Anklam (Mecklenburg-Vorpommern)

Landkreis Ueckermünde - WikiwandVorpommern-Greifswald KarteDie heutige amtsfreie Hansestadt Anklam mit ca. 12.000 Einwohnern liegt im Landkreis Vorpommern-Greifswald (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Kreis Vorpommern-Greifswald', aus: ortsdienst.de/mecklenburg-vorpommern/vorpommern-greifswald/).

 

Erstmalig wurden Juden in Anklam gegen Mitte des 14.Jahrhunderts erwähnt; denn hier sollen während der Pestpogrome die in Anklam wohnenden Juden - nach dem Vorwurf der Brunnenvergiftung - vor den Toren der Stadt verbrannt worden sein. In den folgenden Jahrhunderten ist kaum etwas über jüdische Ansiedlung in Anklam bekannt.

Die Stadt Anklam im Jahre 1724 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Als Anklam dann unter schwedischer Oberhoheit stand, erging 1710 ein allgemeines Aufenthaltsverbot, in dem es u.a. hieß: „Alle Bettler, Juden, Zigeuner und loses Gesindel ... sollten das Land verlassen, widrigenfalls sie vom Scharfrichter gebrandmarkt, geprügelt und über die Grenzen gejagt werden.

Das Aufenthaltsverbot für Juden galt noch bis ins beginnende 19.Jahrhundert. Im Jahre 1812 kam als erster Jude Alexander Levin nach Anklam - mit vollen Geschäfts- und Bürgerrechten. Vier Jahre später wohnten bereits 33 Juden in der Kleinstadt. Sie bildeten alsbald eine Gemeinde und legten 1817 am Großen Wall vor dem Steintor ihren Friedhof an, der allerdings wenige Jahrzehnte später an den Stadtrand, an der „Min Hüsung“, verlegt wurde.

Seit 1815 muss in der Stadt bereits ein Betraum bestanden haben. Einen Synagogenbau errichtete die schnell angewachsene Gemeinde in den Jahren 1840/1841 an der Ecke Mägdestraße/Mauerstraße; das Gebäude wurde im Oktober 1841 unter Teilnahme der Anklamer „Prominenz“ eingeweiht; in den Jahren zuvor waren in einem angemieteten Raume eines Privathauses Gottesdienste abgehalten worden.

             Synagoge Anklam (Skizze: G. Becker)

Als Dank für das Eintreten des Landesherrn für die hiesigen Juden ließ die jüdische Gemeinde den Versammlungsraum mit dem Bildnis des Grafen Max von Schwerin-Putzar schmücken „zum Angedenken an die edlen Grundsätze, die der Graf auf dem ersten vereinigten Landtage zu Gunsten der jüdischen Bürger des preußischen Staates ausgesprochen” hatte. Einmal im Monat wurde in der Synagoge ein Gottesdienst in deutscher Sprache abgehalten. Die Anklamer Gemeinde scheint nie einen eigenen Rabbiner gehabt zu haben; an hohen Feiertagen reiste dieser aus Stettin oder Pasewalk an.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20455/Anklam%20Israelitische%20Wochenschrift%201874%20S358.jpg Kleinanzeige in der "Israelitischen Wochenschrift" (1874)

Auch eine kleine jüdische Elementarschule existierte seit Mitte des 19.Jahrhunderts am Paradeplatz; allerdings besuchten ältere Kinder die öffentlichen städtischen Schulen bzw. das Gymnasium.

Juden in Anklam:

         --- 1812 ..........................   4 Juden,

    --- 1816 ..........................  33   “  ,

    --- 1831 ..........................  80   “  ,

    --- 1843 ...................... ca. 200   “  ,

    --- 1852 .......................... 248   “  (in 53 Familien),

    --- 1861 .......................... 311   “  (ca. 3% d. Bevölk.),

    --- 1871 .......................... 219   “  ,

    --- 1898 .......................... 118   “  (in 35 Familien),

    --- 1910 ..........................  90   “  ,

    --- 1915 ..........................  87   “  ,

    --- 1925 ..........................  74   “  ,

    --- 1933 ..........................  43   “  ,

    --- 1934 ....................... ca. 30   “  ,

    --- 1938 ..........................  15   “  ,

    --- 1940 ..........................  11   “  ,

    --- 1941 (Dez.) ...................  keine.

Angaben aus:  Irene Diekmann (Hrg.), Wegweiser durch das jüdische Mecklenburg-Vorpommern, S. 71 f.

und                  H. Bemowsky/W. Wilhelmus, Jüdisches Leben in Anklam, S. 191

 

Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts erreichte die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinde Anklams mit mehr als 300, vornehmlich jüngeren Personen ihren Höchststand. Die allermeisten Familien lebten von Kleinhandel; es gab aber auch vier Handwerker und zwei Ärzte. Der Großteil der Juden war damals in das kleinstädtische Leben voll integriert. Spannungen zwischen jüdischen und christlichen Stadtbürgern soll es, bis auf die Handelskonkurrenz, nicht gegeben haben; in vereinzelten Fällen kam es auch zu jüdisch-christliche "Mischehen". In den letzten Jahrzehnten des ausgehenden 19.Jahrhunderts setzte verstärkt eine Abwanderung jüdischer Bürger ein: Neben Übersiedlungen in größere deutsche Städte gingen vor allem jüngere Familien in die Emigration, meist nach Übersee.

undefinedAnklamer Marktplatz, um 1910 (aus: wikipedia.org, PD-alt-100)

Den Beginn der Verfolgung markierte der Boykott jüdischer Geschäfte am 1.April 1933. Für die noch 17 jüdischen Familien, die bis dahin das Geschäftsleben Anklams mitbestimmt hatten, war die wirtschaftliche Ausgrenzung der Anfang vom Ende. Folge war eine weitere Abwanderung. Im Jahr 1935 kam es zu weiteren antisemitischen ‚Aktionen’, die von der NS-Presse propagandistisch genutzt wurden: z.B. als Verhaftung wegen „Rassenschande“.

In der Pogromnacht wurde in Anklam die Synagoge an der Mägde-/Mauernstraße angezündet; sie brannte aber nicht aus, und bis zu ihrem Abriss 1942 diente sie als Getreidelager. Aus dem Lagebericht des Stettiner Regierungspräsidenten vom 10.11.1938: „... Anklam: Synagoge brennt. Bei einem jüdischen Geschäft Schaufenster eingeschlagen. ...”  Ende des Jahres 1938 gab es in Anklam keine Geschäfte mit jüdischen Besitzern mehr; entweder waren sie „arisiert“ oder aber ganz aufgegeben worden. Die wenigen in Anklam lebenden Juden (12 Pers.) wurden Mitte Februar 1940 im Zuge der ersten großen Deportation, die fast 1.200 Menschen umfasste, verhaftet und zunächst nach Stettin verfrachtet; von dort erfolgte ihr Abtransport ins Ghetto Piaski/Kreis Lublin; keiner von ihnen kehrte zurück.

Der jüdische Friedhof an der "Min Hüsung" wurde in den letzten Kriegsjahren als Schuttabladeplatz für die Trümmer der Gebäude genutzt, die durch Bombenangriffe zerstört worden waren. Wenige Jahre nach Kriegsende wurde das inzwischen völlig verwahrloste Gelände dann wieder in einen vorzeigbaren Zustand versetzt, und die rund 30 Grabsteine wurden wieder aufgerichtet.


Jüdischer Friedhof in Anklam (Aufn. Elisauer, 2019, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

2012 wurden auf dem Friedhofsgelände ca. 15 Grabsteine umgestoßen bzw. teilweise zerstört.

Eine kleine Gedenkstele - gestaltet von dem Bildhauer Bruno Giese - erinnert heute an die ehemalige jüdische Gemeinde in Anklam; die Inschrift lautet:

Den jüdischen Opfern des Faschismus zum Gedenken

Allen Lebenden zur Mahnung

 

2010 wurden in Anklam die ersten vier sog. „Stolpersteine“ verlegt; 2014 bzw. 2019 kamen einige wenige hinzu.

Stolperstein von Henriette Philipp Stolperstein von Bernhard Philipp verlegt Brüderstraße/Ecke Klosterstraße

                   Stolperstein von Martin Wagner, Anklam Stolperstein von Margarete Wagner, Anklam Stolperstein von Heinz Wagner, Anklam

verlegt in der Keilstraße für Familie Wagner (Aufn. Elisauer, 2019, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

Seit 2019 verfügt Anklam über eine neue Gedenktafel, die in deutscher, englischer, polnischer und schwedischer Sprache die Historie jüdischen Lebens in der Stadt in knapper Weise nachzeichnet. In deutscher Fassung lautet die Beschriftung:

Erstmalig wurden Juden in Anklam gegen Mitte des 14.Jahrhunderts erwähnt. In den folgenden Jahrhunderten ist kaum etwas über jüdische Ansiedlung in Anklam bekannt.

Um 1816 sollen 33 Juden in der Stadt gelebt haben. Seit 1815 gab es wahrscheinlich schon einen Betraum. Aufgrund der schnell wachsenden Gemeinde wurde am 15.Oktober 1841 an der Ecke Mägdestra0e/Mauerstraße eine Synagoge eingeweiht.

Die jüdische Gemeinde scheint nie einen eigenen Rabbiner gehabt zu haben. Zu hohen Feiertagen reiste dieser aus Stettin oder Pasewalk an. Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts erreichte die jüdische Gemeinde Anklams mit mehr als 300 Mitgliedern ihren Höchststand. Der Großteil der Juden war in das kleinstädtische Leben voll integriert.

Nach 1933 begannen auch für die Juden in Anklam Ausgrenzung, Entrechtung und Verdrängung aus Wirtschafts- sowie Berufsleben und schließlich die Deportationen. In der Pogromnacht wurde die Synagoge angezündet. Sie brannte aber nicht aus. Bis zu ihrem Abriss diente 1941 diente sie als Getreidelager.

Großer Dank gilt allen Spendern und Helfern, die es ermöglicht haben, diese Tafel zu errichten.“

 

 

Südwestlich von Anklam bzw. nordöstlich von Neubrandenburg (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei) liegt die Ortschaft Friedland, in der es heute noch einen kleinen jüdischen Friedhof mit 16 Grabsteinen gibt; dieser liegt unmittelbar neben dem kommunalen Friedhof. Dieses ca. 1.000 m² große Begräbnisgelände war vermutlich gegen Mitte des 19.Jahrhunderts angelegt worden, da der ältere Begräbnisplatz wegen Wohnbebauung eingeebnet wurde. Die letzte Beisetzung fand hier 1929 statt. Während der NS-Zeit blieb dieses Begräbnisgelände von Schändungen/Zerstörungen verschont.

 

 

In Lassan (Amt Ziethen) – gelegen am Westufer des Peenestroms ca. 15 Kilometer nordöstlich von Anklam – existierte seit Mitte des 19.Jahrhunderts eine winzige jüdische Gemeinde. Erste jüdische Bewohner wurden bereits 1810 erwähnt; zwanzig Jahre später sollen im Ort zwölf Personen mosaischen Glaubens gelebt haben - und zwar die beiden Familien Cohn und Jacobi. Südwestlich des Ortes befand sich ihr Begräbnisplatz, der in der NS-Zeit (oder möglicherweise auch danach) zerstört und anschließend eingeebnet wurde. Das zwischenzeitlich als Weidekoppel genutzte Gelände zeigt heute keinerlei Hinweise auf dessen ursprüngliche Verwendung als jüdischer Friedhof.

 

 

 

Weitere Informationen:

Eduard Beintker, Aus Anklams vergangenen Tagen, Anklam 1906, S. 59 - 66

Ulrich Grotefend, Geschichte und rechtliche Stellung der Juden in Pommern, in: "Baltische Studien NF", Band 32, 1930

Hermann Bollnow, Juden im alten Anklam, in: "Heimatkalender für Stadt und Kreis Anklam 1936", S. 67 - 72

Heinz Bemowsky (Bearb.), Über Leben und Leiden jüdischer Bürger in Anklam, in: Das faschistische Pogrom vom 9./10.November 1938 - Zur Geschichte der Juden in Pommern Kolloquium der Sektionen Geschichtswissenschaft u. Theologie der Universität Greifswald am 2.Nov. 1988, Greifswald 1989, S. 126 f.

Gerhard Becker (Bearb.), Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Anklam, in: Das faschistische Pogrom vom 9./10.November 1938 - Zur Geschichte der Juden in Pommern Kolloquium der Sektionen Geschichtswissenschaft u. Theologie der Universität Greifswald am 2.Nov. 1988, Greifswald 1989, S. 133 f.

Helmut Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR, Dresden 1990, Band III, S. 1147 f.

Zeugnisse jüdischer Kultur - Erinnerungsstätten in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Tourist Verlag GmbH, Berlin 1992, S. 23

Heinz Bemowsky, Woran der Jüdische Friedhof an ‘Min Hüsung’ erinnert, in: "Heimatkalender 1994", Anklam, S. 49 f.

M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: "Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum", Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 230/231

H.Bemowsky/W.Wilhelmus, Jüdisches Leben in Anklam, in: M.Heitmann/J.H.Schoeps (Hrg.), “Halte fern dem ganzen Land jedes Verderben ...” Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, Hildesheim 1995

Wolfgang Wilhelmus, Juden in Vorpommern, in: "Geschichte Mecklenburg-Vorpommern", No.8/1996, hrg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Mecklenburg-Vorpommern 1996, S. 29 f.

Heinz Bemowsky, Leben und Schicksal der Anklamer Juden, in: "Heimatkalender 1996", Anklam, S. 40 f.

Heinz Bemowsky, Anklamer Juden berichten aus dem Ghetto, in: "Heimatkalender 1997", Anklam, S. 99 f.

Irene Diekmann (Hrg.), Wegweiser durch das jüdische Mecklenburg-Vorpommern, Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam 1998, S. 67 - 82 (Anm. liegt auch als Sonderdruck für Anklam vor)

Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus - Eine Dokumentation II, Hrg. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1999, S. 328/329

Wolfgang Wilhelmus, Geschichte der Juden in Pommern, Ingo Koch Verlag, Rostock 2004

Wolfgang Wilhelmus, Juden in Vorpommern, in: „Beiträge zur Geschichte Mecklenburg-Vorpommern“, No. 8, Schwerin 2007

Robert Scholz (Red.), „Stolpersteine“ werden in Anklam verlegt, online abrufbar unter: endstation-rechts.de vom 19.7.2010

Torsten Heil/Katja Müller (Red.), Schock in Anklam. Jüdischer Friedhof geschändet, in: „Nordkurier“ vom 17.7.2012

Steffen Orgas, Das Leben der Anderen. Juden in Anklam, in: "Pommern – Zeitschrift für Kultur und Geschichte", Bd. 51/2013, S. 12 – 20

N.N. (Red.), Neue Stolpersteine: Anklam erinnert an Opfer jüdischer Familie, in: „Ostsee-Zeitung“ vom 24.4.2014

Petra Klawitter (Red.), Stolpersteinverlegung in Anklam (2014), online abrufbar unter: rsg-roev.de/europaschule

Auflistung der in Anklam verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Anklam

Georg Müller (Red.), Die Anklamer Synagoge, in: "Heimatkalender Anklam und Umgebung", Band 27/2018, S. 26 - 32

Anne-Marie Maaß (Red.), Gedenktafel soll an Synagoge erinnern, in: „Nordkurier“ vom 21.11.2018

Frank Wilhelm (Red.), Briefe aus dem Ghetto. Anklamer Juden im Konzentrationslager ermordet, in: „Nordkurier“ vom 7.12.2018

Petra Klawitter (Red.), Jüdisches Leben in Anklam – Stolpersteine und ehemalige Synagoge, online abrufbar unter: rsg-roev.de/europaschule

Anne-Marie Maaß (Red.), Gedenktafel für Synagoge in Anklam, in: „Nordkurier“ vom 11.4.2019

Matthias Diekhoff (Red.), “Fische-Laden“ erinnert an das jüdische Leben in Lassan, in: „Nordkurier“ vom 25.11.2021

Matthias Diekhoff (Red.), Zur Erinnerung – Buch setzt jüdischen Bürgern ein Denkmal, in: „Nordkurier“ vom 22.12.2021

Matthias Diekhoff (Red.), Jüdisches Leben in Anklam soll mehr in den Fokus rücken, in: „Nordkurier“ vom 30.1.2022

Matthias Diekhoff (Red.), Deportation. Das Ende des jüdischen Lebens in Anklam, in: „Nordkurier“ vom 11.2.2022

Matthias Diekhoff (Red.), Lebenslinie führt von Anklam über Buchenwald nach Shanghai, in: „Nordkurier“ vom 20.2.2022