Burg-Gräfenrode (Hessen)

Wetteraukreis KarteJüdische Gemeinde - Groß-Karben (Hessen) Burg-Gräfenrode ist heute ein Ortsteil (von insgesamt sieben) der Stadt Karben mit derzeit ca. 1.500 Einwohnern im südlichen Teil des hessischen Wetterauskreises - ca. 20 Kilometer nordöstlich von Frankfurt/Main gelegen (Kartenskizze 'Wetteraukreis' mit Eintrag von Karben, aus: ortsdienst.de/hessen/wetteraukreis und Skizze 'Stadtteile von Karben).

 

In der Friedberger "Ordnung der Burgerwehr und Rüstung" von 1579 findet erstmals ein jüdischer Bewohner aus Burg-Gräfenrode Erwähnung: es ist dies "Gotschalck von Burggreven Rode". Im Dorf Burg-Gräfenrode war dann später eine jüdische Gemeinde existent, deren Anfänge bis in die Mitte des 18.Jahrhunderts zurückreichen. Die ins Dorf gelangten jüdischen Familien sollen aus dem Rheinland und aus Böhmen hierher verschlagen worden sein. Ihr Lebensunterhalt war der Vieh- und Handel mit Textilien.

Der Betsaal befand sich in der Freihofstraße; er war bis 1914/1915 in Nutzung; nach dessen Schließung wurden die Ritualien nach Groß Karben gebracht, wo Juden aus Burg-Gräfenrode künftig Gottesdienste besuchten. Eine Mikwe befand sich in einem Privathause in der Kirchstraße (heute Weißenburger Str.).

Ein seitens der Gemeinde angestellter Lehrer war vermutlich nicht vorhanden; Kinder erhielten religiöse Unterweisung von einem „Wanderlehrer“ bzw. von den eigenen Familien. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war über lange Jahre als ehrenamtlicher Vorbeter Nisan Schott tätig, der als Mohel (Beschneider) im weiten Umkreis wirkte und in höchstem Ansehen stand. Nach seinem Ableben erschien ein Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 6. Nov. 1884:

"Heldenbergen. Am 4. Cheschwan verschied unerwartet und urplötzlich bei seinem Morgenspaziergange an einem Schlaganfalle, der nicht allein in seiner engeren Heimat, sondern weit über deren Weichbild hinaus bekannte, hoch geachtete und wertgeschätzte Mohel (Beschneider) - Raw Nisan Bar Rabbi Benjamin - oder Herr Nisan Schott von Burggräfenrode, einer kleinen jüdischen Gemeinde der Wetterau.  Wenn je eine Trauerbotschaft allgemeine Theilnahme und Bestürzung hervorrief, so war es die rubricirte; denn jeder fühlte die Schwere des Verlustes, den die ganze Gegend erlitten. Hatte der Seligentschlafene auch beinahe das 80. Lebensjahr vollendet, so waren die Väter und Mütter gerade dadurch, daß er über 50 Jahre lang deren Kinder in den Bund unseres Vaters Abraham aufnahm und weit über 1.000 Kinder zu beschneiden die Würde hatte, so sehr an ihren lieben, jovialen Schott - er ruhe in Frieden - gewöhnt, dass man ganz sein hohes Alter vergaß und ihn immer und immer wieder zum Beschneider sich erbat. Zu seiner hohen Ehre sei gesagt, daß, trotzdem der Zahn der Zeit auch an seiner sonst so kräftigen Körperconstitution genagt, so, daß jeder Andere vielleicht gar keine Mohelschaften mehr angenommen, so war er doch gewissermaßen beleidigt, wenn man ihn schonen, wenn man den ehrwürdigen Greis die Beschwerden einer Reise ersparen wollte und nach einem anderen Beschneider sich umsah. -  Er diente den weitesten Kreisen in großer Uneigennützigkeit unter teilweiser Aufopferung seines Geschäftes, er nahm nie irgend eine Belohnung an, auch in der Zeit nicht, wo seine Kinder noch klein und unerzogen waren. … Seine beiden Söhne widmete er dem Studium der Medizin, und erlebte die hohe Freude, dieselben als anerkannt wissenschaftlich gebildete Männer, als sehr wertgeschätzte Ärzte in Frankfurt am Main und Hamburg viel beschäftigt und hoch geachtet zu sehen. … Die kleine Gemeinde Burggräfenrode verliert in ihm ihren geistigen Leiter, … Zu seinem Leichenbegängnisse waren Jehudim (fromme Juden) aus Frankfurt, Gießen, Friedberg und allen umliegenden Landgemeinden herbeigeeilt, um ihrem alten, ehrwürdigen Freunde die letzte Ehre zu erweisen, auch die christlichen Bewohner des Ortes folgten in großer Zahl seinem Sarge. ...“

Der jüdische Friedhof am Rande des Einsiedelwäldchens (in der Gemarkung "Einsiedel") entstand nach 1800, doch hatten die im Ort ansässigen Juden in diesem Waldstück schon Jahrzehnte zuvor ihre Toten begraben.

Die Gemeinde gehörte zum Provinzialrabbinat in Gießen

Juden in Burg-Gräfenrode:

--- 1721 ...........................  4 Haushaltungen,

--- 1830 ........................... 24 Juden,

--- 1861 ........................... 62   “  (ca. 11% d. Bevölk.),

--- 1890 ........................... 30   “  ,

--- 1900 ........................... 24   “  (ca. 5% d. Bevölk.),

--- 1905 ........................... 19   “  ,

--- 1930 ...........................  6 Familien,

--- 1933 ........................... 13 Juden,

--- 1939 ...........................  keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 102/103

 

Nach dem Ersten Weltkrieg wanderten die meisten Familien aus, und die Gemeinde löste sich 1927 auf.

Während der Novembertage 1938 kam es zu Übergriffen gegen die wenigen noch hier lebenden jüdischen Familien. Bis Ende der 1930er Jahre verzogen die letzten Familien nach Frankfurt/Main; wer nicht mehr rechtzeitig emigrieren konnte, der wurde dann von dort deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ wurden elf Burg-Gräfenroder Juden Opfer der „Endlösung(namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/burg-graefenrode_synagoge.htm).

 

Etwa 20 Grabsteine des jüdischen Friedhofs - westlich der Ortschaft im Gewann "Einsiedel" gelegen - sind noch erhalten; die letzte Beerdigung fand hier 1934 statt. 

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20153/Burg%20Graefenrode%20Friedhof%20152.jpghttp://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20153/Burg%20Graefenrode%20Friedhof%20154.jpg

Jüdischer Friedhof in Burg-Gräfenrode (Aufn. J. Hahn, 2008)

2009 wurden sog. „Stolpersteine“ in Burg-Gräfenrode verlegt.

Stolpersteine Löwenberg Willi-Martel-Inge-Judith Burg-Gräfenrode.jpg

fünf Steine verlegt für Angehörige der Familie Löwenberg, Weißenburgstraße (Aufn. I.w., 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

                „Stolpersteine“ für Fam. Kirschberg, Freihofstr. Stolpersteine Kirschberg Burg-Gräfenrode.jpg

Seit 2017 erinnert der „Klärchenweg“ in einem Neubaugebiet Burg-Gräfenrodes an die 1922 geborene Clara Kirschberg (verh. Zweig), die mit einem Kindertransport nach England kam und von hier später in die USA übersiedelte.

 

vgl. dazu auch: Groß-Karben (Hessen)

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 102 – 104

Wilfried Rausch, Es klingt aus alten Tagen - Burg-Gräfenroder Heimatbuch, Hrg. Magistrat der Stadt Karben, Karben 1982 (Kap. 26: Die jüdische Gemeinde in Burg-Gräfenrode) 

Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945. Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt, 1995, S. 327

Susanne Gerschlauer, Katalog der Synagogen, in: Ulrich Schütte (Hrg.), Kirchen und Synagogen in den Dörfern der Wetterau, in: "Wetterauer Geschichtsblätter - Beiträge zur Geschichte u. Landeskunde", Band 53, Friedberg (Hessen) 2004, S. 565

Brug-Gräfenrode, in: alemannia-judaica.de

Meinhard Jänsch (Bearb.), Familienbuch der jüdischen Bevölkerung von Burg-Gräfenrode 1839 – 1900, erstellt 2010 (online abrufbar)

Initiative Stolpersteine in Karben (Hrg,), Stolpersteine in Burg-Gräfenrode, online abrufbar unter: stolpersteine-in-karben.de

N.N. (Red.), Film über Holocaust-Überlebende aus Karben (Klärchen Kirschberg aus Burg-Gräfenrode), in: „Rhein-Main-News“ vom 20.9.2010

Juden in Burg-Gräfenrode – Die jüdische Gemeinde in Burg-Gräfenrode (mit detaillierten biografischen Angaben zu den jüdischen Familien), in: stolpersteine-in-karben.de

Kim Anh Schäfer (Red.), Stolpern mit Kopf und Herz, in: „Frankfurter Neue Presse“ vom 27.6.2016

Jana Kötter (Red.), Ein Weg für das Karbener Klärchen – Straße wird Jüdin Clara Zweig gewidmet, in: „Frankfurter Neue Presse“ vom 23.6.2017