Wildeshausen (Niedersachsen)

Datei:Wildeshausen in OL.svg Wildeshausen mit derzeit ca. 21.500 Einwohnern ist eine Kreisstadt (Sitz des niedersächsischen Landkreises Oldenburg) - ca. 30 Kilometer südlich von der Stadt Oldenburg bzw. südwestlich von Bremen gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte um 1790, aus: wikipedia.org, gemeinfrei  und  Kartenskizze 'Landkreis Oldenburg', TUBS 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Bis zu ihrer Vertreibung im Zuge der Pestpogrome 1348/1350 haben sich Juden in Wildeshausen/bei Oldenburg aufgehalten; Spuren dieser ersten Niederlassungen sind aber nicht erhalten geblieben.

Bildergebnis für wildeshausen stich Wildeshausen, Kupferstich von 1647 (aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Erst zu Beginn des 18.Jahrhunderts siedelten sich einige jüdische Familien dauerhaft hier an; als erste ließen sich hier Wolff Levi und Benedix Lazarus mit ihren Familien hier nieder (1704 mit Schutzbriefen ausgestattet). Über einen längeren Zeitraum hinweg bestand die Wildeshauser Judenschaft aus nur drei bzw. vier Familien, die alle im Besitz von Schutzbriefen des hannoverschen Kurfürsten waren. Unmittelbar nach ihrer Niederlassung begann ein langandauernder Konflikt mit den christlichen Händlern und Handwerkern, bei dem es um Handelsrechte ging und der sich bis Mitte des 19.Jahrhunderts hinzog. So wurden beispielsweise im Verlauf des 18. Jahrhunderts (1723 und 1733) die ohnehin schon geringen beruflichen Rechte der Juden - als Reaktion auf die andauernden Beschwerden der christlichen Händler - noch weiter eingeschränkt. Die Juden lebten mehr schlecht als recht, wie einem Bericht des Amtmanns aus dem Jahr 1739 entnommen werden kann: „Der Handel, welchen die hiesigen Juden treiben, ist sehr geringe und besteht in Cattun, Neßeltuch, Mützen, Zeuge, Toback und anderen Kleinigkeiten, welches sie guten Teils im Münsterschen und der Grafschaft Oldenburg absetzen.” Bis zur Mitte des 19.Jahrhunderts verbesserte sich die Vermögenslage der jüdischen Familien erheblich; alle besaßen nun eigene Häuser.

Bis ca. 1830 fanden Gottesdienste in einem kleinen, unscheinbaren Privathaus einer jüdischen Familie in der Huntestraße statt; danach erwarb die jüdische Gemeinschaft - mit behördlicher Genehmigung - eine Scheune in der Huntestraße im Ortszentrum. Sie diente nach einem Umbau bis zur Auflösung der Gemeinde als religiöser Treffpunkt der Wildeshauser Juden.

  Ehemaliges jüdisches Bethaus, Huntestraße (hist. Aufn., um 1920)

In der Synagoge befand sich auch ein Schulraum und eine Lehrerwohnung. Diese wurde bis 1872 als Elementarschule geführt, danach nur noch als Religionsschule.

                             Artikel aus der Zeitschrift “Der Israelit" vom 31.Juli 1872

Aus der Zeit kurz nach 1700 ist auch die Existenz einer jüdischen Begräbnisstätte belegt; genutzt wurde der nördlich des Ortskerns gelegene Friedhof (an der Straße nach Neerstedt) auch von Juden aus Harpstedt und anderen Orten wie Delmenhorst, Ganderkesee, Kirchhatten und Berne. Die letzte Beerdigung fand hier 1919 statt.

             Jüdischer Friedhof Wildeshausen Grabsteine.jpg Aufn. Stefan Flöper, 2014, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0

Die israelitische Gemeinde Wildeshausen gehörte zum Landrabbinat Oldenburg.

Juden in Wildeshausen:

         --- 1704 ..........................  2 jüdische Familien,

    --- 1715 ..........................  3     “       “    ,

    --- 1764 ..........................  4     “       “    ,

    --- 1785 .......................... 19 Juden,

    --- 1816 .......................... 33   "  ,

    --- 1837 .......................... 36   “  ,

    --- 1858 .......................... 60   “  ,

    --- 1865 .......................... 72   “  ,

    --- 1875 .......................... 34   “  ,

    --- 1895 .......................... 29   “  ,

    --- 1925 .......................... 18   “  ,

    --- 1933 .......................... 22   “  ,

    --- 1939 (Sept.) .................. 10   “  ,

    --- 1940 (Mai) .................... keine.

Angaben aus: Werner Meiners, Die jüdische Gemeinde in Wildeshausen und ihre Synagoge, S. 203

 

                    Ak Wildeshausen, Kinder in der Wester Straße Wester-Straße in Wildeshausen, hist. Postkarte (aus: akpool.de)

Ab Mitte des 19.Jahrhunderts war die hier lebende jüdische Minderheit in der kleinstädtischen Gesellschaft akzeptiert und weitgehend integriert; sie bekleideten öffentliche Ämter, waren Mitglieder der Schützengilde, der Liedertafel, des „Vorschussvereins“ (einer Art Spar- und Darlehnskasse), des Turn- und des Kriegervereins. Mit dem Auftreten judenfeindlicher Tendenzen ab etwa 1875 und einer Stagnation im Wirtschaftsleben Wildeshausens verstärkte sich die Abwanderung, vor allem vermögendere Gemeindemitglieder verließen den Ort. Innerhalb nur eines Jahrzehnts - zwischen 1865 und 1875 - halbierte sich die Zahl der Wildeshauser Juden.

                  Anzeigen aus der Lokalzeitung 1913/1915:

     

Ab den 1920er Jahren spielten die wenigen hier noch verbliebenen jüdischen Familien - wirtschaftlich und gesellschaftlich - keine größere Rolle mehr. Inzwischen hatten auch zwei einflussreiche und bis dahin geschäftlich erfolgreiche jüdische Familien (Schwabe und Rennberg) Wildeshausen verlassen. Die NS-Zeit beschleunigte die Auflösung der Gemeinde.

Nach dem Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 kam es in Wildeshausen vorerst zu keinen weiteren spektakulären Aktionen gegen die wenigen jüdischen Einwohner; dies mag auch daran gelegen haben, dass einem Großteil der einheimischen Bevölkerung die antijüdischen Maßnahmen missfiel. Trotzdem wurden die Kontakte mit den jüdischen Bewohnern seltener und schließlich ganz abgebrochen; die NS-Propaganda hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Seit 1935 prangten große Schilder und Transparente an den Ortseingängen, die u.a. mit „Juden betreten die Stadt auf eigene Gefahr” beschriftet waren.

Zeittypisches "Warnschild" (!)

Der Abschiedsgottesdienst in der Wildeshauser Synagoge - unter Leitung des Landesrabbiners Leo Trepp - fand knapp zwei Wochen vor dem Novemberpogrom von 1938 statt, danach ging das Gebäude in private Hände über. Der erzielte Kaufpreis von RM 1.500,- wurde „im Hilfswerk und in der Förderung der Auswanderung der Juden von Wildeshauses“ benutzt. Obwohl das Synagogengebäude nicht mehr der jüdischen Gemeinde gehörte, wurde es in der Nacht vom 9. auf den 10.November 1938 in Brand gesteckt, anschließend aber wieder gelöscht, um ein Übergreifen des Feuers auf die Nachbarhäuser zu vermeiden. Danach begannen meist einheimische SA-Angehörige und Feuerwehrleute mit dem Teilabbruch des Gebäudes. Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof an der Delmenhorster Straße wurden zerstört. Die letzten fünf männlichen jüdischen Bewohner wurden festgenommen und ins KZ Sachsenhausen abtransportiert.

                 Am 28.April 1939 erschien in der Lokalzeitung der folgende Artikel:

Wildeshausen wird frei von Juden. Erst kürzlich hat sich die Familie des Juden Goldstein nach Holland begeben, um dem Deutschen Reich den Rücken zu kehren. Mit großer Freude nehmen wir nun davon Kenntnis, daß auch der Jude Heinemann und die drei Judenfamilien de Haas Deutschland verlassen wollen. Diese Judenfamilien wandern nach Holland bzw. Shanghai aus. Mit ihrem Auswandern sind glücklich alle Juden aus Wildeshausen verschwunden.

Zu Kriegsbeginn wurden noch zehn Juden in Wildeshausen gezählt. Bis Mitte Mai 1940 mussten sie im Rahmen der „Evakuierung“ der Juden des Oldenburger Landes die Kleinstadt verlassen; sie siedelten nach Bremen über, wo sie gemeinsam mit Verwandten aus anderen Ortschaften in „Judenhäusern“ unterkamen; von hier aus erfolgte ihre Deportation nach Minsk.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." fielen nachweislich 14 gebürtige bzw. längere Zeit in Wildeshausen lebende jüdische Bürger dem Holocaust zum Opfer (namentliche Nennung der betreffenden Personen siehe: alemannia-judaica.de/wildeshausen_synagoge.htm).

Die nach Kriegsende stattgefundene strafrechtliche Verfolgung der am Pogrom in Wildeshausen Beteiligten führte schließlich dazu, dass das Verfahren 1948 eingestellt wurde; denn einige Hauptbelastete waren inzwischen verstorben, anderen konnte eine aktive Beteiligung nicht eindeutig nachgewiesen werden.

 

Nach Kriegsende kehrte nur eine einzige jüdische Familie wieder in ihre Heimatstadt zurück.

Am Standort der ehemaligen Synagoge in der Huntestraße ließ die Stadt 1997 eine schwarze granitene Gedenkstele - erstellt vom Künsler Carsten Bruns - errichten; eingraviert sind in den Stein die Namen der jüdischen NS-Opfer.

Nach jahrelangen kontroversen Diskussionen sind im Jahre 2014 zwölf sog. „Stolpersteine“ in Wildeshausen verlegt worden (Aufn. Landkreis, 2014).

Stolperstein für Bernhard de HaasStolperstein für Helene de Haas geb. GimnicherStolperstein für Moritz de HaasStolperstein für Sophie de Haas geb. van der ZylStolperstein für Ruth de Haas Stolperstein für Arthur Goldsteinin der Sägekuhle und Sögestraße (Aufn. Gmbo, 2016, aus: wikipedia.org, CCO)

             

                 Die noch etwa 85 vorhandenen Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof erinnern an einstige jüdische Ansässigkeit in der unmittelbaren Region.

  

       Jüdischer Friedhof in Wildeshausen (Aufn. W., 2009, aus: wikipedia.org, CCO und M.J.Schmidt, Oldenburg)   

            Grabsteine aus dem 19.Jahrhundert           

Nahe der Eingangspforte informiert eine bronzene Tafel wie folgt:

Dieser jüdische Friedhof wurde 1707 eingerichtet. Die letzte Beerdigung fand hier 1938 statt.

Eine jüdische Gemeinde gab es nachweislich seit dem 14.Jahrhundert in Wildeshausen.

Durch Tod und Vertreibung während der NS-Zeit fand die ehemalige jüdische Gemeinde zu Wildeshausen im Jahre 1940 ein trauriges Ende.

Durch die Pflege dieser letzten Ruhestätte ehrt die Stadt Wildeshausen das Andenken ihrer ehemaligen jüdischen Mitbürger.

Wildeshausen im November 1988

                                                                     Bürgerschaft Rat Verwaltung der Stadt Wildeshausen

                       Auf dem Friedhofsgelände befindet sich ein Mahnmal, das an die hier beerdigten polnischen/sowjetischen Kriegsgefangenen/Zwangsarbeiter erinnert.

 

[vgl. Harpstedt (Niedersachsen)]

 

 

 

Weitere Informationen:

Johannes-Fritz Töllner, Die jüdischen Friedhöfe im Oldenburger Land. Bestandsaufnahme der erhaltenen Grabsteine, in: "Oldenburger Studien 25", Oldenburg 1983, S. 595 - 648

Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu den Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Niedersachsen II (Reg.bezirke Hannover und Weser-Ems), Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1986, S. 163

Werner Meiners, Geschichte der Juden in Wildeshausen, in: "Oldenburger Studien", Band 30, Heinz Holzberg Verlag, Oldenburg 1988

Werner Meiners, Die jüdische Gemeinde in Wildeshausen und ihre Synagoge, in: Enno Meyer (Hrg.), Die Synagogen des Oldenburger Landes, Heinz Holzberg Verlag, Oldenburg 1988, S. 203 - 206

Werner Meiners, Juden im Landkreis Oldenburg - Verachtete Außenseiter und geachtete Mitbürger, in: " Der Landkreis Oldenburg. Menschen - Geschichte - Landschaft", Oldenburg 1992, S. 203 - 220

Werner Meiners, Juden im Landkreis Oldenburg 1918 - 1945. Politische Entwicklung - Ereignisse - Schicksale, Oldenburg 1995

Albrecht Eckhardt, Wildeshausen: Geschichte der Stadt von den Anfängen bis zum ausgehenden 20.Jahrhundert, in: "Oldenburgische Monographien", Oldenburg 1999

Werner Meiners (Bearb.), Nordwestdeutsche Juden zwischen Umbruch und Beharrung - Judenpolitik und jüdisches Leben im Oldenburger Land bis 1827, in: "Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen u. Bremen", Band 204, Hannover 2001, S. 83 - 94 u.a.

Werner Meiners (Bearb.), Wildeshausen, in: Herbert Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, Band 2, S. 1544 – 1551

Wildeshausen, in: alemannia-judaica.de (Anm. vor allem Informationen zur Erinnerungsarbeit vor Ort)

Peter Heinken, Die jüdische Gemeinde Wildeshausen in der Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945, in: Bürger- und Geschichtsverein Wildeshausen (Hrg.), „Und wir standen alle da und schauten zu“, "Wildeshauser Schriften für Heimat - Geschichte & Kultur", Bd. 10, Wildeshausen 2011, S. 20 – 45

Klaus Wenk (Red.), Unbekannte schänden jüdischen Friedhof, in: „Weser-Kurier“ vom 20.8.2013

Ute Winsemann (Red.), Zwölf Stolpersteine werden in Wildeshausen verlegt, in: „Weser-Kurier“ vom 23.2.2014

Stolpersteine in Wildeshausen. Eine Stadt erinnert an ihre jüdischen Bürgerinnen und Bürger, Flyer 2014

Auflistung der Stolpersteine in Wildeshausen, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Wildeshausen

Hans Begerow (Red.), Pogromnacht vor 80 Jahren. Hier brannten in der Region Gotteshäuser, in: „NWZ - Nordwest-Zeitung“ vom 9.11.2018

Martin Schmidt, Bilddokumentation des jüdischen Friedhofs, in: alemannia.judaica.de

Mario Haß, Der jüdische Friedhof in Wildeshausen – Bilddokumentation, 2021

Hergen Schelling (Red.), Juden in Wildeshausen. Digitales Erinnern mit Stolperstein-App, in: „NWZ - Nordwest-Zeitung“ vom 12.6.2021

Leif Rullhusen (Red.), „Die Bevölkerung hat zugesehen“, in: „Kreiszeitung“ vom 9.11.2021

N.N. (Red.), Erinnerung an die Pogromnacht 1930 in Wildeshausen – Gang führt vorbei an Stele und Stolpersteinen, in: „NWZ – Nordwest-Zeitung“ vom 27.10.2023