Walldorf/Werra (Thüringen)
Walldorf gehört seit der jüngsten Gebietsreform 2018/2019 mit seinen derzeit ca. 2.200 Bewohnern als neuer Ortsteil zur Stadt Meiningen im Landkreis Schmalkalden-Meiningen - nahe der Landesgrenze zum Freistaat Bayern gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Schmalkalden-Meiningen', aus: ortsdienst.de/thueringen/meiningen-schmalkalden).
In der ersten Hälfte des 19.Jahrhundert war die jüdische Gemeinde in Walldorf die größte im Herzogtum Sachsen-Meiningen; zeitweise war etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung von Walldorf mosaischen Glaubens.
Die ersten Juden, die sich im Raum Walldorf niederließen, waren vermutlich Flüchtlinge aus Meiningen, die sich hier vor den Pestpogromen von 1348/1349 in Sicherheit bringen konnten. Für mehrere Jahrhunderte fehlen dann urkundliche Nachweise über jüdisches Leben in Walldorf.
Seit dem 17.Jahrhundert gewährten drei Rittergutsbesitzer jüdischen Familien im Walldorfer Gebiet Schutz; so bestanden hier längere Zeit drei kleine jüdische Gemeinden nebeneinander, die auch eigene Kultuseinrichtungen besaßen. Ebenso verfügten die drei Gemeinden bis Ende des 18.Jahrhunderts über je eine eigene Schule, die sich jeweils in Privathäusern befand, und sogar über eigene Bäckereien. 1789 vereinigten sich die drei Judenschaften zu einer Kultusgemeinde. In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts bildete sich in Walldorf die größte jüdische Gemeinde im Herzogtum Sachsen-Meiningen heraus; sie sollte später die Muttergemeinde der neuzeitlichen israelitischen Gemeinde Meiningens werden. Von 1839 bis 1869 stellte die jüdische Gemeinde in Walldorf auch den Landesrabbiner im Herzogtum Sachsen-Meiningen.
Im Jahre 1789 hatte die in Walldorf ansässige Judenschaft die zum Marschalk’schen Gut gehörende Scheune am Tanzberg gekauft. Für einen Betrag von 1.550 Reichsthalern wurde hier eine Synagoge errichtet und 1791 eingeweiht. Mitte der 1840er Jahre wurde die Männersynagoge mit einer Galerie versehen, deshalb wurde ein turmähnlicher Vorbau angebracht. Einige Jahre danach wurde die Frauensynagoge durch Hinzufügung eines Teiles der Vorsängerwohnung vergrößert.
hist. Bildpostkarte mit Synagoge (Mitte) - Synagoge in Walldorf (Federzeichnung Alfred Metz, 1936, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
In den 1820er Jahren wurde - auf Betreiben einiger ärmerer Familienväter - eine jüdische Elementarschule begründet; es war die erste des Landes. Daneben existierte in Walldorf eine private Schule von Selkan Gutmann, die vor allem Kinder gutsituierter Eltern besuchten. Beide jüdische Schulen wurden in den 1850er Jahren zusammengelegt, mehr als 50 Jahre später mit den christlichen Schulen vereint.
Bereits in den 1740er Jahren sollen die Juden von Walldorf auf einer Anhöhe am Tanzberg (Richtung Wasungen) einen Friedhof angelegt haben, der etwa sechs Jahrzehnte später noch erweitert wurde; er gilt heute als einer der ältesten jüdischen Begräbnisstätten der Region.
Juden in Walldorf:
--- 1810 ......................... 238 Juden,
--- 1833 ......................... 537 “ (ca. 35% d. Dorfbev.),
--- 1849 ......................... 562 “ ,
--- 1855 ......................... 493 “ ,
--- 1895 ......................... 108 “ ,
--- 1900 ......................... 98 “ ,
--- 1910 ......................... 75 “ ,
--- 1925 ......................... 41 “ ,
--- 1932 ......................... 32 “ ,
--- 1935 ......................... 10 jüdische Familien,
--- 1939 ......................... 4 “ “ ,
--- 1943 ......................... ein Jude.
Angaben aus: Helmut Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR, Band II, S. 980 f.
und Elke Schwerda, Chronik jüdischen Lebens in Walldorf
Im 18. und beginnenden 19.Jahrhundert lebten zahlreiche Walldorfer Juden vom Hausierhandel; sie zogen mühsam über Land und versorgten die Bevölkerung mit lebensnotwendigen Waren; daneben betrieben auch viele Familien Viehhandel. Ab der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts gab es in Walldorf mehrere jüdische Großhändler, die Textilien und Stoffe vertrieben. Eine der bedeutendsten Webereien, die Fa. Elsbach & Comp., hatte in Walldorf ihren Standort; betrieben wurde hier auch eine Weberschule. Viele jüdische Dorfbewohner verdienten damals ihren Lebensunterhalt als Weber.
Anzeige der Weberschule (1861)
Anzeigen von 1846 bzw. 1864
Nach 1860/1870 setzte eine starke Abwanderung besonders bedürftiger Familien ein, die zu einer erheblichen Dezimierung der jüdischen Gemeinde führte. Die meisten Familien fanden in der benachbarten Residenzstadt Meinungen ein neues Zuhause.
Aus einer Beschreibung der Gemeinde Walldorf aus dem Jahre 1878: "Walldorf gehört zum Herzogthume Meiningen und hatte früher wohl nächst Stadtlengsfeld die größte israel. Gemeinde in Thüringen. Sie zählt immer noch über 50 Mitglieder, hat eine schöne Synagoge, eine gute Schule, an welcher 2 Lehrer wirken, und alle die übrigen Institutionen, wie sich solche in größeren jüdischen Gemeinden vorfinden. Seit der Einführung der Freizügigkeit hat diese Gemeinde, sowie das nahe liegende Dreißigacker, einen größten Theil seiner Mitglieder verloren, welche sich größtenteils in Meiningen niedergelassen haben. In dieser, aus dem vor einigen Jahren stattgefundenen großen Brande neuerstandenen Stadt, in welcher vor 10 Jahren nur einige israel. Familien wohnten, ist die Zahl derselben durch Zuzüge von Außen bereits auf 60 angewachsen. Der Landrabbiner, Herr Dr. Dreifus, welcher früher in Walldorf seßhaft war, hat ebenfalls seinen Sitz hierher verlegt. Leider ist er aber schon seit längerer Zeit durch Altersschwäche und Krankheit an jeder amtlichen Thätigkeit gehindert. …“ (aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 23. Oktober 1878)
Zu Beginn der NS-Zeit 1933 lebten im Dorf nur noch zwölf jüdische Familien, die hier zumeist Einzelhandelsgeschäfte betrieben.
Während des Novemberpogroms von 1938 wurde der Innenraum des Synagogengebäudes weitgehend zerstört, Fensterscheiben an Häusern jüdischer Bewohner eingeworfen, einige junge Frauen verprügelt und mehrere Männer ins KZ Buchenwald verschleppt.
Ende 1938 gab es in Walldorf dann keine Geschäfte in jüdischem Besitz mehr. Die sich auflösende jüdische Gemeinde überließ der Kommune das Synagogengebäude, das zunächst als Lagerraum genutzt wurde. Die nur wenigen noch in Walldorf verbliebenen Juden wurden ab 1942 ins okkupierte Polen bzw. nach Theresienstadt deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind 40 gebürtige bzw. längere Zeit in Walldorf ansässig gewesene Bürger mosaischen Glaubens dem Holocaust zum Opfer gefallen sein (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/walldorf_werra_synagoge.htm).
1947 mussten sich 13 Walldorfer Einwohner vor dem Landgericht Meiningen wegen ihrer aktiven Teilnahme am Novemberpogrom verantworten.
Am ehemaligen Standort der Synagoge - das Gebäude wurde 1949 wegen Baufälligkeit abgebrochen - wurden 1988 zwei Tafeln angebracht: Die eine zeigt ein Relief der einstigen Synagoge zeigt, die zweite trägt die folgende Inschrift:
Hier stand die 1790 erbaute Synagoge der jüdischen Gemeinde Walldorf,
die 1938 geschändet und zerstört wurde.
Der großflächige jüdische Friedhof (mit ca. 5.000 m²) - auf einer Anhöhe nordwestlich von Walldorf gelegen - überstand die NS-Zeit nahezu unbeschädigt; allerdings sind nur noch 80 Grabsteine vorhanden; der älteste lesbare Stein datiert von 1737.
Eingangspforte zum jüdischne Friedhof in Walldorf und alter Friedhofsteil (Aufn. J. Hahn, 2005)
Gesamtansicht des jüdischen Friedhofs in Walldorf (Aufn. S., 2013, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
In der Walldorfer Brunnengasse liegt der links abgebildete Gewölbebrunnen; das 1798 errichtete Brunnengebäude war als Spende der jüdischen Bewohner Walldorf erstellt worden. Das Wasser fließt heute noch aus zwei Rohren in ein kleines Überlaufbecken, das zur Herpf abfließt. Der eine Brunnenausfluss wurde von der christlichen Bevölkerung genutzt („Christenbrunnen“), der andere nur von den jüdischen Familien, deshalb auch „Judenbrunnen“ genannt (Aufn. Kramer 2021, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Hinweis: Neben dem thüringischen Walldorf gibt es in Baden-Württemberg einen Ort gleichen Namens, zudem auch in Hessen die Kommune Mörfelden-Walldorf. In beiden genannten Orten gab es ehemals jüdische Gemeinden.
siehe: Walldorf (Baden-Württemberg) und Mörfelden-Walldorf (Hessen)
Weitere Informationen:
Moritz Siegel, Meine Familiengeschichte, Meiningen 1900 - 1917. Auszüge in: Monika Richarz, Bürger auf Widerruf - Lebenszeugnisse deutscher Juden 1780 - 1945, Verlag C.H. Beck, München 1989, S. 154 - 161
Helmut Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR, Dresden 1990, Band II, S. 980 f.
M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: "Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum", Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 651
Dagmar Seidel, Die Ausgrenzung der Juden von Walldorf in der Zeit des Nationalsozialismus, in: "Via Regia", Erfurt 1995
Hans Nothnagel (Hrg.), Juden in Südthüringen geschützt und gejagt. Eine Sammlung jüdischer Lokalchroniken in sechs Bänden, Band 6: Über jüdisches Leben im mittleren Werra- und Rennsteiggebiet, Verlag Buchhaus Suhl, Suhl 1999
Elke Schwerda, Chronik jüdischen Lebens in Walldorf, in: Hans Nothnagel, Juden in Südthüringen, Band 3: Juden in der ehemaligen Residenzstadt Meiningen und deren Umfeld, Verlag Buchhaus, Suhl 1999, S. 197 ff.
Franz Levi (Bearb.), 12 Gulden vom Judenschutzgeld ... - Jüdisches Leben in Berkach und Südwestthüringen, in: "Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Große Reihe", Band 7, Verlag Urban & Fischer, München/Jena, 2001, S. 326 ff.
Gabriele Olbrisch, Landrabbinate in Thüringen 1811 - 1871. Jüdische Schul- und Kulturreform unter staatlicher Regie, in: "Veröffentlichungen der Historischen Kommission Thüringen - Kleine Reihe", Bd. 9, Böhlau Verlag, Köln - Weimar - Wien 2003, S. 35 - 38, S. 282 ff. und S. 395 ff.
Monika Gibas (Hrg.), Quellen zur Geschichte Thüringens: ‘Arisierung’ in Thüringen (1.Halbband). Entrechtung, Enteignung und Vernichtung der jüdischen Bürger Thüringens 1933 - 1945, Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 2006, S. 66 – 68
Israel Schwierz, Zeugnisse jüdischer Vergangenheit in Thüringen. Eine Dokumentation, hrg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Sömmerda 2007, S. 258 - 262
Walldorf (Thüringen), in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Rundgang durch Walldorf: Die Synagoge und der jüdische Friedhof in Walldorf, online abrufbar unter: walldorf-werra.de