Biebrich (Hessen)
Die beiden Dörfer Biebrich und Mosbach bildeten ab 1892 gemeinsam die Stadt Biebrich-Mosbach. Einige Jahre später fiel die Bezeichnung ‘Mosbach’ weg; etwa drei Jahrzehnte danach folgte die Eingemeindung Biebrichs in die Stadt Wiesbaden (Ausschnitte aus hist. Karten von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Stadtteile von Wiesbaden', TUBS 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Vereinzelt hatten sich schon gegen Ende des 17.Jahrhunderts Juden in Biebrich und Mosbach aufgehalten. Bis ca. 1830 existierte ein angemieteter Betraum, der gemeinsam von den Biebricher und Mosbacher Juden aufgesucht wurde. Danach wurde eine Synagoge gebaut, die vermutlich um 1865 erweitert worden ist. Anderen Angaben zufolge soll die Synagoge in Biebrich 1865 durch den Ausbau einer Scheune entstanden sein. Dem widerspricht aber der folgende Zeitungsbericht:
Über die Hundertjahrfeier der Synagoge liegt der folgende Bericht aus der „Jüdisch-liberalen Zeitung” vom 15.1.1930 vor:
Biebrich a. Rh. (Hundertjahrfeier der Synagoge). Hier fand unter Beteiligung aller Gemeindemitglieder und zahlreicher Gäste aus den benachbarten Gemeinden Wiesbaden, Bierstadt, Schierstein, Flörsheim und Höchst a. M. die Feier des 100jährigen Bestehens der Synagoge statt. Am Samstag, den 4. Januar 1930 wurde ein feierlicher Festgottesdienst abgehalten, bei dem Herr Bezirksrabbiner Dr. Lazarus - Wiesbaden die formvollendete Festrede hielt. Am Tage darauf fand der offizielle Festakt unter Teilnahme der staatlichen, weltlichen und geistlichen Behörden statt. Bei dieser Feier, die mit der Enthüllung einer Gedenktafel für die im Weltkrieg gefallenen Mitglieder der Biebricher Gemeinde verbunden war, hielt Herr Dr. Lazarus die offizielle Festrede. Nach ihm sprachen die Vertreter der verschiedenen Behörden und Organisationen, Herr Lehrer Lilienthal für die Ortsgruppe Wiesbaden der Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, Herr Rabbiner Dr. Ansbacher für die alt-israelitische Kultusgemeinde, die Geistlichen der beiden Konfessionen, die Vertreter der Stadt und Herr Lehrer Katzenstein für die Nachbargemeinden. Für die Gemeinde Biebrich selbst sprach in längeren Ausführungen Herr Lehrer Sulzbacher, der auch einen geschichtlichen Überblick gab und dankbar der heimgegangenen Führer der Gemeinde gedachte, vor allem der in letzter Zeit verstorbenen Kultusvorsteher Moritz Sender und Isaak Kahn und des Lehrers Dr. S. Baer, dessen überaus bedeutende wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiete der Massora und Bibelexegese in der ganzen wissenschaftlichen Welt anerkannt worden sind. - Am Abend beschloß ein Ball die Feierlichkeit.
Zur Besorgung rituell-religiöser Aufgaben der Gemeinde war ein Lehrer angestellt. Als herausragender Lehrer in der Biebricher Gemeinde galt Dr. Seligmann Baer, der von 1856 bis zu seiner Pensionierung 1895 Lehrer/Vorbeter in Biebrich war (Kurzbiografie siehe unten). Danach übte dieses Amt (bis Mitte der 1930er Jahre) Simon Sulzbacher aus.
Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 30. Juli 1903
Ihre Verstorbenen begrub die Gemeinde zunächst auf dem jüdischen Friedhof in Wiesbaden, ab ca. 1885/1890 konnte dann ein abgegrenzter Teil des kommunalen Friedhofs genutzt werden.
Die jüdische Gemeinde Biebrich gehörte zum Rabbinatsbezirk Wiesbaden.
Juden in Biebrich/Mosbach:
--- um 1715 ......................... 2 jüdische Familien,
--- um 1780 ......................... 13 “ “ ,
--- 1836 ............................ 109 Juden,
--- 1843 ............................ 141 “ (in ca. 30 Familien, ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1871 ............................ 137 “ (ca. 2% d. Bevölk.),
--- 1885 ............................ 139 “ ,
--- 1900 ............................ 165 “ ,
--- 1905 ............................ 159 “ (ca. 1% d. Bevölk.),
--- 1913 ............................ 188 “ ,
--- 1921 ............................ 211 “ ,
--- 1930 ............................ 167 “ ,
--- 1933 ........................ ca. 150 “ .
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 71
Blick auf Biebrich/Rhein und Kaiserplatz mit kath. Kirche - historische Ansichtskarten (um 1910/1920)
Kleinanzeigen jüdischer Gewerbetreibender aus den Jahren 1891 und 1901 bis 1904
In den Anfangsjahren der NS-Diktatur soll das Verhältnis zwischen christlichen und jüdischen Bewohnern weiterhin relativ unbelastet gewesen sein, trotzdem verließen Juden, vor allem jüngere, den Ort. Noch im Jahre 1938 sollen in Biebrich Gottesdienste abgehalten worden sein.
Das während des Pogroms von 1938 demolierte und teilzerstörte Synagogengebäude wurde während des Krieges durch eine Luftmine völlig zerstört, die Ruine wenig später abgebrochen. Die letzten jüdischen Bewohner wurden deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind 30 aus Biebrich stammende bzw. längere Zeit am Ort ansässig gewesene Juden Opfer des Holocaust geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/biebrich_synagoge.htm).
In der Eingangshalle des alten Rathauses der früheren Stadt Biebrich erinnerte seit 1979 eine Gedenktafel mit folgendem Text an die Synagoge der einstigen jüdischen Gemeinde Biebrich:
Zum Gedenken an die Jüdische Gemeinde Biebrich, die sich nach 1800 gebildet hatte.
1865 erbaute sie sich in der Rathausstraße 37 eine eigene Synagoge,
die am 9.November 1938 zerstört wurde.
Die 130 Mitglieder der Gemeinde wurden aus ihrer Heimat vertrieben oder starben in Konzentrationslagern.
20 Jahre später wurde diese Gedenktafel an den einstigen Standort der Synagoge umplatziert.
Gedenktafel (Aufn. 2008, Aktives Museum Spiegelgasse)
Am Holocaust-Gedenktag 2010 wurde in der Rathausstraße in Biebrich eine sechs Meter hohe Stele enthüllt; dieses Objekt des Wiesbadener Künstlers Karl-Martin Hartmann – eine mit roten Glaselementen versehene Stahlkonstruktion - befindet sich an der Stelle, an der einst die Biebricher Synagoge stand. Die aufragende schmale Stele ist Teil des Projekts „Die Stele - Symbol für Toleranz”.
An verschiedenen Stellen im Biebricher Stadtgebiet erinnern sog. "Stolpersteine" an Opfer der Shoa; beginnend 2007 wurden im Laufe der Jahre weitere Steine verlegt, so dass derzeit ca. 30 messingfarbene Steinquader zu finden sind (Stand 2023).
verlegt für das Ehepaar Kussel, Sackgasse (Aufn. aus: sehenswertes-biebrich.de)
... und im Cheruskerweg (Aufn. Renemann, 2013, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Mainstraße (Aufn. R., 2023, aus: wikipedia.org CC BY-SA 4.0)
Das durch eine Steinmauer von der christlichen Friedhofsanlage abgegrenzte jüdische Gräberfeld in Biebrich blieb während der NS-Zeit unangetastet. Gegenwärtig macht das Friedhofsareal einen recht vernachlässigten Eindruck.
verwahrlostes Gräberfeld (Aufn. J. Hahn, 2008)
Die Biebricher jüdische Familie Sender war im 19./20. Jahrhundert in der weiten Umgebung bekannt. Herausragende Vertreter waren der herzogliche Hoflieferant Joseph Sender und der Mohel (Beschneider) Hayum Sender. Moritz (Moses) Sender war zu Beginn des 20. Jahrhunderts einige Jahre Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Biebrich war. Seine Tochter Toni (geb. 1888 in Biebrich) engagierte sich in der USDP und war von 1919 bis 1933 als eine der ersten Frauen Reichstagsabgeordnete. 1933 floh sie in die USA. An Toni Sender erinnert in Biebrich heute das „Toni-Sender-Haus“ mit einer Kindertagesstätte und einem Alten- und Pflegeheim. Die Stadt Frankfurt vergibt seit 1992 für frauenpolitisches Engagement an bedeutende Frauen den „Toni-Sender-Preis“.
Ein weiterer bekannter Sohn der Stadt war der 1825 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geborene Seligmann Baer, der sich als Religionsphilosoph und Sprachgelehrter einen Namen machte. Die Philosophische Universität Leipzig verlieh ihm 1867 ehrenhalber die Doktorwürde. Bis zu seinem Tod im Jahr 1897 amtierte der zum Ehrenbürger ernannte Seligmann Baer als Religionslehrer und Vorsänger in Biebrich. Anlässlich seines 100.Geburtstags wurde 1925 an seinem Geburtshaus eine Gedenktafel angebracht. Die Beschriftung seines Grabsteins lautet: „Hier ruht ein frommer Mann, der lebte in seinem Glauben, ein Weiser, dessen Gottesfurcht der Weisheit stets voranging, ein treuer Lehrer seiner Gemeinde bis zu seinem Tode. Er verfasste viele und wertvolle Werke, erklärte und verbesserte festtägliche Gebete; die Herausgabe der Heiligen Schrift, vielfach verbessert und erläutert, erfolgte von ihm. Die Massorah auf die 5 Bücher Mose wurden von ihm mit großem Verständnis gesichtet und geordnet. Seine Seele sei eingebunden in den Bund des ewigen Lebens!“
[vgl. Wiesbaden (Hessen)]
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 70 - 73
eg. (Red.), Nicht einmal im Bild erhalten: Synagoge der Biebricher Juden, in: „Wiesbadener Kurier“ vom 2. 3.1979
Juden in Wiesbaden von der Jahrhundertwende bis zur “Reichskristallnacht”. Ausstellungskatalog des Hessischen Hauptstaatsarchivs, Wiesbaden 1988
Förderkreis Aktives Museum Deutsch-Jüdischer Geschichte in Wiesbaden e.V. (Hrg.), Osteuropäisches Judentum in Wiesbaden, in: "Reihe Begegnungen", Heft 2, Wiesbaden 1991
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945 - Hessen I - Regierungsbezirk Darmstadt, Hrg. Studienkreis Deutscher Widerstand, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1995, S. 348 f.
Franziska Conrad, Zustimmung, Mitläufertum und Zivilcourage - Wiesbadener Bürger und der “Holocaust”, in: "Geschichte lernen", Heft 69: Holocaust, Mai 1999, S. 61 ff.
Rolf Faber, Seligmann Baer (1825-1897). Neue Erkenntnisse zu Leben und Werk des jüdischen Gelehrten aus Wiesbaden-Biebrich, in: "Nassauische Annalen", Bd. 112, Wiesbaden 2001
Jüdisches Leben in Biebrich seit dem 17.Jahrhundert, Ausstellung des Aktiven Museums Spiegelgasse, Wiesbaden 2009
Kerstin Zehmer, Traditionell, patriotisch und engagiert - Jüdische Gemeinde- und Familiengeschichten in Wiesbaden-Biebrich. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, hrg. vom Aktiven Museum Spiegelgasse, Wiesbaden 2009
Lothar Bembenek, Das Leben der jüdischen Minderheit in Wiesbaden-Biebrich bis zum Ersten Weltkrieg, hrg vom Aktiven Museum Spiegelgasse, Wiesbaden 2010
Michael Grabenströer (Red.), Stele in Biebrich – Platzhalter für verschwundene Synagoge, in: "Frankfurter Rundschau" vom 29.1.2010
Biebrich mit Mosbach, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Textdokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Auflistung der in Wiesbaden-Biebrich verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Biebrich
Stolpersteine in Biebrich: Namensliste – Verlegeort - Verlegedatum, in: sehenswertes-biebrich.de
Aktives Museum Spiegelgasse (Hrg.), Gedenkblätter für jüdische Opfer aus Biebrich, online abrufbar unter: am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/