Zürich (Schweiz)
Das im Norden der Schweiz liegende Zürich mit derzeit mehr als 420.000 Einwohnern ist eines der bedeutendsten Zentren der globalen Banken- u. Finanzwirtschaft (Übersichtskarte der Schweiz, Maximilian Dörrbecker, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 2.5).
1273 wird die Existenz von Juden in der Stadt Zürich erstmals urkundlich erwähnt; doch dürften sie bereits einige Zeit früher in der Stadt gelebt haben. Eine kleine jüdische Gemeinde, die damals aus nicht mehr als 15 Haushalten bestand, bildete sich im ausgehenden 13./beginnenden 14. Jahrhundert. Ihre Angehörigen stammten zumeist aus süddeutschen Städten. Sie wohnten im Umkreis von Rindermarkt, Brunngasse, Niederdorf, namentlich an der "Judengasse", der heutigen Froschaugasse. Die Synagoge - 1363 erstmals urkundlich genannt - lag ebenfalls in der "Judengasse"; unterhalb des Lindentors, am Wolfbach, begruben die Züricher Juden ihre Verstorbenen auf einem eigenen Friedhofsgelände (seit ca. 1385).
Von den christlichen Stadtbewohnern mussten sich Juden strikt abgrenzen; jedwede persönliche Bindungen waren verboten, Verstöße entsprechend verfolgt. Von den gewalttätigen Ausschreitungen im Zuge der Pest-Pogrome waren auch die Angehörigen der Züricher Gemeinde betroffen; so verbrannten im Febr. 1349 die Zürcher fast 100 jüdische Bewohner. Deren Eigentum ging in die Hände von christlichen Zürchern über, wobei sich der damalige Bürgermeister Rudolf Brun den Löwenanteil sicherte. Der habsburgischen Landesherrschaft war es aber zuvor noch gelungen, mehrere hundert Juden vor dem „Volkszorn“ auf der Kyburg in Sicherheit zu bringen.
Unter dem Schutz des Züricher Stadtrates konnten jüdische Familien in den folgenden Jahrzehnten erneut in Zürich leben, allerdings wurden sie immer vom örtlichen Mob bedroht. Das Ende der mittelalterlichen Züricher Gemeinde kam im 15.Jahrhundert, als die Kirche das Verbot des Kreditgeschäfts für Christen lockerte und deshalb Juden nicht mehr für diese Dienstleistung gebraucht wurden. 1423 ließ der Magistrat die hier ansässigen Juden ausweisen, indem ihre Aufenthaltsbewilligungen nicht mehr verlängert wurden; wenige Jahre später hatte dann der letzte jüdische Stadtbewohner Zürich verlassen. Die Synagoge ging nun in christlichen Privatbesitz über, die Grabsteine des jüdischen Friedhofs wurden zum Bau der Stadtmauer zweckentfremdet.
älteste bildliche Darstellung der Stadt Zürich - Altartafeln im Züricher Münster, um 1490 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
In den folgenden Jahrhunderten war den Juden der ständige Aufenthalt in Zürich verboten; nur in Einzelfällen durften sie tagsüber die Stadt aufsuchen. Bis Anfang des 19.Jahrhunderts blieben die den Juden auferlegten wirtschaftlichen Beschränkungen im Gebiet des Kanton Zürich erhalten; nur wenigen wohlhabenden Familien war inzwischen ein Wohnrecht in der Stadt zugestanden worden. Erst nach 1840/1850 erleichterten gesetzliche Bestimmungen des Kantons Zürich die Niederlassung von Juden in der Stadt; völlige Freizügigkeit auf Bundesebene wurde aber erst in den 1860er Jahren zugestanden. Im Zuge der ab Mitte des 19.Jahrhunderts einsetzenden Emanzipation verließen die allermeisten Juden die Dörfer und verzogen in die großen Städte; Basel, Genf und Zürich wurden die neuen Zentren der Schweizer Judenschaft. Die Basis der sich bildenden Züricher jüdischen Gemeinde bildeten Juden aus den aargauischen Dörfern Endingen und Lengnau; außerdem stießen bald Zuwanderer aus südbadischen und elsässischen Dörfern hinzu.
[vgl. Endingen und Lengnau (Schweiz)]
Blick auf Zürich um 1885 (Abb. Zentralbibliothek Zürich, aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Die älteste jüdische Gemeinde Zürichs ist die Israelitische Cultusgemeinde (ICZ), die sich 1862 - nur wenige Tage nach dem Inkrafttreten des Emanzipationsgesetzes - gründete. In den folgenden beiden Jahrzehnten setzte sich die Gemeinde nur aus etwa 20 bis 30 Familien zusammen. Sie errichtete 1884 ihre neue große Synagoge an der Löwenstraße außerhalb der Stadt, nachdem zuvor ein Betlokal an der Brunnengasse bzw. am Sechseläutenplatz bestanden hatte.
Synagoge an der Löwenstraße (hist. Abb./Postkarte)
In der „Neuen Züricher Zeitung“ erschien am 18.Sept. 1884 ein ausführlicher Artikel über die aufwändige Einweihungsfeier; darin hieß es u.a.:
Die Synagogen-Weihe in Zürich ... darf als eine in jedem Betracht gelungene Festlichkeit bezeichnet werden und war auch von dem prächtigen Herbstwetter begünstigt. ... bis endlich nach 3 Uhr die geladenen Gäste, angeführt von dem Gemeindevorstand und dem Vertreter des Regierungsrathes, Herrn Dr. Stössel, und begleitet von der zahlreichen Schuljugend ... heranrückten. Damit war das Signal zum Eintritt oder viel mehr zum Einbruch in die Synagoge gegeben. Man hatte vergessen, die beiden Flügel der Thüren zu öffnen und so entstand ein gedränge und Geschiebe, ein allgemeines Sauve qui peut, in welchem man sich redlich bemühte über Vorder- und Hintermann weg sich ins Heiligtum und an einen möglichst guten Platz durchzufechten. ... Die Rollen, mit farbigem Sammet umkleidet und mit metallenen Glöckchen behangen, wurden dem Rabbiner übergeben, der sie in der heiligen Lade verschloß. Ein rotseidener, mit goldenen Lettern durchwirkter Vorhang trennt nun das Allerheiligste von dem Heiligen, ein Sinnbild der unnahbaren göttlichen Majestät. Hebräische Weisen vom Harmonium begleitet und vom Synagogenchor vorgetragen, erklingen zu dem feierlichen Akte. Hierauf tritt der Rabbiner Dr. Engelbert aus St. Gallen vor das Vorlesepult und beginnt ... die Festpredigt. ... aber der Schluß der Rede darf nicht unerwähnt bleiben, da der Redner dem allgemein menschlichen Gedanken Ausdruck gab, es werde einst eine Zeit kommen, wo alle Menschen durch Glaube und Liebe zu einem Bunde der Menschlichkeit sich vereinen, wo das Reich der Wahrheit, des Lichtes und des Friedens sich verwirklichen wird. Das israelitische Gotteshaus ist bestimmt, zu diesem Endziel das Seinige beizutragen. ...
Das im neo-maurischen Stile errichtete Synagogengebäude bot mehr als 500 Personen Platz und war damit für die damalige Gemeindegröße stark überdimensioniert. Seit 1865 verfügte die Cultusgemeinde Zürich am Unteren Friesenberg über einen eigenen Friedhof.
Stellenausschreibung in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 12.5.1892
Ausschreibung von Funktionsstellen der Cultusgemeinde Zürich aus den Jahren 1869 und 1876:
Von der 1862 gegründeten Gemeinde spaltete sich 1895 die „Israelitische Religionsgesellschaft“ (IRG) ab; der Grund lag darin, dass die ICZ als „zu wenig religiös” empfunden wurde; der IRG schlossen sich auch einige jüdische Immigranten aus Osteuropa an. Ihre Gottesdienste hielt die IRG nach streng-traditionellem Ritus in Betlokalen ab, ehe die aus ca. 25 Familien bestehende religiöse Gemeinschaft im Jahre 1924 ein neues Synagogengebäude in der Freigutstraße errichtete. Sie verfügte auch über eine eigene Begräbnisstätte, die 1899 am Steinkluppenweg angelegt worden war.
Ausschreibung der Rabbinerstelle von 1911
Ein Jahr später wurde die Rabbinerstelle mit dem früheren Oberrabbiner von Kopenhagen besetzt.
aus: „Allgemeine Zeitung des Judentums“ vom 6.9.1912
Um 1890 bildeten hinzugezogene osteuropäische Juden wegen ihrer religiös-orthodoxen Grundhaltung eine eigene Betgemeinschaft; die orthodoxe Gemeinde „Agudas Achim“ wurde aber erst Mitte der 1920er Jahre offiziell gegründet. Ihr Betlokal lag zuerst in der Bertastraße, danach in der Erikastraße. Einen eigenen Friedhof unterhielt die Gemeinschaft in Zürich-Albisrieden.
Die vierte jüdische Gemeinde in Zürich entstand erst 1978; sie heißt „Or Chadach“ (= „Neues Licht“) und ist liberal ausgerichtet. Seit 1901 besaß die jüdische Bevölkerung ein eigenes Publikationsorgan, das „Israelitische Wochenblatt”.
Juden in Zürich:
--- 1850 ............................ 56 Juden,
--- 1860 ............................ 88 “ ,
............................ 160 “ ,* * im Kanton Zürich
--- 1870 ............................ 395 “ ,
--- 1880 ............................ 806 “ ,
--- 1900 ............................ 2.713 “ ,
--- 1910 ............................ 5.244 “ ,
--- 1920 ............................ 6.662 “ ,
--- 1930 ............................ 5.728 “ ,
--- 1941 ............................ 6.175 “ ,
--- 1950 ............................ 6.532 “ ,
--- 1970 ............................ 6.713 “ ,
--- 1980 ............................ 6.039 “ ,
--- 1990 ............................ 6.252 “ ,
--- 2000 ............................ 6.461 “ .
Angaben aus: Alfred A. Häsler (Bearb.), Juden in Zürich, Hrg. Israelitische Cultusgemeinde Zürich, 1981, S. 9 und S. 25
und Historische Statistiken eidgenössischer Volkszählungen
Ende des 19. Jahrhunderts verstärkte sich die Zuwanderung osteuropäischer Juden in die Schweiz; um 1920 waren 55% der hier lebenden Juden Ausländer. Die hohe Wirtschaftskraft Zürichs war ursächlich für die enorm hohe Zuwanderungsquote von auswärtigen Juden. Dagegen versuchte der Züricher Stadtrat durch restriktive Auslegung der Aufnahmegenehmigungen vorzugehen: Nur diejenigen „Ostjuden“ sollten das Bürgerrecht erhalten, die mindestens 15 Jahre in der Stadt lebten, die deutsche Sprache und Schrift beherrschten sowie „durch ihre berufliche Tätigkeit und ihre häuslichen Verhältnisse gut angepaßt und als nützliche Elemente ... der Volkswirtschaft [sich] erwiesen” hatten. Diese Regelungen wurden 1936 wieder aufgehoben.
Anzeigen aus: „Jüdisches Jahrbuch für die Schweiz", 1917
Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre fanden in Zürich - wie auch in anderen Schweizer Städten - antisemitische Gruppierungen zunehmend Gehör; sie zogen „gegen eine Überfremdung“ zu Felde. Angehörige der sog. „Nationalen Front” marschierten - nach dem Vorbilde der SA - durch die Straßen, pöbelten und belästigten stadtbekannte Juden und machten auch vor Anschlägen auf Synagogen nicht halt; so gab es im April 1924 eine regelrechte ‚Hakenkreuz-Welle’, die mit Hausschmierereien und Drohbriefen verbunden war. Auch von behördlicher Seite wurde diese antijüdische Grundstimmung aufgenommen; so wurden Einbürgerungsgesuche von Juden nur schleppend behandelt und ihnen Sonderbestimmungen auferlegt. In den 1930er Jahren machte sich der Antisemitismus in Zürich noch stärker bemerkbar; die Stadt war inzwischen zu einer Hochburg der schweizerischen Nationalsozialisten geworden. Im Umfeld des „Frontenfrühlings“ kam es im Dezember 1934 zu einem Anschlag auf die Synagoge der Israelitischen Religionsgemeinschaft Zürich an der Freigutstraße. (Anm. Bereits im Sommer 1933 hatten Frontisten den Innenraum der Luzerner Synagoge verwüstet.)
Die Israelitische Cultusgemeinde war damals vor besondere Aufgaben gestellt: neben der materiellen Hilfe für die von der Weltwirtschaftskreise betroffenen Gemeindeangehörigen stand die Unterstützung der wachsenden Zahl oft mittelloser jüdischer Flüchtlinge aus NS-Deutschland im Vordergrund.
In dem vom „Israelitischen Frauenverein Zürich“ gegründeten Kinderheim Wartheim in Heiden (südlich von Bern) wurden Ende der 1930er Jahre auch jüdische Flüchtlingskinder aus Deutschland u. Österreich aufgenommen.1945 verließen die meisten „Waisenkinder“ das Kinderheim dann in Richtung Palästina.
Die Stadt Zürich besitzt heute den größten jüdischen Bevölkerungsanteil in der Schweiz. Gegenwärtig gibt es in Zürich vier jüdische Gemeinden:
--- Israelitische Cultusgemeinde Zürich (ICZ),
--- Israelitische Religionsgesellschaft Zürich (IRGZ),
--- Jüdische Gemeinde Agudas Achim,
--- Jüdische Liberale Gemeinde Or Chadasch.
Die ICZ ist mit etwa 3.000 Mitgliedern die größte der Züricher Gemeinden; sie verfügt über zwei ständige Betlokale: die Synagoge an der Löwenstraße und einen Betsaal an der Nüschelerstraße. Die beiden orthodox ausgerichteten Gemeinden wie auch die Liberale Gemeinde umfassen je etwa 200 bis 300 Familien. Nach Antwerpen, Paris und London beheimatet Zürich Europas größte strenggläubige jüdische Gemeinde.
Die im Innern umfassend renovierte Synagoge in der Löwenstraße wurde 1994 wiedereingeweiht.
Synagoge Löwenstraße (Aufn. Roland zh, 2011, in: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Synagoge Agudas Achim, Erikastraße (Aufn. C Zod, 2013, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Das Bet Midrasch Brunau - kurz Minjan Brunau genannt - wurde Mitte der 1980er Jahre gegründet. Der Verein zählt heute ca. hundert Familien als Mitglieder. Die Gottesdienste werden nach ostjüdischem Ritus abgehalten.
Auf Züricher Stadtgebiet findet man heute sechs jüdische Friedhöfe:
Am Unteren Friesenberg legte die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder entstandene jüdische Gemeinde 1865 auf einem Ackergelände ihren Friedhof an. Ein Jahr später wurde das Areal mit der ersten Beisetzung einer Jüdin durch den Lengnauer Rabbiner Dr. Meyer Kayserling eingeweiht. 1892 wurde eine Friedhofshalle in maurischem Stil erbaut.
Zeremonienhalle Unterer Friesenberg (Aufn. UAP, 2007 und Paebi, 2013, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Mehrere Erweiterungen ließen die Friedhofsfläche auf ca. 1,7 Hektar anwachsen. Mit der Anlage des Friedhofs am Oberen Friesenberg (1952) fanden hier kaum noch Begräbnisse statt.
Der jüdische Friedhof Oberer Friesenberg - im Besitz der ICZ - wurde im Jahre 1952 angelegt und zuletzt 1988 erweitert.
An die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus erinnert ein Gedenkstein (Aufn. Jürgen Hanke) auf dem 1952 errichteten Friedhof „Oberer Friesenberg” mit den folgenden Worten:
Zum Gedächtnis der sechs Millionen Unschuldiger, die 1933 - 45 um ihres Judentums willen hingemordet wurden.
Ihr Märtyrium verpflichte die Lebenden im Kampf für Recht und Würde des Menschen nie zu erlahmen.
Der jüdische Friedhof Steinkluppe war der erste Friedhof der orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft Zürich. 1899 wurde zur Anlage eines eigenen Friedhof das Grundstück am Steinkluppenweg gekauft, ca. zwei Jahrzehnte später auf dem Gelände eine Leichenhalle erbaut.
Friedhof am Steinkluppenweg (Aufn. A., 2015, aus: wikipedia.org, CCO)
Als sich eine Belegung dieses Friedhofs abzeichnete, erwarb die Gemeinde 1936 in Binz-Witikon ein neues Grundstück, das noch im gleichen Jahr mit der ersten Beisetzung eingeweiht wurde. Der (alte) Friedhof Steinkluppe wurde nun nur noch in besonderen Fällen belegt.
Taharahaus in Binz-Witikon und neues Gräberfeld (Aufn. UAP, 2007/2013)
Am Schützenrain in Albisrieden (am westlichen Stadtrand von Zürich, am Fuß des Uetliberges) legte die orthodox-jüdische Gemeinde Agudas Achim („Vereinigung der Brüder“) ihren Friedhof an. Auf dem ca. 6.500 m² großen Gelände finden Gemeindemitglieder von Agudas Achim und orthodoxe Juden ihre letzte Ruhestätte. Die Grabsteine sind ausnahmslos hebräisch beschriftet.
Der jüdische Friedhof am Schützenrain (im Südwesten von Zürich) wurde 1982 als Waldfriedhof angelegt. Das Areal ist im Privatbesitz der 1978 gegründeten Jüdisch-Liberalen Gemeinde (JLG) Or Chadasch in Zürich.
Der an der mittelalterlichen „Judenschuol“ verlaufende kleine Weg, die Froschaugasse, ist 1999 in Synagogengasse umbenannt worden. Dort ist eine Informations- bzw./Gedenktafel angebracht, die an die Züricher Juden des späten Mittelalters erinnert:
Abb. Roland zh., 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0
Im Archiv für Zeitgeschichte ist seit 1995 die „Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte” untergebracht, die eng mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) zusammenarbeitet.
Mitten in der Züricher Altstadt, in der Brunngasse, soll künftig ein kleines jüdisches Museum entstehen (Stand 2019). Anlass dafür war das Auffinden von Wandmalereien mit hebräischen Inschriften im Gebäude (vermutlich aus der ersten Hälfte des 14.Jahrh.), die auf damalige jüdische Besitzer schließen lassen.
2020 wurden erstmals in Zürich in Erinnerung an gebürtige bzw. ehemals hier wohnhaft gewesene jüdische und nicht-jüdische NS-Opfer sieben sog. „Stolpersteine“ verlegt; 2021/22 folgten weitere acht Steine.
verlegt in der Stampfenbachstraße und in der Clausiusstraße (Aufn. Chr. Michelides, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
Jüngst wurde ein Vorstoß der Stadtzürcher Alternativen Liste (AL) bekannt, die nach Rudolf Brun (er war der erste Bürgermeister der Stadt) benannte zentrale Brücke über die Limmat nun nach der Geschäftsfrau Minne zu benennen, die im Spätmittelalter einer wohlhabenden jüdischen Familie angehörte und im Gefolge der Pestpogrome ihren gesamten Besitz verlor. Zudem soll die Brunngasse in Moses-ben-Menachem-Gasse (Sohn von Frau Minne und berühmter Zürcher Rabbi u. Vorsteher der Talmud-Schule) umbenannt werden. Mit diesen Umbenennungen soll symbolhaft an die ehemalige jüdische Gemeinde Zürichs fortan dauerhaft erinnert werden, deren Angehörige 1349 gefoltert, ermordet bzw. vertrieben worden sind. Allerdings wurde jüngst dieses Vorhaben vom Zürcher Gemeinderat abschlägig beschieden (2022).
Im nordöstlich Zürichs gelegenen Winterthur - heute eine Großstadt mit derzeit ca. 118.000 Einwohnern - werden Juden erstmals in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts genannt; im Zusammenhang der Verfolgung in der Pestzeit wurden die Juden Winterthurs am 18. September 1349 auf dem Brühlberg verbrannt. Seit ca. 1395/1400 sind jüdische Bewohner wieder nachweisbar; allerdings waren es stets nur sehr wenige Familien, die hier lebten und zumeist als Geldverleiher in der gesamten Ostschweiz ihren Geschäftern nachingen. Eine Begräbnisstätte soll damals nahe der Schlangenmühle bestanden haben.
1401 kam es wegen eines angeblichen Ritualmordes in Diessenhofen zu weiteren Verfolgungen; ein Gerücht und eine falsche Beschuldigung führten in Winterthur und Schaffhausen zu einem Blutbad unter der jüdischen Bevölkerung.
aus der Luzerner Chronik des Diebold Schilling (aus: Korporation Luzern)
Jahrzehnte später nahm die Stadt erneut Juden auf und erteilte ihnen auf mehrere Jahre befristete Schutzbriefe. Nach 1500 hielten sich regelmäßig jüdische Ärzte und Glaser (Brillenmacher) in Winterthur auf; 1565 ließ sich ein jüdischer Gelehrter aus Venedig in der Stadtkirche taufen.
Stadtansicht von Winterthur - Merian-Stich von 1642 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Im Jahre 1886 gründete sich in Winterthur eine „Jüdische Cultusgenossenschaft Winterthur & Veltheim“, der zunächst nur acht Familien angehörten.
Emanuel Biedermann, einer der Gründer der "Jüdischen Cultusgenossenschaft"
1924 erfolgte die Umbenennung in „Israelitische Gemeinde Winterthur“ (IGW); sie zählte derzeit ca. 130 Mitglieder, die mehrheitlich aus dem Hegau und Surbtal, einige auch aus Süddeutschland und dem Elsass nach Winterthur eingewandert waren.
Gottesdienstliche Zusammenkünfte fanden in angemieteten bzw. auch privaten Räumlichkeiten statt, die mehrfach wechselten. Zentraler Standort war seit 1912 ein Gebäude Am Graben, das im Besitz der Viehhändler Gebrüder Guggenheim war.
Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 5.Mai 1921
Ignatz Kurzweil (Kantor von 1921–1960)
Ihre Verstorbenen begrub die Gemeinde zunächst in Gailingen.
Um 1900 lebten mehr als 100 jüdische Bewohner in Winterthur - Tendenz zunehmend. Jüdische Familien betrieben in den 1920er Jahren mehr als 20 Geschäfte in der Stadt, davon mehr als die Hälfte im Textilhandel. Die Familie Biedermann betrieb damals an der mittleren Marktgasse ein modernes Warenhaus, das als „führenden Geschäft der Manufakturwarenbranche, Damen- und Herrenbekleidung der Ostschweiz“ ausgebaut worden war.
Gegenwärtig leben in Winterthur ca. 80 - 100 Einwohner mosaischen Glaubens (Stand 2020); sie suchten bis in die jüngere Vergangenheit Gottesdienste in Zürich auf. Derzeit finden gottesdienstliche Zusammenkünfte einmal monatlich im Betraum in Winterthur statt.
Betraum in Winterthur (Aufn. Israelitische Gemeinde Winterthur, 2016)
Seit 1998 gibt es in Winterthur einen jüdischen Friedhof.
2022 wurden in Winterthur die ersten drei "Stolpersteine" verlegt, die dem Gedenken der Kleinfamilie Levitus gewidmet sind; die drei Jüdinnen (Mutter mit ihren beiden Töchtern) lebten etwa 15 Jahre in Winterthur, ehe sie Ende der 1920er Jahre in die Tschechoslowakei ausgewiesen wurden; später gehörten sie dann zu den Opfern des NS-Regimes.
verlegt in der Marktgasse (Aufn. Sp., 2022, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Seit 2024 heißt die Alte Landstraße am Rosenberg nun Emanuel-Biedermann-Straße. Der Kaufmann Emanuel Biedermann (1847-1924) war Gründungspräsident der Israelitischen Gemeinde Winterthur gewesen. Als eine der ersten jüdischen Familien waren die Biederemanns 1867 im Kanton Zürich bzw. 1900 in der Stadt Winterthur eingebürgert worden. 1907 eröffnete Biedermann in der Mittleren Marktgasse ein Textilwarenhaus, das damals als eines der modernsten in der Schweiz galt. hist. Aufn. aus: "Neue Zürcher Zeitung"
In Mellingen a. d. Reuss - ca. 20 Kilometer westlich von Zürich, derzeit ca.5.800 Einw. - gab es im 14./15.Jahrhundert jüdische Ansässigkeit; die wenigen hier lebenden Juden trieben Geldhandel. Nach 1580 und während der Zeit des Dreißigjährigen Krieges hielten sich wieder Juden im damals zur Grafschaft Baden gehörenden Mellingen auf.
Weitere Informationen:
Heymann Chone, Zur Geschichte der Juden in Zürich im 15.Jahrhundert, in: "Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland", 6/1935, S. 198 - 209
Festschrift anläßlich des 100jährigen Bestehens der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, Zürich 1962
Festschrift zum 75jährigen Bestehen des Israelitischen Frauenvereins, Zürich 1964
Augusta Weldler-Steinberg, Geschichte der Juden in der Schweiz. Vom 16.Jahrhundert bis nach der Emanzipation (2 Bände), Zürich 1966
Florence Guggenheim-Grünberg, Judenschicksale und ‘Judenschuol’ im mittelalterlichen Zürich, in: "Beiträge zur Geschichte und Volkskunde der Juden in der Schweiz 8", Verlag Jüdische Buch-Gemeinde, Zürich 1967
Germania Judaica, Band II/2, Tübingen 1968, S. 945 – 949 (Zürich), Band III/2, Tübingen 1995, S. 856/857 (Mellingen), S. 1659 – 1663 (Winterthur) und 1726 – 1749 (Zürich)
Augusta Weldler-Steinberg, Geschichte der Juden in der Schweiz vom 16.Jahrhundert bis nach der Emanzipation, Hrg. Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund, Zürich 1970, Band 2, S. 198 f.
Alfred A. Häsler (Bearb.), Juden in Zürich, Hrg. Israelitische Cultusgemeinde Zürich, Zürich 1981
Willy Guggenheim (Hrg.), Juden in der Schweiz. Glaube, Geschichte, Gegenwart, Küsnacht 1982
Roger Cahn (Bearb.), Festschrift 100 Jahre Synagoge Löwenstraße, Zürich 1984
Willy Guggenheim (Hrg.), Juden in der Schweiz. Glaube - Geschichte - Gegenwart, edition kürz, Küsnacht/Zürich 1987
Marc Herzka, Die Synagogen in der Stadt Zürich, in: "Zürcher Chronik", 57/4, Zürich 1989
Karin Huser Bugmann, Schtetl an der Sihl. Einwanderung, Leben und Alltag der Ostjuden in Zürich 1880 - 1939, Chronos-Verlag, Zürich 1998
Norbert Loacker/Christoph Hänsli, Wo Zürich zur Ruhe kommt. Die Friedhöfe der Stadt Zürich, Zürich 1998
Hans-Jörg Gilomen, Spätmittelalterliche Siedlungssegregationund Ghettoisierung, insbesondere im Gebiet der heutigen Schweiz, in: "Abgrenzungen – Ausgrenzungen in der Stadt und um die Stadt", Band 3, Zürich 1999, S. 85 – 106 (online abrufbar unter: academia.edu/3400661/Spatmittelalterliche_Siedlungssegregation_und_Ghettoisierung)
Philipp Schlatter, Die jüdische Gemeinde Zürichs im Mittelalter: Rechte – Verfolgung – Vertreibung, Seminarbeit Historisches Seminar Universität Zürich, 2003
Werner Rom, Die jüdischen Gemeinden in Zürich heute - Aufgaben und Vielfalt (Referat des Präsidenten des Israelitischen Cultusgemeinde Zürich), online abrufbar unter: begegnung.ch
A.Brunschwig/R. Heinrichs/K. Huser, Geschichte der Juden im Kanton Zürich. Von den Anfängen bis zur heutigen Zeit, Orell Füssli Verlag, Zürich 2005
Museum Lindengut (Hrg.), Schweizer Juden – Jüdisches Winterthur, Ausstellungskatalog, Zürich 2006
Peter Niederhäuser (Hrg.), Das jüdische Winterthur, Chronos Verlag, Zürich 2006 (2.Aufl., 2013)
Ron Epstein-Mil, Die Synagogen der Schweiz – Bauten zwischen Emanzipation, Assimilation und Akkulturation, in: "Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz", Band 13, Chronos-Verlag, Zürich 2008, S. 146 - 181
Roger Reiss, Leon und Lucie. Erinnerungen an das Zürcher Schtetl, Orell Füssli Verlag, Zürich 2008
Alfred Bodenheimer, „Nicht irgendein anonymer Verein ... “ Eine Geschichte der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, Zürich 2012
Pascal Unternährer (Red.), Neue Synagoge in Zürich, in: „Tages-Anzeiger“ vom 21.1.2014
Zürich (Kanton Zürich, Schweiz) - Jüdische Geschichte in Zürich - Die Israelitische Cultusgemeinde Zürich (ICZ) und ihre Synagoge in der Löwenstraße, in: alemannia-judaica.de (Anm. enthält eine Vielzahl von Dokumenten)
Winterthur (Kanton Zürich, Schweiz), in: alemannia-judaica.de
Ralph Denzel (Red.), Wie 1401 ein Gerücht allen Juden in Schaffhausen das Leben kostete, in: „Schaffhauser Nachrichten“ vom 17.9.2018
IGW (Israelitische Gemeinde Winterthur), Geschichte der Gemeinde (und den Juden in Winterthur), online abrufbar unter: ig.winterthur.ch
Peter Bollag (Red.), Endlich erhält auch Zürich ein jüdisches Museum – ein seltener Fund gibt den Anstoß, in: „Neue Zürcher Zeitung“ vom 24.8.2019
Peter Bollag (Red.), Zürich. Brunngasse 8, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 24.9.2019
Simon Erlanger (Red.), Frontisten greifen die Synagoge an, in: "tachles - das jüdische Wochenmagazin" vom 13.11.2020
N.N. (Red.), Erstmals Stolpersteine in Zürich verlegt, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 28.11.2020
Auflistung der in Zürich und Winterthur verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_der_Schweiz
Ueli Abt (Red.), Wandbilder über das jüdische Leben im mittelalterlichen Zürich verraten, in: Informationen des Katholisches Medienzentrums vom 12.2.2021
Stadt Winterthur, Winterthur setzt Stolpersteine zum Gedenken an die Familie Levitus, in: „Schweizer Nachrichtenportal“ vom 14.12.2021 (online abrufbar unter: Nau.ch vom 14.12.2021)
Christa Miranda (Red.), Judenverfolgung. Ein dunkles Kapital Zürcher Geschichte, in: srf.ch/kultur/gesellschaft-religion vom 31.1.2022
Valerie Wendenburg (Red.), Startschuss für einen Eruv für Zürich, iin: „tachles – das jüdische Wochenmagazin“ vom 29.4.2022
Peter Bollag (Red.), Grenzen ziehen in Zürich. - Die größte Stadt des Landes soll einen Eruv bekommen, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 5.5.2022
Valerie Wendenburg (Red.), Basel/Zürich. Symbolische oder sichtbare Grenzziehung, in: "tachles - das jüdische Wochenmagazin" vom 20.5.2022
Sarah Stutte (Red.), Jacqueline Fehr über den Holocaust: Die Schweiz ist mitschuldiig. Einweihung der drei Stolpersteine in Winterthur, in: kath.ch/news vom 1.9.2022
Deborah von Wartburg (Red.), Stolperstein in Winterthur. Jetzt „stolpert“ man in der Marktgasse über drei Mahnmale, in: „Landbote Winterhur“ vom 1.9.2022 (und online unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_der_Schweiz)
Miguel Garcia (Red.), Judentum in Winterthur – Die jüdische Geschichte sichtbar gemacht, in: „Landbote Winterthur“ vom 20.9.2022
Peter Niederhäuser (Red.), Über das jüdische Winterthur war lange wenig bekannt. Stolpersteine erinnern nun an dieses Erbe, in: „Neue Zürcher Zeitung“ vom 21.9.2022 (mit historischem Bildmaterial)
Martin Huber (Red.), Umstrittener Straßenname in Zürich – Die Rudolf-Brun-Brücke wird nicht zur Frau-Minne-Brücke, in: "Kanton Zürich" vom 22.12.2022
Matthias Scharrer (Red.), Der FC Hakoah spiegelt jüdisches Leben in Zürich wider, in: „Limmatttaler Zeitung“ vom 10.2.2023
Roger Reiss (Bearb.), 1938-1945: Ein Memorial für die Schweiz, in: „DAVID – Jüdische Kulturzeitschrift“, Heft 139/12-2023 (Anm. betrifft auch jüdisches Kinderheim Wartheim in Heiden)
Fabian Brändle (Red.), Sportives jüdisches Zürich – 100 Jahre Hakoah Zürich, in: „DAVID – Jüdische Kulturzeitschrift“, Heft 140 (2024)
mst (Red.), Stadt benennt Straße nach jüdischer Persönlichkeit, in: „Landbote“ vom 24.5.2024
ja (Red.), Versuchter Brandanschlag auf Synagoge in Zürich, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 11.8.2024
Jonas Keller (Red.), Als Winterthur seine Juden verbrannte, in: landbote.ch vom 25.8.2024
Thomas Kirchner (Red.), Ein Faden als religiöser Kniff, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 16.9.2024 (betr. ein Eruf in Zürich)