Wriezen/Oder (Brandenburg)
Wriezen (vorher auch: Wrietzen) ist eine Kleinstadt mit derzeit ca. 5.200 Einwohnern (ohne Ortsteile) im Landkreis Märkisch-Oderland – etwa 50 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, CCO und Kartenskizze 'Landkreis Märkisch-Oderland', aus: ortsdienst.de/brandenburg/maerkisch-oderland).
Wriezen und Umgebung - Schmettausches Kartenwerk um 1780 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Wriezen an der Oder - Kupferstich um 1650
Der erste urkundliche Beleg für die Ansässigkeit einer jüdischen Familie in Wriezen stammt aus der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts; dabei handelt es sich um einen im Jahre 1677 ausgestellten „Geleit- und Schutzbrief auf Writzen“, den Moses Lewin mitsamt seiner Familie vom brandenburgischen Kurfürsten ausgestellt worden war. Allerdings sollen sich bereits zu Beginn des 16.Jahrhunderts Juden vorübergehend in Wriezen aufgehalten haben (?). Bis Mitte des 18.Jahrhunderts werden in Quellen nur vereinzelt Juden in Wriezen erwähnt. Während des gesamten 18. Jahrhunderts durften sich nur sechs Familienväter in Wriezen niederlassen, da Schutzbriefe damals äußerst restriktiv erteilt wurden. Ihren kärglichen Lebensunterhalt bestritten sie vornehmlich als Hausierer in den Dörfern des Umlandes. „... Es ist ein würcklicher Irrtum, wenn man glaubt, daß die Juden allhier Vermögen haben. Sie sind wohl an keinem Ort ärmer als hier, weil Bürger großentheils in schlechte Umstände und folglich das Gewerbe der Juden nur schlecht.“ (aus: Schreiben des Magistrats, 1765)
Ihre Gottesdienste hielten die Wriezener Juden zunächst wechselweise in ihren Privathäusern ab. Anfang der 1820er Jahre wurde in einem angekauften Haus in der Mauerstraße ein Betraum eingerichtet. Wegen des zunehmend schlechten Bauzustandes des Gebäudes ließ die jüdische Gemeinde in den 1880er Jahren an gleicher Stelle einen repräsentativen Synagogenneubau (Zugang von der Gartenstraße) errichten, der 1886 eingeweiht wurde.
neue Synagoge in Wriezen (hist. Aufn. um 1890)
Bis zu Beginn des 18.Jahrhunderts unterhielten die wenigen jüdischen Familien jeweils ihren eigenen „Schulmeister“; erst frühestens seit ca. 1740/1750 sollen die Kinder gemeinsam unterrichtet worden sein. Die Gemeinde stellte fortan nur einen Religionslehrer, der auch die Funktionen des Schächters und Vorbeters übernahm. Da die wirtschaftliche Lage der Gemeindemitglieder in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eher bescheiden war, war man bestrebt, die Kosten für den Lehrer so gering als möglich zu halten. So hatte man im Jahre 1820 wieder einmal einem Lehrer gekündigt, um einen „billigeren“ anzustellen. Als Begründung gab man an: „Wir brauchen keinen Schullehrer, da unsere Kinder an der hier eingerichteten Elementar und Bürgerlichen Schule mit antheil nehmen. Der so genannte Schulmeister führt nur den Namen, wir brauchen ihn aber nur zum Schächten der Rinder. Der Unterricht, den er den Kindern giebt, bestehet im Hebräisch lesen, da die Übersetzung der täglichen Gebete schon von dem Sel. Herrn Mendelssohn und mehreren Gelehrten unserer Zeit geschehen ist. Unsere Gemeinde bestehet aus 12 Hausvätern und ist eine solche nicht imstande, einen solchen Mann zu salarieren, der die Fähigkeit besitzt, sich dem Exam unterwerfen zu können. Daher wollen wir unterthänigst bitten, uns zu erlauben, einen Koller nehmen zu dürfen, der bloß ein Attest des Vice Ober Land Rabbiners beibringen kann und nicht die Exam und höhere Wissenschaften unterworfen sein soll.“
Zunächst wurden die verstorbenen Juden Wriezens am Fuße des Galgenberges in Freyenwalde (heute: Bad Freienwalde) beerdigt. Um 1730 erwarb die Judenschaft weit außerhalb des Ortes, „An der alten Schinderkute“, einen eigenen kleinen Begräbnisplatz; dieses Areal wurde im Laufe des 19.Jahrhunderts zweimal erweitert. Der älteste lesbare Grabstein stammt aus dem Jahr 1782; die letzte Beisetzung fand hier 1940 statt. Auf dem Wriezener Friedhof wurden auch Verstorbene der Dörfer Altreetz, Haselberg, Letschin, Neubarnim, Neulewin, Neutrebbin, Prötzel und Sietzig beerdigt.
Um 1930 schlossen sich die Neutrebbiner Juden der Wriezener Synagogengemeinde an.
Juden in Wriezen:
--- um 1750 ........................... 6 ‘Schutzjuden’-Familien,
--- 1787 .............................. 46 Juden (in 11 Familien),
--- 1801 .............................. 42 “ (in 7 Familien),
--- 1848 .............................. 117 Juden,
--- 1855 .............................. 16 jüdische Familien,
--- 1859 .............................. 32 “ “ (mit umliegenden Dörfern),
--- um 1895 ....................... ca. 150 Juden,
--- 1910 .............................. 109 “ ,
--- um 1930 ....................... ca. 130 “ ,
--- 1933 .............................. 127 “ ,
--- 1935 .......................... ca. 115 “ .
Angaben aus: Irene Diekmann/Julius H.Schoeps (Hrg.), Wegweiser durch das jüdische Brandenburg, S. 246 f.
Die neu gewonnene Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit führte dazu, dass sich ab den 1820er Jahren die Wriezener jüdische Gemeinschaft rasch vergrößerte; vor allem aus dem Großherzogtum Posen waren etliche Zuzüge zu verzeichnen. Die meisten Juden in Wriezen lebten Mitte des 19.Jahrhunderts vom Handel. Der in Wriezen lebende Gerson Jacob war der Stammvater des bekannten Berliner Bankhauses Gerson v. Bleichröder; in Zusammenarbeit mit dem Hause Rothschild erlangte das Bankhaus Ende des 19.Jahrhunderts internationale Bedeutung. Wegen seiner Verdienste als Finanzberater von Bismarck wurde Gerson Bleichröder sogar in den Adelsstand erhoben.
Ansicht von Wriezen, um 1900 (Abb. aus: philaseiten.de)
Zu Beginn der 1930er Jahren lebten in Wriezen etwa 130 jüdische Bewohner. Doch in den Folgejahren verließen viele Familien die Stadt – zumeist in Richtung Berlin, um dort in der Anonymität der Großstadt ihre jüdische Identität zu verbergen.
In den Morgenstunden des 10.November 1938 wurde die Synagoge in der Mauerstraße durch drei einheimische SA-Männer in Brand gesetzt; die Feuerwehr war an der Brandstelle, griff aber nicht ein und ließ das Synagogengebäude "kontrolliert" niederbrennen.
Das Ruinengrundstück wurde wenig später "auf Abbruch" verkauft; bei der Enttrümmerung des schwer zerstörten Ortes wurde gegen Ende der 1940er Jahre auch die Synagogenruine dem Erdboden gleichgemacht.
Über das Ende jüdischen Lebens in Wriezen gibt es kaum schriftliche Informationen. Vermutlich wurden ca. 60 gebürtige bzw. länger am Ort lebende Bewohner israelitischen Glaubens - die meisten waren zuvor nach Berlin verzogen - Opfer der „Endlösung“ (in Riga und Auschwitz-Birkenau ermordet).
(namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: Brigitte Heidenhain, Juden in Wriezen - Ihr Leben in der Stadt von 1677 bis 1940, S. 98/99)
Nur wenigen gelang eine Emigration/Flucht ins Ausland.
Im Jahre 1988 - zum 50.Jahrestag der Wiederkehr des Novemberpogroms von 1938 - wurde am ehemaligen Standort der Synagoge eine Gedenktafel enthüllt; deren unter der Abbildung eines Davidsterns angebrachte Inschrift lautet:
1821 erwarb die jüdische Gemeinde diesen Baugrund und errichtete eine Synagoge.
In der Pogromnacht vom 9. bis 10.11.1938 wurde sie von den Faschisten durch Brand zerstört.
Wriezen im November 1988
Aufn. C. Franz, 2013, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Diese Gedenktafel wurde in jüngster Vergangenheit schon mehrfach von "Unbekannt" geschändet.
2013 wurden die ersten sog. „Stolpersteine“ verlegt; sie sollen an die beiden ermordeten Wriezener Juden, Bruno Moses und Max Goldberg, erinnern (Aufn. Chr. Michelides, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0).
Der relativ großflächige jüdische Friedhof am heutigen Siedlungsweg (mit ca. 1.600 m²) besitzt - trotz Verwüstungen in der NS-Zeit - noch ca. 130, teilweise sehr alte, kunstvoll gefertigte Grabsteine und zählt damit zu einem der am besten erhaltenen Friedhöfe im Oderland; in den 1980er Jahren wurde die Grabanlage grundlegend restauriert. Das Gelände wurde 1993 durch rechtsradikale Jugendliche schwer geschändet.
Jüdischer Friedhof in Wriezen (Aufn. Clemens Franz, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
ältere Grabsteine (Aufn. Jörg Fuhrmann, 2020, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 4.0)
Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts schlossen sich die in Letschin und umliegenden Orten wohnenden Juden zu einer zunächst privaten Betgemeinschaft zusammen. Anfang der 1860er Jahre wurde der Sitz der Gemeinschaft nach Groß Neuendorf verlegt.
In Groß Neuendorf a. d. Oder - etwa 20 Kilometer östlich von Wriezen gelegen und heute Ortsteil der Kommune Letschin - gab es einen kleinen jüdischen Gemeindeverband, der Mitte des 19.Jahrhunderts gegründet und zunächst von Letschin verwaltet wurde; nach 1864 war dann Groß Neuendorf neuer Verwaltungssitz. Zum Synagogenverband gehörten ab den 1860er Jahren auch die Orte Gerickensberg, Ortwig und Sophienthal. Aus der Anfängen der Gemeinde stammt auch ein Begräbnisgelände, das in der NS-Zeit und während der DDR-Zeit weitgehend zerstört wurde.
Anm.: Der Friedhof und die Synagoge waren Stiftungen von Michael Sperling (1803-1866).
Die einflussreichsten Mitglieder der Gemeinde kamen aus der Familie des Berliner jüdischen Kaufmanns Michael Sperling, für die der Ort Mittelpunkt ihres Getreidehandels war. In der um 1865 erbauten Synagoge fand 1910 der letzte Gottesdienst statt, zu einer Zeit, als die kleine Gemeinde bereits mehr als ein Jahrzehnt mit dem Seelower Synagogenbezirk vereinigt war und damit ihre Selbstständigkeit verloren hatte. Das Synagogengebäude wurde nach 1910 als Wohnhaus genutzt. Es steht inzwischen unter Denkmalschutz und soll - so weit wie irgend möglich - restauriert werden, um so die letzte, noch baulich vorhandene Dorfsynagoge im Oderbruch der Nachwelt zu erhalten. Nur durch die noch deutlich sichtbaren (aber zugemauerten) Spitzbogenfenster hebt sich das Gebäude von den übrigen Häusern ab.
Ehem. Synagogengebäude in Groß Neuendorf (links: Aufn. aus: letschin.de - rechts: Aufn. aus: rotofo)
Das restaurierte Friedhofsareal am Parkweg mit seinen ca. 30 Grabsteinen – der älteste soll aus dem Jahre 1842 (!) datieren - macht heute einen gepflegten Eindruck; denn Anfang der 1990er Jahre war das mehrfach geschändete Begräbnisareal von einer Jugendgruppe wieder hergerichtet worden.
Blick auf den Friedhof (Aufn. Krank-Hover, 2017, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Weitere Informationen:
Reinhard Schmook, Jüdische Reminiszenzen im Oderland, in: "Nachrichtenblatt des Vorstandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR", Sept. 1985, S. 8 - 11
Helmut Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR, Dresden 1990, Band I, S. 485 - 487
Zeugnisse jüdischer Kultur - Erinnerungsstätten in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Tourist Verlag GmbH, Berlin 1992, S. 112 - 115
M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: "Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum", Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 384 – 386 (Groß Neuendorf) und S. 670 – 674 (Wriezen)
Reinhard Schmook (Bearb.), Wriezen, in: Irene Diekmann/Julius H.Schoeps (Hrg.), Wegweiser durch das jüdische Brandenburg, Edition Hentrich, Berlin 1995, S. 246 - 252
Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus - Eine Dokumentation II, Hrg. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1999, S. 373/374
Michael Brocke/Christiane E. Müller, Haus des Lebens - Jüdische Friedhöfe in Deutschland, Reclam Verlag, Leipzig 2001, S. 223
Wolfgang Weißleder, Der Gute Ort - Jüdische Friedhöfe im Land Brandenburg, hrg. vom Verein zur Förderung antimilitaristischer Traditionen in der Stadt Potsdam e.V., Potsdam 2002, S. 69
Brigitte Heidenhain, Juden in Wriezen - Ihr Leben in der Stadt von 1677 bis 1940 und ihr Friedhof, Universitätsverlag Potsdam, Potsdam 2007 (Anm. mit Dokumentation der erhaltenen hebräischen Grabinschriften)
Reinhard Schmook, Zum Umgang mit jüdischen Spuren im Oderbruch (Barnim – Lebus), in: Transodra Online (2007)
Reinhard Schmook (Bearb.), Oderbruch – Wriezen und Groß Neuendorf, in: Irene A. Diekmann (Hrg.), Jüdisches Brandenburg. Geschichte und Gegenwart, Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Band 5, Berlin 2008, S. 253 - 261 (Wriezen) und S. 265 – 268 (Groß Neuendorf)
Jörg Kritzler, Geschichte der Stadt Wriezen – eine chronologische Übersicht, Kunersdorf 2008
Christina Schmidt (Red.), Stolpersteine erinnern an jüdisches Leben, in: „MOZ - Märkische Oderzeitung“ vom 25.9.2013
Brigitte Heidenhain (Red.), Geschichte der jüdischen Gemeinde in Wriezen und der jüdische Friedhof, in: Universität Potsdam - Institut für jüdische Studien und Religionswissenschaft (Hrg.), Jüdische Friedhöfe in Brandenburg, online abrufbar unter: uni-potsdam.de (2016)
Brigitte Heidenhain (Red.), Geschichte der jüdischen Gemeinde in Groß Neuendorf und der jüdische Friedhof, in: Universität Potsdam - Institut für jüdische Studien und Religionswissenschaft (Hrg.), Jüdische Friedhöfe in Brandenburg, online abrufbar unter: uni-potsdam.de (2016)
Jüdischer Friedhof Groß-Neuendorf (mit zahlreichen Aufnahmen), in: commons.wikimedia.org/wiki/Category:Jüdischer_Friedhof_(Groß_Neuendorf)
Nadja Vogt (Red.), Pogromnacht – Gedenktafel enthüllt, in: „MOZ - Märkische Oderzeitung“ vom 10.11.2018 (Anm. die Gedenktafel wurde bereits 1988 angebracht!)
Nadja Voigt (Red.), Empörung über abgerissene Gedenktafel der Synagoge in Wriezen, in: „MOZ – Märkische Oder-Zeitung“ vom 4.1.2021