Biblis (Hessen)
Biblis ist eine Kommune mit derzeit ca. 9.200 Einwohnern im NW des heutigen Kreises Bergstraße – ca. 15 Kilometer nordöstlich von Worms bzw. südlich von Darmstadt gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Bergstraße', aus: ortsdienst.de/hessen/bergstrasse).
Gegen Mitte/Ende des 17.Jahrhunderts ist eine erste Anwesenheit von Juden in Biblis urkundlich nachgewiesen; so sind 1668 die beiden Juden Hayum und Salomon genannt. Allerdings sollen hier - auch noch während des 18.Jahrhunderts - nur sehr wenige jüdische Familien gelebt haben. Eine Gemeinde bildete sich erst in den ersten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts; die Gründung als autonome Gemeinde erfolgte offiziell erst Mitte der 1840er Jahre. Ein Synagogenneubau in der Enggasse konnte im Jahre 1832 eingeweiht werden, nachdem eine Baugenehmigung mehrere Jahre auf sich hatte warten lassen. Das alte jüdische Bethaus in der Darmstädter Straße wurde danach aufgegeben.
hist. Aufnahmen von Biblis und Rekonstruktionsskizze der Synagoge (Rudi Dörr), aus: biblis.eu
Etwa 15 Jahre später ließ die jüdische Gemeinde gegenüber der Synagoge ein Wohnhaus errichten, das dem Lehrer/Kantor als Dienstwohnung zur Verfügung gestellt wurde.
1862 erhielt die Kultusgemeinde die Erlaubnis zur Einrichtung einer Privatschule, die sich in einem Haus in der Bachgasse befand, das auch eine Mikwe beherbergte.
In einem Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 22.Aug. 1860 hieß es: „Biblis bei Worms, im August. Seit mehr als 15 Jahren hat sich in dem Dorfe Biblis, das wohl, da es circa 3.000 Einwohner zählt, manchem Städtchen an Bedeutung gleichkömmt, eine jüdische Gemeinde gebildet. Diese hat sich durch steten Zuzug isr. Familien fortwährend vergrößert, so daß jetzt 30 meist wohlhabende jüdische Familien daselbst in seltener Eintracht wohnen.
Vor fünf Jahren wurde die hiesige Religionsschule erweitert; dem Hauptlehrer derselben, dem würdigen Herrn Kunreuter, stand ein Hilfslehrer zur Seite. Allein das Bedürfnis erforderte eine jüdische Elementarschule; mit großer Bereitwilligkeit dotirte die Gemeinde die Elementarlehrerstelle mit 350 Thl. jährlich, nebst freier Wohnung und Heizung. Unter Göttlichem Beistande ist es uns nun auch gelungen, in der Person des Herrn Dr. Sander einen tüchtigen Schulmann zu acquiriren, der die Leitung der Schule übernahm und den Unterricht in der deutschen und französischen Sprache, sowie in der hebräischen Grammatik ertheilt, während Herr Kunreuter ihm in den anderen Unterrichtsfächern treulich zur Seite steht. Da solche Kräfte wirken, zweifeln wir nicht an dem Gedeihen und Aufblühen unserer Schule. Der Schulvorstand."
Später wurde die jüdische Schule in die Darmstädter Straße verlegt und 1899 aufgelöst.
Das religiöse Gemeindeleben wurde im 19.Jahrhundert durch den 1813 in Biblis geborenen Salomon Bodenheimer geprägt, der fünf Jahrzehnte Vorsteher der Bibliser Gemeinde war und sich mit der Gründung einer Talmud-Thora-Schule und einer Israelitischen Bürgerschule, die Biblis zum Zentrum jüdischen Lebens in der Region machten, allgemeine Anerkennung verschaffte. Auch an der Gründung des Israelitischen Erziehungsinstituts in Pfungstadt war Salomon Bodenheimer maßgeblich beteiligt. 1886 verstarb er in seiner Geburtsstadt. In der Zeitschrift „Der Israelit” vom 1.3.1886 wurde Salomon Bodenheimer mit den folgenden Worten gewürdigt:
„.... Seine Wohltätigkeit kannte keine Grenzen. Die Hilfesuchenden wurden unterstützt, die Hungrigen gesättigt, die Nackten bekleidet. Wo irgend eine Institution die Zwecke des Judentums förderte, fand sie in dem Verewigten den eifrigsten Teilnehmer und Förderer. Als Mohel genoß er eines guten Rufes und wurde in der ganzen Umgegend mit dieser heiligen Funktion betraut, die ihm ebenfalls, namentlich bei armen Eltern, große Opfer auferlegte. Bei den vornehmsten Herrschaften seines engern Vaterlandes war er eine hochangesehene Persönlichkeit und konnte in Folge dessen für Arme und Bedrängte manchmal große Erfolge erziehen. Es war ein reiches, reiches Leben, das nunmehr vollendet ist, reich an edlen, guten Taten, reich an wahrhafter Gottesfurcht und unaussprechlicher Menschenliebe. Auch die Armen des heiligen Landes haben in ihm einen treuen Freund und tätigen Helfer verloren. ...“
Anzeige aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 22.Juli 1920
zwei weitere Stellenausschreibungen der Jahre 1924 und 1925:
Ihre Toten begruben die Bibliser Juden auf dem Verbandsfriedhof in Alsbach-Hähnlein.
Die Bibliser Kultusgemeinde war dem orthodoxen Bezirksrabbinat Darmstadt II zugewiesen.
Juden in Biblis:
--- um 1765 ........................ 2 jüdische Familien,
--- um 1780 ........................ 5 “ “ ,
--- 1806 ........................... 41 Juden,
--- 1817 ........................... 9 jüdische Familien,
--- 1820 ........................... 11 “ “ ,
--- 1830 ........................... 75 Juden,
--- 1861 ........................... 182 “ ,
--- 1871 ........................... 187 " ,
--- 1905 ........................... 114 “ ,
--- 1925 ....................... ca. 100 “ ,
--- 1932/33 .................... ca. 60 “ (in 15 Familien),
--- 1939 ........................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 68
und Carlo Gobs, Biblis - Geschichte einer Gemeinde 836 - 1986, S. 266 - 268
Mit Ausnahme von drei Metzgereien und zwei Matzen-Bäckereien in jüdischem Besitz verdienten die meisten Juden von Biblis ihren Lebensunterhalt mit dem Handel. Unter diesen gab es auch die „Heuhändler“, die ihr Produkt über relativ weite Entfernungen zumeist an die Garnisonen in Darmstadt, Mainz und Worms verschifften und später per Bahntransport lieferten.
gewerbliche Anzeigen von 1890 bzw. 1906
Um 1900 gab es auch eine Leinenweberei, die im jüdischen Besitz war, aber bald wieder aufgegeben wurde.
Zu Beginn der NS-Zeit lebten in Biblis noch knapp 60 jüdische Einwohner.
An den „Aktionen“ der „Reichskristallnacht“ beteiligte sich hier - unter Führung der SA-Brigade 50 aus Starkenburg - nicht nur das ‚gemeine Volk’. Auch angesehene Bibliser Bürger und Jugendliche waren an den Zerstörungen und Plünderungen von Wohnungen jüdischer Bewohner aktiv beteiligt; dabei sollen ‚alte Rechnungen’ beglichen worden sein. Die verängstigten jüdischen Bewohner versteckten sich in Scheunen in der Nachbarschaft. Die randalierende Meute brach dann die Synagoge* auf und demolierte die Inneneinrichtung; anschließend wurden die Juden zu Aufräumungsarbeiten eingesetzt. * Die Synagoge war bereits zwei Monate zuvor für 1.200,- RM an die Kommune Biblis veräußert worden; deshalb entging sie einer Inbrandsetzung. Das Gebäude diente fortan dem Reichsluftschutzbund als Domizil.
Bereits wenige Wochen später hatten alle jüdischen Bewohner Biblis verlassen.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem sind namentlich 30 gebürtige bzw. längere Zeit am Ort wohnhaft gewesene Bibliser Juden bekannt, die Opfer des Holocaust geworden sind (namentliche Nennung der betreffenden Personen siehe: alemannia-judaica.de/biblis_synagoge.htm).
Nach Kriegsende wurde das Synagogengebäude zu unterschiedlichen Zwecken genutzt und um 1980 abgerissen. Auf dem freigewordenen Grundstück errichtete die Stadt ihr neues Rathaus.
(Aufn. Rudi Dörr, 2014, aus: biblis.eu) Hier erinnert seit 1982 ein Gedenkstein an die ehemalige Synagoge von Biblis. Unter einer stilisierten Menora findet sich die kurzgefasste Inschrift:
Zur Erinnerung an die Synagoge in der Enggasse 6
1832 - 1938
Der in Biblis 1881 geborene und seit 1911 in Bolivien Dr. Moritz (Mauricio) Hochschild schuf den zweitgrößten Zinn-Minenkonzern Boliviens. Als „El Magnate Ministerioso“ half er während der NS-Zeit Tausenden jüdischen Flüchtlingen bei ihrer Auswanderung aus Europa, indem er sie mit gefälschten bolivianischen Personaldokumenten ausstattete und ihnen die Schiffspassagen nach Südamerika finanzierte. Angeblich soll Hochschild mehr als 9.000 Juden ins Land geholt haben; unterstützt soll er dabei vom damaligen bolivianischen Präsidenten Busch worden sein. Eine noch weitergehendere Einwanderung machte dann der Kriegsausbruch zunichte. In den Jahren 1939/1944 wurde Hochschild von der bolivianischen Regierung verhaftet und zum Tode verurteilt; kurz nach seiner Haftentlassung (1944) wurde er gekidnappt; nachdem er wieder befreit war, verließ er Bolivien für immer. Anfang der 1950er Jahren wurden seine Minen enteignet und verstaatlicht. Moritz Hochschild ging zurück nach Europa, wo er 1965 einsam in einem Pariser Hotel starb. Nach Moritz Hochschild ist eine Straße in Biblis benannt.
Eine weitere Ortsstraße ist nach dem ebenfalls in Biblis geborenen Juden Hugo Sellheim benannt, der eine Universitätskarriere als Mediziner machte und 1936 vertorben ist.
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 68/69
Ehemalige jüdische Familien in Biblis, in: Biblis im Wandel der Zeit - Bildband aus Anlaß der 1150-Jahr-Feier, Hrg. Gemeindevorstand der Gemeinde Biblis 1986
Carlo Gobs, Biblis - Geschichte einer Gemeinde 836 - 1986, Hrg. Gemeinde Biblis anläßlich der 1150-Jahr-Feier, Biblis 1986, S. 260 ff.
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I: Regierungsbezirk Darmstadt, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1995, S. 14/15
Rudi Dörr, Die Synagoge der jüdischen Gemeinde Biblis (online verfügbar unter: biblis.eu/gv_biblis/Leben in Biblis/Ortsgeschichte/Biblis/Synagoge Biblis/)
Biblis mit Ortsteil Nordheim und Hofheim, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Textdokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Rudi Dörr/Günter Mössinger (Bearb.), Jüdisches Leben in Biblis und Nordheim, hrg. vom Verein für Heimatgeschichte Nordheim e.V., 2012
Georg Ismar (Red.), Zweiter Oskar Schindler? Sensationsfund zum deutschen Minen-König in Bolivien, online abrufbar unter: stern.de vom 23.6.2017 (oder unter: Tausende Juden gerettet? - Bolivien sieht in deutschen Minenbaron Moritz Hochschild zweiten „Oskar Schindler“, in: „Cellesche Zeitung“ vom 24.6.2017)