erhielt der Förderkreis für die beispielhafte Sanierung des Synagogengebäudes den hessischen Denkmalschutzpreis, ein Jahr später den Kulturpreis des Landkreises Waldeck-Frankenberg. Im Dachgeschoss des Gebäudes soll eine Judaica-Bibliothek ihren Standort haben.
Vor dem Synagogengebäude steht seit 2007 das von der Künstlerin Eva Reneé Nele geschaffene Mahnmal „Auf der Schwelle zwischen Leben und Tod“, das allen Deportierten aus dem Kreis Waldeck-Frankenberg gewidmet ist (beide Aufn. J. Hahn, 2010).
virtuelle Rekonstruktion (Jürgen Eckhardt)
Außen- und Innenansicht (links: Aufn. GLSystem, 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 - rechts: Aufn. Förderverein Synagoge Vöhl e.V.)
Im westlich von Vöhl gelegenen Dorf Goddelsheim erinnert noch ein kleiner jüdischer Friedhof - belegt bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges - an die frühere Existenz von jüdischen Familien; die wenigen Goddelsheimer Juden waren der Synagogengemeinde Korbach angeschlossen.
Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Goddelsheim (Aufn. J. Hahn, 2016)
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd.1, S. 271 und Bd. 2, S. 327 f.
Christiane Hilmer, Dokumentation des jüdischen Friedhofs zu Vöhl (Edersee), in: Homepage des Fördervereins “Synagoge in Vöhl e.V.”, online abrufbar unter: synagoge-voehl.de/index.php/de/voehler-juden/juedischer-friedhof (mit zahlreichen detaillierten Informationen)
Karl-Heinz Stadtler, Der jüdische Friedhof in Vöhl / Die jüdische Schule in Vöhl, in: Homepage des Fördervereins “Synagoge in Vöhl e.V.” (mit zahlreichen detaillierten Informationen)
Bürger setzen sich erfolgreich ein: Synagoge in Vöhl bleibt erhalten, in: "Kasseler Sonntagsblatt" vom 16.1.2000
Vöhl/Edersee, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Textbeiträgen und Aufnahmen)
Sarah Rogge-Richter (Red.), Neuer Glanz für alte Synagoge, in: „Hessische Allgemeine“ vom 29.7.2010
Der Geschichtsverein Battenberg e.V. veröffentlichte 2011 eine Dokumentation zum jüdischen Leben im Oberen Edertal; es wurden Einzelschicksale von jüdischen Familien dokumentiert, darunter auch das Schicksal von Max Mildenberg aus Vöhl
Goddelsheim (Stadt Lichtenfels), in: alemannia-judaica.de (mit diversen Aufnahmen vom jüdischen Friedhof)
Elmar Schulten (Red.), Unfassbare Lebensgeschichten, in: „Waldeckische Landeszeitung“ vom 29.11.2016
Ernst Klein, „aber es ist besser als Butterbrot in D.“ - Lebenswege jüdischer Kinder, Frauen und Männer aus Deutschland, hrg. von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft e.V., Volkmarsen 2016
Nadja Zecher-Christ (Red.), Erinnern an Schicksal der Juden. Mitglieder des Förderkreises richten Judaica-Bibliothek im Dachgeschoss der Vöhler Synagoge ein, in: „Waldeckische Landeszeitung“ vom 29.1.2017
Julia Janzen (Red.), Große Pläne für altes Gotteshaus. Vöhl: Synagoge bekommt Notausgänge, Hof wird neu gestaltet, in: "HNA – Hessische Niedersächsische Allgemeine“ vom 30.7.2020
Arbeitskreis Jüdisches Leben in Waldeck-Frankenberg (Hrg.), Erinnerung an jüdisches Leben in Waldeck-Frankenberg, online abrufbar unter: synagoge-voehl.de/images/pdf/brosch_lk/Judische_Orte_im_Landkreis_Doppelseiten.pdf (Vöhl, S. 53 f.)