Wangen am See (Baden-Württemberg)

Jüdische Gemeinde - Singen/Hohentwiel (Baden-Württemberg)Datei:Öhningen in KN.svg Wangen mit seinen derzeit knapp 1.000 Einwohnern ist seit 1975 ein Ortsteil der etwa 3.600 Einwohnern zählenden Kommune Öhningen am Untersee, dem westlichsten Teil des Bodensees (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: europe1900.eu und Kartenskizze 'Landkreis Konstanz', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts machte der jüdische Bevölkerungsanteil in Wangen bis zu 40% (!) aus.

Anfang des 17.Jahrhunderts siedelten sich einige wenige jüdische Familien im reichsritterschaftlichen Dorfe Wangen an - vermutlich waren es Flüchtlinge aus der Schweiz. Nach dem Dreißigjährigen Krieg zogen Juden aus dem Elsass, Schwaben und Vorarlberg hierher. Bis etwa 1800 bildete die Judenschaft Wangens eine von der christlichen Umgebung isolierte Genossenschaft - dies gilt übrigens auch für die anderen jüdischen Gemeinden am Bodensee; die Vorsteher bzw. Rabbiner der Gemeinde hatten - kraft der ihnen eingeräumten Disziplinargewalt - eine starke Stellung inne, die den Einzelnen in das streng-orthodox ausgeprägte jüdische Leben im hohen Maße einband. Als Wohnareal wurde den Juden ursprünglich ein Bereich nahe des Untersees - eine Art ‚offenes Ghetto’ - zugewiesen. Der Mitte des 18.Jahrhunderts aus Hohenems nach Wangen zugewanderte Mandes Wolf stieg in der Folgezeit zum größten Grundbesitzer im Dorf auf.

Die erstmals 1759 erwähnte hölzerne Synagoge wurde in den 1820er Jahren durch einen größeren, unmittelbar am See gelegenen Neubau ersetzt. Im Laufe der Neubauplanungen kam es zu erheblichen Differenzen innerhalb der Gemeinde; danach sollten nur diejenigen an den Kosten beteiligt werden, die noch keine festen Plätze in der alten Synagoge gehabt hatten; schließlich einigte man sich auf einen Kompromiss.

 

Synagoge in Wangen - Ansichtskarte um 1920 Aufn. (Sammlung Markus Wolter, aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Über die religiösen Verhältnisse in der Gemeinde Wangen und über die Synagoge berichtete der Rabbiner Leopold Schott 1840:

„ ... Von den 36 israelitischen Familien zu Wangen sind nur wenige als reich, dagegen ungefähr die Hälfte als mittellos zu bezeichnen, und können sie daher keinen eigenen Rabbinen unterhalten. Dagegen besitzen sie eine eigene Elementarschule, aus welcher schon viele recht gut vorbereitete Jünglinge hervorgegangen sind, ... Der derzeitige Lehrer, ein geborener Wangener, steht auch in solcher Achtung, daß ihm gegenwärtig auch an der vakanten christlichen Schule, bis zu deren Wiederbesetzung, der gesamte Unterricht, versteht sich mit Ausnahme des religiösen, anvertraut ist, was aber nicht bloß ihm, sondern auch und noch vielmehr dem wohlwollenden Zutrauen des Schulvorstandes, an dessen Spitze der katholische Ortsgeistliche steht und der Toleranz des betreffenden Bezirksschulvisitators zum größten Ruhme gereicht. ... Auch die vor ungefähr 15 Jahren dicht am Ufer des Bodensees im einfachen Styl erbaute freundliche Synagoge bietet dem demüthigen Gottesverehrer ein schönes Bild von Ordnung, Ruhe und Andacht dar (wie man auch dieses in größeren Gemeinden meistens vergeblich sucht) und man wird hier, ohne Gepränge, durch die feierliche Stille, welche den andächtigen Vortrag des Vorbeters umgiebt, zur innigsten Andacht und heiligsten Ergebung zu Gott hingerissen. Alle diese herrlichen Resultate sind aber vorzüglich dem derzeitigen Vorsteher Samuel Wolf zu verdanken. Dieser treffliche Mann vereinigt in sich die innige israelitische Frömmigkeit der vergangenen Zeit mit der feinen Bildung unserer Generationen. Er hat an seinem Orte das Gute so zu sagen erschaffen. Er ist durch Wort und Tat der Vater und Wohlthäter seiner Gemeinde, die er nicht nur mit einer seltenen Fürsorge und Pünktlichkeit verwaltet, sondern auch mit mehr als Pflichtmäßigkeit, mit Eifer und Liebe für edlere Gesinnung zu wecken und zu stärken sucht. Diese Bemühung weiß er auch vorzüglich durch sein eigenes schönes Beispiel zu unterstützen, so wie nicht weniger durch eine ausgewählte kleine Sammlung hebräischer und deutscher Schriften, die er seine Untergeordneten gerne benutzen lässt. Möge er noch lange die Zierde und der gerechte Stolz seiner Gemeinde bleiben und möge sein Beispiel recht viel Nachahmung finden.“

(aus der Zeitschrift: „Israelitische Annalen” vom 10. Juli 1840)

Auf Grund der Seenähe nahm der Synagogenbau alsbald Schaden, so dass schon 30 Jahre später eine grundlegende Sanierung erfolgen musste. Um die Feuchtigkeit des nahen Sees fernzuhalten, wurde nun der Fußboden höher gelegt. In diesem Zusammenganh ersetzte man die bislang genutzten Betpulte durch Sitzbänke.

Eine Mikwe befand sich am Dorfbach.

Seit den ersten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts wurde im Dorf auch eine jüdische Schule betrieben, die ab Mitte des Jahrhunderts über ein eigenes Gebäude verfügte; um 1920 wurde die Volksschule wegen Schülermangels endgültig geschlossen.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20341/Wangen%20ABl%201832%20632.jpg

Stellenausschreibungen aus: "Großherzoglich Badisches Anzeige-Blatt für den See-Kreis" vom 3.Mai 1823 und von 1832

Zunächst wurden die verstorbenen Wangener Juden auf dem jüdischen Friedhof in Gailingen begraben. 1827 konnte eine eigene Begräbnisstätte in Wangen „Am Hardtbühl“ - weit außerhalb des Dorfes am Weg nach Radolfzell - genutzt werden; diese wurde 1889 erweitert.

                   ein Anker – seltenes Symbol auf jüdischen Grabsteinen (Aufn. J. Hahn, um 1985)

Die Gemeinde unterstand bis 1925 dem Bezirksrabbinat Gailingen, danach dem neugebildeten Bezirk Konstanz.

Juden in Wangen:

--- 1663 ............................    3 jüdische Familien,

--- 1696 ............................    4     “        “   ,

--- 1743 ............................    7     "        "   ,

--- 1779 ............................   14     “        “   ,

--- um 1805 ..................... ca.   30     “        “   ,

--- 1825 ............................  224 Juden (ca. 40% d. Dorfbev.),

--- 1855 ............................  208   “  ,

--- 1865 ............................  233   “   (in ca. 30 Familien),

--- 1875 ............................  184   “   (ca. 29% d. Dorfbev.),

--- 1900 ............................  105   “   (ca. 15% d. Dorfbev.),

--- 1905 ............................   74   “  ,

--- 1925 ............................   23   “   (in 12 Haushaltungen),

--- 1933 ............................   20   “  ,

--- 1941 ............................   keine.

Angaben aus: Chronik von Oehningen, Hrg. Gemeinde Öhningen (Landkreis Konstanz), S. 101

und                 Jüdisches Museum Galingen (Hrg.), Geschichte der Juden uin Wangen, online abrufbar unter: jm-gailingen.de

 

Die in Wangen lebenden jüdischen Familien verdienten ihren Lebensunterhalt im Handel, besonders mit Vieh; sie besuchten regelmäßig Märkte und Messen in der Region. Neben zwei Gastwirtschaften war auch eine jüdische Jugendherberge vorhanden. In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts setzte eine starke Abwanderung ein; während ein Teil nach Konstanz oder in die benachbarte Schweiz (zumeist nach Zürich) verzog, emigrierte der andere Teil nach Nordamerika.

Zu Beginn der NS-Zeit lebten nur noch etwa 20 Juden in Wangen, die alle im Textil- und Viehhandel tätig waren.

Am 10.November 1938 wurde die Wangener Synagoge durch SS-Angehörige aus Radolfzell in Brand gesteckt und zerstört. Auch der Friedhof zeigte deutliche Spuren von Verwüstungen. Die drei noch in Wangen lebenden jüdischen Männer wurden von SS-Angehörigen schwer misshandelt und anschließend ins KZ Dachau abtransportiert. Bis Kriegsbeginn hatten fast alle Juden das Dorf verlassen. Sieben jüdische Bewohner Wangens wurden im Oktober 1940 nach Gurs deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." kamen nachweislich mindestens 20 gebürtige bzw. über einen längeren Zeitraum hinweg in Wangen ansässig gewesene Juden während der NS-Zeit gewaltsam ums Leben (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/wangen_am_see_synagoge.htm). 

 

Nach Kriegsende kehrten drei verschleppte Juden nach Wangen zurück. Mit Nathan Wolf und seiner Schwester Selma verstarben Anfang der 1970er-Jahre die letzten ansässigen Juden in Wangen.

Seit 1968 erinnern ein Gedenkstein und eine -tafel an die zerstörte Synagoge mit den folgenden Worten:

                                           Gedenktafel (Aufn. J. Hahn, 2009)

Das ehemalige Synagogengelände wurde nach 1945 an die Kommune abgetreten, die dafür die Verpflichtung einging, den jüdischen Friedhof zu pflegen. Das wiedererstellte, aus zwei Steinsäulen und einem schmiedeeisernen Gitter gestaltete Tor zur Wangener Synagoge am Seeweg - derzeit befindet sich hier ein Campingplatz - erinnert seit 2010 an den ehemaligen Standort des jüdischen Bethauses. Der Blick geht dabei durch das Tor auf den Platz der im November 1938 zerstörten Synagoge.

                    Ehem. Synagogenstandort (Aufn. Maren Stümke, 2010)   

Auf dem mehr als 3.000 m² großen Friedhofsgelände haben etwa 150 Grabsteine die Zeiten überdauert; der älteste stammt aus dem Jahre 1847.

  Öhningen-Wangen 157-2.jpg

Jüdischer Friedhof in Wangen (Aufn. Dietrich Krieger, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Die letzten Beerdigungen auf dem Areal fanden 1970/1971 statt; es waren die von Dr. Nathan Wolf ("Der letzte Jude des Dorfes") und seiner Schwester.

In der Vergangenheit blieb der jüdische Friedhof von Wangen nicht von Schändungen verschont - so in den 1950er Jahren und zuletzt im Jahr 1992.

 

 In Wangen wurde 1883 der jüdische Schriftsteller Jacob Picard geboren, der u.a. eine Autobiographie verfasste und dabei dem Landjudentum ein Denkmal setzte; hierin schilderte er seine Erlebnisse in seinem Heimatdorf, so berichtete er über das Purim-Fest: „ ... Es gibt keinen Zweifel, daß das festliche Gedenken an unsere Befreiung und die Bestrafung des Erzfeindes Haman nicht nur ausschließlich aus dem Lesen der Megillah und dem Backen einer speziellen Sorte von Kuchen durch jüdische Mütter erfolgte. ... Schon Wochen vor dem Fest gingen die Männer und Frauen maskiert herum und trugen phantasievolle, groteske Kostüme. Die Männer in Frauen-, die Frauen in Männerkleidung besuchten Familien von einem Ende des Dorfes zum anderen. Um es vorher zu erwähnen: die meisten von uns lebten an der Hauptstraße, die das Dorf durchschnitt. Essen und Trinken wurden bereitgestellt, und es gab einen frohen Austausch von Klatsch. ... Am Purim selbst fand ein Ball im Dorfgasthaus mit Essen, Trinken, Tanzen und Musik durch die Dorfkapelle statt, die meistens unter tumultuöser Fröhlichkeit ablief. ...”  Jacob Picard, der der NS-Herrschaft durch seine Flucht nach Amerika entkam, kehrte nach Kriegsende wieder nach Europa zurück; zunächst lebte er in den Niederlanden, später dann in Deutschland. 1964 verlieh ihm die Stadt Überlingen ihren Literaturpreis; zuvor war ihm das Bundesverdienstkreuz zuerkannt worden. Picard starb 1967 in einem Altersheim in Konstanz.

 

 

 

Weitere Informationen:

Heymann Chone, Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Synagoge in Wangen, Wangen 1927

F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden - Denkmale, Geschichte, Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Band 19, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1968, S. 284 - 287

Paul Sauer, Die Judengemeinden im nördlichen Bodenseeraum, in: "Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins", Bd. 128/1980, S. 327 ff.

Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 309/310

Herbert Berner (Hrg.), Öhningen 1988. Beiträge zur Geschichte von Öhningen, Schienen und Wangen, Singen 1988

Chronik von Oehningen, Hrg. Gemeinde Öhningen (Landkreis Konstanz), 1988, S. 69 ff.

Manfred Bosch/Jost Großpietsch, Jakob Picard 1883 - 1967. Dichter des deutschen Landjudentums, Ausstellungskatalog Sulzburg 1992

A.P. Kustermann/D.R.Bauer (Hrg.), Jüdisches Leben im Bodenseeraum. Zur Geschichte des alemannischen Judentums ..., Schwabenverlag, Ostfildern 1994, S. 48 f.

Manfred Bosch, Bohème am Bodensee. Literarisches Leben am See von 1900 bis 1950, Lengwil am Bodensee 1997

B. Döpp/M. Preuß (Bearb.), Der jüdische Friedhof in Öhningen-Wangen, Unveröffentlichte Grunddokumentation des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg, 1994

Ulrich Baumann, Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862 - 1940, in: "Studien zur jüdischen Geschichte", Band 7, Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 2001

Jakob Picard, Erinnerung eigenen Lebens, in: M. Bosch (Hrg.), Alemannisches Judentum - Spuren einer verlorenen Kultur, Edition Isele, Eggingen 2001, S. 171 – 192

Manfred Bosch (Hrg.), Jacob Picard, Erinnerung eigenen Lebens, in: Alemannisches Judentum. Spuren einer verlorenen Kultur, Eggingen 2001

Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 365 - 367

Jüdische Kultur im Hegau und am See“, in: "HEGAU – Zeitschrift für Geschichte, Volkskunde und Naturgeschichte des Gebietes zwischen Rhein, Donau und Bodensee", Jahrbuch 64/2007, S. 63 – 68, S. 73 – 102 und S. 239 – 310

Helmut Fidler, Im Schatten der Synagoge. Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Wangen-Öhningen, in: "Südkurier" vom 13.09.2007

N.N. (Red.), Geschichte: Denkmal am Standort der früheren Synagoge, in: „Südkurier“ vom 20.3.2010

Helmut Fidler, Jüdisches Leben am Bodensee, Frauenfeld/Stuttgart/Wien 2011

Wangen am See, in: alemannia-judaica.de (detaillierte Darstellung mit zahlreichen, zumeist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Der jüdische Friedhof von Wangen/Höri (Öhningen), in: juedische-friedhoefe.info

Anne Overlack, "In der Heimat eine Fremde". Das Leben einer deutschen jüdischen Familie im 20. Jahrhundert, Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2016  (Anm. hier geht es um die Geschichte der Familie Wolf)

Matthias Güntert (Red.), Wiederaufbau der jüdischen Synagoge, in: „Wochenblatt“ vom 18.2.2018

Isabelle Arndt (Red.), Die Geschichte des letzten Juden von Wangen kommt nun nach Stuttgart – und ist online, in: „Südkurier“ vom 10.1.2019

Jüdisches Museum Gailingen (Hrg.), Geschichte der Juden in Wangen, online abrufbar unter: jm-gailingen.de