Wankheim (Baden-Württemberg)
Wankheim ist heute einer von fünf Ortsteilen von Kusterdingen/Kreis Tübingen - zwischen Tübingen und Reutlingen gelegen (Kartenskizze 'Landkreis 'Tübingen', F. Paul 2009, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Von 1774 bis 1880 gab es in Wankheim eine jüdische Gemeinde, deren Angehörige zeitweise bis zu 20 Prozent der Dorfbevölkerung stellten.
Ansicht von Wankheim um 1680, aus: wikipedia.org, gemeinfrei
Die Wurzeln einer jüdischen Gemeinde in Wankheim liegen im ausgehenden 18.Jahrhundert. Die ersten Juden erhielten 1776 von der Ortsobrigkeit, dem Freiherrn Friedrich Daniel von Saint-André, die Erlaubnis zur Niederlassung im Dorfe. Durch weitere Zuzüge aus den Ortschaften Braunsbach, Deufstetten und Haigerloch vergrößerte sich die Zahl der jüdischen Familien bis Mitte des 19.Jahrhunderts auf mehr als 25 Familien. Ihren Lebensunterhalt bestritten die Familien ursprünglich vom Handel mit Trödelwaren, später vom Handel mit Vieh, Hopfenstangen und anderen Gütern, einige auch von der Landwirtschaft.
Neben relativ hohen Schutzgeldzahlungen mussten die Wankheimer Juden bei Sterbefällen auch Gebühren an den Grundherrn zahlen; das seit 1774 gepachtete Beerdigungsgelände zwischen Wankheim und Kusterdingen ging erst nach langwierigen Verhandlungen um 1845/1850 in gemeindlichen Besitz über. Anfang der 1860er Jahre und nochmals um 1900 wurde das Friedhofsgelände erweitert.
Jüdischer Friedhof Wankheim (Aufn. U., 2008, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 und aus: flickr.com)
Auf dem Wankheimer Friedhof wurden bis in die 1930er Jahre auch verstorbene Juden aus Reutlingen und Tübingen beerdigt; nach Auflösung der Wankheimer Gemeinde übernahm die jüdische Gemeinde Reutlingen bzw. Tübingen das Beerdigungsgelände.
Die vor allem zunächst als Hausierer tätigen Wankheimer Juden lebten anfänglich in sehr ärmlichen Verhältnissen; erst im Laufe des 19.Jahrhunderts besserte sich ihre ökonomische Situation; sie arbeiteten nun als Viehhändler, einige auch als Landwirte.
Seit 1835 verfügte die jüdische Gemeinde in der Heerstraße auch über ein eigenes, schlichtes Gotteshaus; zuvor hatten Zusammenkünfte in einem von der Ortsherrschaft angemieteten ‚Judenhaus’ stattgefunden. Die Finanzierung des neuen Synagogengebäudes gelang aber nur unter größten finanziellen Schwierigkeiten: So sammelte ein Bauverein Spendengelder, eine Ackerfläche und das Schulhaus wurden verkauft; zudem spendete der württembergische König 400 Gulden für den Bau.
Der Bezirksrabbiner Dr. Michael Silberstein beschrieb 1875 die Wankheimer Synagoge wie folgt:
„ ... Die Synagoge zu Wankheim hat ... ihren Eingang nicht auf der West- sondern auf der Nordseite. Man gelangt unmittelbar von der Straße aus in dieselbe. Für die Frauen sind auf drei Seiten Galerien errichtet. Von der auf der Ostseite befindlichen heiligen Lade steht die Kanzel, sowie unterhalb derselben der Vorbetertisch. Hinter diesem ist ein ziemlich großer freier Platz, den übrigen Raum füllen die Subsellien für die Männer aus. Die Chorsänger und Katechumenen haben zu beiden Seiten der heiligen Lade erhöhte Plätze. Die Synagoge, die ungefähr 200 Personen fassen könnte, befindet sich in einem guten baulichen Zustand.”
Zur Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war im 19. Jahrhundert zeitweise ein Lehrer angestellt, der zugleich als Vorbeter und Schochet tätig war. Ab 1827 bestand am Ort zeitweilig auch eine jüdische Elementarschule, die aber bald wegen rückläufiger Schülerzahl geschlossen wurde. Das Schulhaus war an die Synagoge angebaut.
Die Kultusgemeinde Wankheim unterstand seit 1832 dem Rabbinatsbezirk Mühringen.
Juden in Wankheim:
--- 1774 ............................ 4 jüdische Familien,
--- 1821 ............................ 58 Juden,
--- 1831 ............................ 86 “ ,
--- um 1845 ..................... ca. 120 “ (in 25 Familien),
--- 1854 ............................ 111 “ ,
--- 1869 ............................ 40 “ ,
--- um 1880 ..................... ca. 5 Familien,
--- 1886 ............................ ein Jude.
Angaben aus: Michael Silberstein, Historisch-topographische Beschreibung des Rabbinatsbezirks Mühringen (1875)
und Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale - ..., S. 188
Die nach der Jahrhundertmitte einsetzende Abwanderung der Wankheimer Juden in umliegende Städte, vor allem nach Tübingen und Reutlingen, führte innerhalb weniger Jahrzehnte zum Ausbluten der Gemeinde; 1882/1883 wurde die israelitische Kultusgemeinde von Wankheim dann offiziell aufgelöst. Der Abschiedsgottesdienst in der Wankheimer Synagoge fand im April 1883 statt; kurz darauf wurde das Gebäude abgebrochen.
Der Wankheimer jüdische Friedhof wurde aber weiter genutzt; bis Mitte der 1930er Jahre diente er als letzte Ruhestätte für die Juden Tübingens.
Namentlich sind drei aus Wankheim stammende Personen jüdische Glaubens bekannt, die Opfer der NS-Verfolgung geworden sind (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/wankheim_synagoge.htm).
Auf einer Gedenktafel auf dem ehemaligen Synagogengrundstück informieren die folgenden Zeilen über die ehemalige jüdische Gemeinde von Wankheim:
Eben-Eser (אֶבֶן עֵזֶר) Bis hierher hat uns der HERR geholfen. 1. Samuel 7,12.
Zur Erinnerung an die Wankheimer Juden.
An dieser Stelle befand sich von 1835 bis 1882
die Wankheimer Synagoge
Von 1774 bis 1882 gab es in Wankheim eine jüdische Gemeinde, die zeitweise bis zu zwanzig Prozent der Bevölkerung ausmachte. David Dessauer aus Nordstetten und drei weitere Juden erhielten von den Grundherren Wankheims, den Herren von Saint-André 1774 die Erlaubnis zur Niederlassung. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts vergrößerte sich die Zahl der jüdischen Bewohner in Wankheim auf etwa 100 Personen in 20 Familien. Der jüdische Friedhof, nahe der B 28 bei Wankheim ist ein Zeugnis der jüdischen Gemeinde.
Am 15. Oktober 1835, dem auf das Laubhüttenfest folgenden achten Tag (Schemini Azereth), wurde die Synagoge durch den Bezirksrabbiner Dr. Michael Silberstein feierlich eingeweiht. Er beschrieb das Gebäude, welches etwa 10 m lang und 8,7 m breit war, wie folgt: "Die Synagoge zu Wankheim hat... ihren Eingang nicht auf der West-, sondern auf der Nordseite. Man gelangt unmittelbar von der Straße aus in dieselbe. Für die Frauen sind auf drei Seiten Galerien errichtet. Vor der auf der Ostseite befindlichen heiligen Lade steht die Kanzel, sowie unterhalb derselben der Vorbetertisch. Hinter diesem ist ein ziemlich großer freier Platz, den übrigen Raum füllen die Subsellien für die Männer aus. Die Chorsänger und Katechumenen haben zu beiden Seiten der heiligen Lage erhöhte Plätze. Die Synagoge, die ungefähr 200 Personen fassen könnte, befindet sich in einem guten baulichen Zustand."
Am Sabbat, dem 8. April 1882, fand ein Abschiedgottesdienst statt. Kurz darauf wurde die Synagoge abgebrochen. Teile davon fanden Verwendung beim anschließenden Bau der Tübinger Synagoge. Danach wurde die israelitische Gemeinde von Wankheim offiziell aufgelöst. Mehr als hundert Jahre hatten sich Israeliten in Wankheim befunden und dort eine Heimstätte gefunden. Nachdem sich ihnen die Stadtgemeinden mehr und mehr geöffnet hatten, waren sie in diese abgewandert, da sich ihnen dort bessere Verdienstmöglichkeiten boten.
Ja, dieser Gott unser Gott ist für immer und ewig, er führt uns über den Tod hinaus! Psalm 48,15."
Trotz mehrfacher Schändung sind auf dem jüdischen Friedhofsgelände (zwischen Wankheim und Kusterdingen) bis heute noch etwa 140 Grabsteine erhalten geblieben; der älteste datiert von 1778. Allerdings befinden sich die Grabmale auf Grund zunehmender Verwitterung derzeit in einem relativ schlechten Zustand; eine z. Zt. laufende Sanierung soll dem abhelfen (Stand 2021/2022).
Jüdischer Friedhof Wankheim (Aufn. N., 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Ein Gedenkstein - aufgestellt auf Initiative zweier Tübinger Holocaust-Überlebender - erinnert hier namentlich an 14 jüdische NS-Opfer aus Tübingen.
Gedenkstein mit Namen der Opfer (Aufn. aus: RTF.1-Nachrichten)
[vgl. Tübingen (Baden-Württemberg)]
Weitere Informationen:
Michael Silberstein, Historisch-topographische Beschreibung des Rabbinatsbezirks Mühringen vom 22.Dezember 1875
Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale - Geschichte - Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag Stuttgart 1966, S. 187/188
Wilhelm Böhringer (Bearb.), 1887 zog die letzte Jüdin weg – Die Geschichte der israelitischen Gemeinde in Wankheim, in: „Tübinger Blätter“ 61/1974, S. 13 - 19
Lilly Zapf, Die Tübinger Juden - eine Dokumentation, o.O. 1978, S. 25 - 28
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 539/540
Tina Zebic/u.a., Geschichte und Bedeutung des jüdischen Friedhofs bei Wankheim. Arbeit einer Klasse des Friedrich-List-Gymnasiums Reutlingen im Rahmen des Schülerwettbewerbs Deutsche Geschichte 1992/1993
Frowald Gil Hüttenmeister, Der jüdische Friedhof Wankheim, in: "Beiträge zur Tübinger Geschichte", Band 7, Hrg. Kulturamt der Stadt Tübingen, Tübingen 1995
Wankheim, in: alemannia-judaica.de
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 275 - 277
900 Jahre Wankheim. Geschichte und Geschichten, Hrg. Ortsgemeinde Wankheim, 2010/2011
Annegret Zeller, Die Juden Wankheims, Magisterarbeit Universität Tübingen, 2012
Christine Laudenbach (Red.), Ohne viel Aufhebens. In Wankheim erinnert eine Tafel an die ehemalige jüdsche Synagoge, in: „Schwäbisches Tagblatt“ vom 15.9.2016
Claudia Jochen (Red.), Jüdischer Friedhof in Kusterdingen in schlechtem Zustand, in: „Reutlinger General-Anzeiger“ vom 4.4.2019
Benigna Schönhagen, Der Jüdische Friedhof Wankheim. Stätte der Erinnerung, historisches Dokument und Gedenkort, in: Schriftenreihe des Fördervereins für Jüdische Kultur in Tübingen e.V., Band 2, Tübingen 2021
Peter Binder (Red.), Jüdischer Friedhof in Kusterdingen-Wankheim wird saniert, in: swr.de aktuell“ vom 3.12.2021
Susanne Mutschler (Red.), Von den Fäden der Zuneigung – Was die Amtskalender des Wankheimer Geistlichen Wilhelm Pressel über das Zusammenleben von Juden und Christen im Dorf berichten, in: „Schwäbisches Tageblatt“ vom 11.5.2022
SWR (Red.), Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof Wankheim werden saniert, in: swr.de aktuell vom 5.9.2022
Tobias Faißt (Red.), Neues Gedenkbuch erinnert an 56 Opfer des Holocaust rund um Tübingen, in: swr.de aktuell vom 3.4.2024
Nadine Nowara (Red.), Ein Ort der Erinnerung in Wankheim, in: „Reutlinger General-Anzeiger“ vom 14.10.2024