Wittmund/Ostfriesland (Niedersachsen)
Wittmund ist eine Stadt mit derzeit ca. 21.000 Einwohnern im Nordwesten Niedersachsens und Kreisstadt des gleichnamigen ostfriesischen Landkreises – knapp 25 Kilometer westlich von Wilhelmshaven bzw. nordöstlich von Aurich gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Wittmund', Hagar 2009, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Abb. O. 2007, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0
Erste Hinweise auf jüdisches Leben in Wittmund liegen aus dem 17.Jahrhundert vor; der erste konkrete Hinweis über die Anwesenheit von Juden im Ort stammt aus dem Jahre 1639, wo in einer Liste ein gewisser „Moyses Nathans zu Wittmund“ Erwähnung findet. In einem 1645 von Graf Ulrich II. ausgestellten Generalgeleitsbrief sind drei Juden aufgeführt (David Abrahams, Moyses Nathans und Gottschalk Isaacs).
In einem Bericht von Balthasar Arend (Pfarrer in Berdum) von 1684 heißt es: „Es haben auch die Juden durch obrigkeitliches Nachsehen schon über anderthalb hundert Jahre alhier ihre Schule und Zusammenkunft gehabt, müssen aber gleich den Mennisten Schutzgeld geben und zu dem Ende Schutzbriefe suchen und erhalten. Sie haben auch außerhalb dem Flecken an den Gärten einen Kirchhof liegen, welcher vor Zeiten aber viel größer gewesen sein soll, ohne es also zu wissen, woher es komme, daß er also verkleinert worden. Die Juden zu Esens und zur Neustadt in der Herrlichkeit Gödens bringen Ihre Toten auch zu diesem Friedhof und sind verpflichtet, diesen Kirchhof zugleich mit zu unterhalten.“
Mitte des 18.Jahrhunderts soll sich die Judenschaft des Fleckens Wittmund aus insgesamt etwa 65 Personen zusammengesetzt haben. Die meisten Wittmunder Juden lebten vom Schlachtergewerbe und vom Vieh- und Pferdehandel; später waren viele auch im Textil- und Geldhandel tätig.
Die Synagoge der orthodox ausgerichteten Gemeinde, ein kleiner einstöckiger Klinkerbau, wurde 1815/1816 in der Kirchstraße erbaut; zuvor hatten sich die Gemeindemitglieder zum Gottesdienst in einem Wohnhaus versammelt. Auch die Juden von Carolinensiel gehörten zur Gemeinde Wittmund.
Die Einweihungsfeier wurde im „Politischen Journal für die Provinz Ostfriesland” am 30. Januar 1816 bekannt gegeben:
... Schon längst wäre es unsere Schuldigkeit gewesen, allen edlen Gebern, welche uns zur Unternehmung des Baues einer Synagoge hülfreiche Hand geleistet haben, unsern verbindlichsten Dank abzustatten. Allein durchdrungen vom Gefühle, auch zugleich anzeigen zu können, daß jetzt dieser Bau vollendet, und der Tag der Einweihung auf den 9ten Februar festgesetzt ist, war die Ursache unseres Stillschweigens.
Wittmund, den 27.Januar 1816
Die Kirchenvorsteher der Israelitischen Gemeinde Sam. Arends Sal. Joh. Neumarck
Kirchstraße mit Synagoge, links in Bildmitte (hist. Postkarte, um 1920)
Nach Erlaubnis seitens der Landdrostei Aurich durften die Wittmunder Juden 1851 ein Gebäude für die Errichtung einer eigenen Elementarschule ankaufen; die kleine Schule in der Buttstraße besuchten um 1860 etwa 20 Kinder; ein neues, 1911 erbautes Schulgebäude nahm auch das Frauenbad auf.
zwei Kleinanzeigen aus: "Allgemeine Zeitung des Judentums" vom 11. Sept. 1877 und vom 24. Febr. 1880
Ein jüdischer Friedhof soll in Wittmund bereits im 17.Jahrhundert bestanden haben; dieser wurde auch von den Juden aus Esens und Neustadtgödens benutzt. Als das Begräbnisareal um 1690 belegt war, wurden Verstorbene aus Esens und Neustadtgödens nun nicht mehr in Wittmund begraben. Für verstorbene Wittmunder Juden diente fortan ein Gelände an der Finkenburgstraße als letzte Ruhestätte. 1899 kaufte die Gemeinde außerhalb Wittmunds ein Gelände an der Auricher Straße, das nun das inzwischen belegte Beerdigungsareal an der Finkenburgstraße ersetzte und von 1902 bis 1939 genutzt wurde.
Zur jüdischen Gemeinde gehörten zeitweise auch die in Altfunnixsiel und Carolinensiel lebenden jüdischen Personen
Juden in Wittmund:
--- 1645 ........................... 3 jüdische Familien,
--- 1676 ........................... 8 “ “ ,
--- 1714 ........................... 11 “ “ ,
--- 1749 ........................... 16 “ “ ,
--- 1802 ........................... 60 Juden (ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1829 ........................... 112 “ ,* * im Amt Wittmund
--- 1848 ........................... 109 “ (ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1861 ........................... 109 " ,
--- 1867 ........................... 93 “ ,
--- 1885 ........................... 86 “ ,
--- 1895 ........................... 81 “ (ca. 4% d. Bevölk.),
--- 1905 ........................... 71 “ (ca. 3% d. Bevölk.),* * andere Angabe: 89 Pers.
--- 1914 ........................... 66 “ ,
--- 1925 ........................... 53 “ ,
--- 1930 ........................... 45 “ ,
--- 1933/34 ........................ 41 “ (in 13 Familien),
--- 1939 ........................... 12 “ ,
--- 1940 (Dez.) .................... keine.
Angaben aus: Das Ende der Juden in Ostfriesland - Ausstellung der Ostfriesischen Landschaft ..., S. 69
und E.Eichenbaum/H.Hinrichs, Daten zur Geschichte der Juden in Wittmund ...
Zu Beginn des 19.Jahrhunderts zählte die jüdische Bevölkerung im Amte Wittmund mehr als 100 Personen; knapp die Hälfte der um 1830 hier lebenden Familien war bettelarm.
Geschäftsanzeige von 1875
Anmerkung: Die Familie Neumark gehörte zu den bekanntesten jüdischen Familien Wittmunds; ihr Stammbaum lässt sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen. 1811 hat Abraham Jacobs den Familiennamen "Neumark" angenommen. Moritz Neumark (geb. 1866 in Wittmund) war von 1906 bis 1934 Generaldirektor der Lübecker Hochofenwerke (vgl. dazu: Lübeck/Schleswig-Holstein).
Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebten in Wittmund 66 Juden; dies entsprach etwa 3% der damaligen Gesamtbevölkerung. In den folgenden Jahren ging der jüdische Bevölkerungsanteil weiter zurück.
Nach 1933 - die verbliebenen Wittmunder Juden waren nun vermehrt Repressalien ausgesetzt - verkleinerte sich die Gemeinde durch Abwanderung zusehends. Der letzte Prediger, Lehrer und Kantor, Abraham Strassfeld, emigrierte im März 1935 mit seiner Familie in die USA. Im Juni 1938 wurde das Synagogengebäude von der in Auflösung begriffenen jüdischen Gemeinde an einen ortsansässigen Geschäftsmann verkauft, der es alsbald abbrechen ließ. Aus dem „Jeverschen Wochenblatt” vom 2.Juni 1938:
... Der Judentempel in Wittmund verkauft.
Die schon seit längerer Zeit schwebenden Verkaufsverhandlungen über den Verkauf des in der Kirchstraße gelegenen Judentempels wurden nunmehr am gestrigen Dienstag nachmittag endgültig zum Abschluß gebracht. Das Gebäude wurde von dem Kaufmann Enno Cornelius für 1.600 RM erworben und wird nunmehr in absehbarer Zeit abgebrochen werden. Damit wird ein langersehnter Wunsch über die Beseitigung dieses unansehnlichen Gebäudes ... erfüllt werden. Hoffentlich wird nun auch alsbald der uralte Judenfriedhof von der Judengemeinde aufgegeben und dieser unansehnliche Platz an der Finkenburgstr. für eine zweckvollere Verwendung freigegeben. Denn jetzt ist dieser Platz nur ein großer Unkrautgarten, genau sowie die Juden für unser Volk das größte Unkraut waren.
Abbruch des Synagogengebäudes (hist. Aufn., 1938, Stadtarchiv)
Bald darauf wurde auf dem Gelände des Friedhofs ein Luftschutzbunker errichtet. Die meisten jüdischen Bewohner waren 1938 bereits emigriert, vor allem in die USA. Beim Novemberpogrom von 1938 kam es in Wittmund zu schweren Ausschreitungen: Scheiben der jüdischen Schule wurden eingeworfen, jüdische Bewohner aus ihren Häusern geholt, auf den Marktplatz getrieben und mehrere Stunden dort eingesperrt. Während die SA bzw. die Polizei die Frauen wieder auf freien Fuß setzte, wurden neun Männer ins KZ Sachsenhausen verschleppt.
Im Frühjahr 1940 mussten auf Grund eines Evakuierungsbefehls der Gestapo-Leitstelle Wilhelmshaven die letzten zwölf Wittmunder Juden ihre Heimatstadt verlassen (diese Weisung galt für alle Juden Ostfrieslands). Sie mussten sich andere Wohnungen innerhalb Deutschlands (mit Ausnahme Hamburgs und der linksrheinischen Gebiete) suchen. Am 16.April 1940 wurde dann Wittmund vom Kreisoberinspektor für „judenrein“ erklärt. Wem nicht rechtzeitig seine Emigration gelang, der wurde dann von seinem neuen Aufenthaltsort deportiert. Von den in den Jahren nach 1933 in Wittmund noch ansässigen jüdischen Bewohnern fielen 14 dem Holocaust zum Opfer.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ wurden insgesamt 36 aus Wittmund stammende bzw. hier längere Zeit ansässig gewesene jüdische Bürger Opfer der „Endlösung“ (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/wittmund_synagoge.htm).
Nach Kriegsende kehrte keiner der überlebenden Wittmunder Juden hierher zurück.
Gedenkplakette (Aufn. M. Süßen, 2006, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Seit 1996 erinnert eine in das Pflaster der Kirchstraße eingelassene Bronzeplakette in Form eines Davidsterns an den ehemaligen Standort der Synagoge Wittmunds. Von Seiten des Heimatvereins Wittmund wurden später mehrere Tafeln hier aufgestellt, die in Text und Bild über die jüdische Lokalgeschichte informieren.
Gebäude der ehem. jüdischen Schule (Aufn. M. Süßen, 2006)
Denkmal auf dem jüdischen Friedhof (alle Aufn. J. Hahn, 2010)
Ein aus drei Ziegelsteinmauern bestehendes Denkmal wurde 2000 auf dem (neuen) jüdischen Friedhof in Wittmund-Willen an der Auricher Straße eingeweiht; auf diesem sind die Namen der aus Wittmund stammenden Juden verzeichnet, die Opfer der Shoa geworden sind.
Auf dem alten jüdischen Friedhof an der Finkenburgstraße sind heute nur noch zehn Grabsteine vorhanden.
Gräberreihe - alter jüdischer Friedhof (Aufn. M. Süßen, 2006, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
neuer jüdischer Friedhof an der Auricher Straße (Aufn. P. 2006, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
2024 wurden in Wittmund die ersten zehn „Stolpersteine“ verlegt; so erinnern jeweils vier Steine an die Schicksale der Familie von Nathan Löwenstein und des Ehepaares Isaak u. Agnes Hess mit ihren beiden Kindern.
verlegt in der Klusforder Str. (Aufn. M. Hochmann)
Weitere Informationen:
Günter Heuzeroth (Hrg.), Unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus 1933-1945 dargestellt an den Ereignissen im Oldenburger Land - Band II: Verfolgte aus rassischen Gründen, Hrg. vom Zentrum für pädagogische Berufspraxis, Oldenburg 1985, S. 163 f.
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Niedersachsen II: Regierungsbezirke Hannover und Weser-Ems, Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1986, S. 197
E.Eichenbaum/H.Hinrichs (Bearb.), Daten zur Geschichte der Juden in Wittmund ..., in: H.Reyer/M.Tielke (Hrg.), Frisia Judaica - Beiträge zur Geschichte der Juden in Ostfriesland, Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 1988 (1991), S. 171 f.
Das Ende der Juden in Ostfriesland - Ausstellung der Ostfriesischen Landschaft aus Anlaß des 50.Jahrestages der Kristallnacht, Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 1988, S. 69 f.
Albert Marx, Geschichte der Juden in Niedersachsen, Fackelträger-Verlag GmbH, Hannover 1995
Werner Teuber, Jüdische Viehhändler in Ostfriesland und im nördlichen Emsland 1871 – 1942. Eine vergleichende Studie zu einer jüdischen Berufsgruppe in zwei wirtschaftlich und konfessionell unterschiedlichen Regionen, in: "Schriften des Instituts für Geschichte und Historische Landesforschung", Band 4, Cloppenburg 1995
Désirée Warntjen, Spuren suchen - Spuren bewahren: Jüdische Familien in Wittmund, in: "Ostfriesland-Magazin", 11/2001, S. 56 - 59
Edzard Eichenbaum, Die Wittmunder Synagoge: Gegen das Vergessen, 1816 - 1938. 122 Jahre, in: "Heimatkundliche Blätter", Hrg. Heimatverein Wittmund e.V., Heft 1/2002, Wittmund 2002
Edzard Eichenbaum, Die jüdische Schule in Wittmund und ihre Lehrer, in: "Heimatkundliche Blätter", Hrg. Heimatverein Wittmund e.V., Wittmund 2005
Daniel Fraenkel (Bearb.), Wittmund, in: Herbert Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, Band 2, S. 1567 - 1573
Edzard Eichenbaum, Genealogie der jüdischen Familien aus Wittmund und Carolinensiel, Wittmund 2010
Helmut Hinrichs, Aus der Geschichte der früheren jüdischen Gemeinde in Wittmund: 50 hier geborene Juden mussten für den Rassenwahn der Nationalsozialisten ihr Leben lassen, in: "Harlinger Heimatkalender 2011", S. 65 – 71
Wittmund mit Altfunnixsiel und Carolinensiel, in: alemannia-judaica.de
Reise ins jüdische Ostfriesland, Hrg. Ostfriesische Landschaft – Kulturagentur, Aurich 2013
Kim-Christin Hibbeler (Red.), Erinnern an Schicksal der Juden – Heimatverein holt Stolpersteine nach Wittmund, in: „NWZ – Nordwest-Zeitung“ vom 2.11.2023
Kim-Christin Hibbeler (Red.), „Man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen“. Erste Stolpersteinverlegung in Wittmund, in: „NWZ – Nordwest-Zeitung“ vom 23.2.2024
Manfred Hochmann (Red.), Von den Nazis ermordet - „Stolpersteine“ erinnern an Familie Löwenstein, in: „Ostfriesen-Zeitung“ vom 29.2.2024
Werner Jürgens (Red.), Reise in jüdische Geschichte Ostfrieslands – Neues Internetportal “Frisia Judaica“ dokumentiert Historie der ehemaligen zwölf Gemeinden, in: „Rheiderland - Unabhängige Heimatzeitung“ vom 23.10.2024
Frisia Judaica (Red.), Wittmund - Auf den Spuren des jüdischen Erbes in Ostfriesland und den Nachbarregionen, online abrufbar unter: frisia-judaica.de/wittmund/
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