Birkenau (Hessen)

Jüdische Gemeinde - Heppenheim/Bergstraße (Hessen)Bildergebnis für landkreis bergstraße ortsdienst.de Birkenau im Odenwald ist eine Kommune mit derzeit ca. 10.000 Einwohnern im südhessischen Kreis Bergstraße – zwischen Viernheim und Weinheim ca. 25 Kilometer nordöstlich von Mannheim gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905 ohne Eintrag von Birkenau, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Bergstraße', aus: ortsdienst.de/hessen/bergstrasse).

 

Auf dem Gebiet des heutigen Kreises Bergstraße existierten im 19.Jahrhundert 15 selbstständige jüdische Gemeinden, darunter auch die von Birkenau.

In dem vom Dreißigjährigen Krieg, dem Pfälzer Erbfolgekrieg (1688-1697) und dem Spanischen Erbfolgekrieg (1707) stark betroffenen Dorf Birkenau siedelte sich vermutlich um 1655 die erste jüdische Familie an. Sichere urkundliche Hinweise auf Juden in Birkenau stammen aus dem ausgehenden 17.Jahrhundert. Als ‚Schutzjuden’ waren sie anfänglich den Herren von Wamboldt unterstellt. In den ersten Jahrzehnten des 18.Jahrhunderts waren es fast 30 jüdische Familien, die in Birkenau lebten und damit ein Drittel der Dorfbevölkerung stellten. Ihren ärmlichen Lebensunterhalt bestritten die hiesigen Juden mit dem Viehhandel, dem Metzger- und dem Hausiergewerbe.

Gottesdienstliche Zusammenkünfte und die Unterrichtung der Kinder fanden zunächst in angemieteten Privaträumen statt; ab ca. 1800 verfügte die „gemeine Judenschaft“ über „ein einstöckig Haus, eine Judenschule und ein Baadhäuschen“. Ende der 1850er Jahre errichtete die Gemeinde ihre neue Synagoge mit ca. 60 Plätzen in der Obergasse, nachdem das ältere Gebäude einem Brand zum Opfer gefallen war.

 Bauskizzen von 1857 (aus: Wolfgang Gebhard: Geschichte der Birkenauer Juden)

   http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%2069/Birkenau%20Synagoge%20004.jpg

Synagoge von Birkenau (hist. Aufn., aus: P. Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen ...)

                  Über die Einweihung der neuen Synagoge in Birkenau (18.10.1859) hieß es in einem Artikel des „Frankfurter Journals“:

Birkenau, 18. Oct.

Das auch sonst so besuchte Birkenauer Thal war gestern auffallend belebt. Eine große Menschenmasse wollte nach dem kleinen schön gelegenen Birkenau. Die israelitische Gemeinde daselbst, welche bereits vor 8 Jahren durch eine Feuersbrunst ihr Gotteshaus verlor, feierte nämlich die Einweihung der neuen Synagoge ... Das Gebäude, zwar nicht groß, ist sehr geschmackvoll gebaut und entspricht das Innere dem gefälligen Aeußeren. Die Feierlichkeit wurde durch die Gegenwart des Großh. Kreisraths aus Lindenfels gehoben. Der Festzug, dem sich Juden sowohl als Christen anschlossen, bewegte sich durch die Straßen des Orts bis vor die Synagoge. Dort wurde der Schlüssel des Tempels dem Herrn Kreisrath überreicht, wobei dieser Gelegenheit nahm, in einer kräftigen Rede seine humanen Gesinnungen an den Tag zu legen. Nach einer entsprechenden Erwiderung des Hrn. Dr. Löb aus Pfungstadt, der die Functionen eines Rabbiners versah, begann die religiöse Feier. ...

 Wortlaut der Einweihungsrede des Kreisrats Dr. Westernacher siehe: Wolfgang Gebhard, Geschichte der Birkenauer Juden, in: Gemeinde Birkenau (Hrg.), Birkenauer Schriften, Heft 4/1993, S. 75f.

                Aus dem gleichen Jahre stammte auch die Synagogenordnung:

... Nach Vernehmung des Vorstandes der israelitischen Religionsgemeinde zu Birkenau und der Lokalpolizeibehörde daselbst, wird mit Genehmigung Großh. Ministeriums des Innern vom 18. l.Mts. zur Erhaltung der Ordnung und zur Wahrnehmung des Anstandes beim Gottesdienste in der Synagoge zu Birkenau folgendes bestimmt:

§ 1. Außer den zum Vorbeten und Vorsingen bestimmten Personen darf Niemand in der Synagoge während des Gottesdienstes sprechen oder singen.

§ 2. Während des Gottesdienstes ist in der Synagoge der Genuß von Speisen und Getränken sowie das Rauchen und Kauen von Tabak untersagt.

§ 3.   Wer in der Synagoge erscheint, soll reinlich und anständig gekleidet sein. Verheiratete Männer haben in der Synagoge den Kopf mit einem Hute zu bedecken. Unverheiratete alsdann, wenn sie zur Thora auftreten.

§ 4. Kinder unter fünf Jahren dürfen nicht in die Synagoge gebracht werden.

§ 5. Niemand darf ohne Not vor dem Schlusse des Gottesdienstes die Synagoge verlassen.

...  Lindenfels, den 27.Juli 1859                    .....

 

In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts gab es am Ort zeitweilig eine jüdische Elementarschule, die jedoch wegen fehlender finanzieller Mittel um 1850 aufgegeben wurde.

Zu den gemeindlichen Einrichtungen gehörte auch ein eigener, seit dem 18.Jahrhundert bestehender Friedhof am Ort; zuvor waren Verstorbene auf dem in Hemsbach beerdigt worden. Mitgenutzt wurde der Birkenauer Judenfriedhof bis ca. 1845 von der Rimbacher Gemeinde. 

Die kleine jüdische Gemeinde Birkenau unterstand dem orthodoxen Provinzialrabbinat Darmstadt.

Juden in Birkenau:

    --- um 1690 ..................... ca.  25 Juden,

    --- um 1720 ..................... ca. 140   “  ,

    --- um 1750 ..................... ca.  55   “  ,

    --- 1785 ............................  67   “  ,

    --- 1836 ............................  72   “  ,

    --- 1851 ............................  96   “  ,

    --- 1861 ............................ 104   “  ,

    --- 1872 ............................ 120   “   (8,5% d. Bevölk.),

    --- 1880 ............................  85   “  ,

    --- 1900 ............................  48   “  ,*    *andere Angabe ca. 100 Pers.

    --- 1933 ........................ ca.  40   “  ,

    --- 1939 ............................  24   “  ,

    --- 1942 (Dez.) .....................  keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 79

und                 Wolfgang Gebhard, Geschichte der Birkenauer Juden, S. 12

 

Mit Beginn der NS-Zeit ging die Zahl der jüdischen Einwohner so weit zurück, dass das Gemeindeleben nicht mehr aufrecht erhalten werden konnte; daher beschloss die Restgemeinde, das Synagogengebäude zu verkaufen. Noch im November 1934 hatte die kleine jüdische Gemeinde das 75jährige Synagogenjubiläum begangen; einem einem Kurzartikel der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 8.11.1934 hieß es:

https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20297/Birkenau%20Israelit%2008111934.jpg

Am 6.November 1938 versammelten sich die wenigen Gemeindemitglieder zu einer schlichten Abschiedsfeier zum letzten Mal in der Synagoge. Vier Tage später legten SA-Angehörige im Synagogengebäude Feuer, die Inneneinrichtung brannte aus. Noch am gleichen Tag wurde das beschädigte Gebäude an die Ortsgemeinde verkauft, die es 1940 abtragen ließ. Zeitgleich wurden Wohnungen jüdischer Familien demoliert und auch geplündert, die Bewohner z.T. misshandelt, einige jüdische Männer „in Schutzhaft“ genommen und in ein Konzentrationslager abtransportiert. Nachdem bis Mitte 1941 noch einige Birkenauer Juden nach Übersee emigrieren konnten, wurden im Laufe des Jahres 1942 die letzten acht jüdischen Bewohner nach Piaski-Lublin bzw. Theresienstadt deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem wurden insgesamt 27 gebürtige bzw. längere Zeit in Birkenau wohnhaft gewesene Juden Opfer des Holocaust (namentliche Nennung der betreffenden Personen siehe: alemannia-judaica.de/birkenau_synagoge.htm).

 Eine Erinnerungstafel mit den Namen der 13 ermordeten Birkenauer Juden* ist an einem Haus in der Obergasse angebracht (Aufn. J. Hahn, 2008).   *sie lebten in den 1930er Jahren im Ort

Ein Gedenkstein erinnert heute an die einstige Synagoge Birkenaus; seine kurze Inschrift lautet: "Hier stand die 1859 erbaute und 1938 zerstörte Synagoge."

Der im 18.Jahrhundert angelegte jüdische Friedhof an der Kallstädter Talstraße, der in der NS-Zeit unzerstört blieb, weist heute noch ca. 150 Grabsteine auf.

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Ältere und jüngere Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Birkenau (Aufn. J. Hahn, 2008)

 

 

Auf dem Gebiet des heutigen Kreises Bergstraße gab es weitere jüdische Gemeinden, und zwar in Auerbach, Bensheim, Biblis, Bürstadt, Groß-Rohrheim, Heppenheim, Lampertheim, Lorsch, Neckarsteinach, Reichenbach, Rimbach, Viernheim und Zwingenberg.

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 79 f.

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 26

G. Körner, Aus der Geschichte der Synagoge in Birkenau, in: "Odenwald-Zeitung" vom 10.11.1988

R.Kunz/K.L.Schmitt, Einwohnerliste der Zent Birkenau 1439 - 1841, Seeheim-Jugenheim 1988

Wolfgang Gebhard, Geschichte der Birkenauer Juden, in: Gemeinde Birkenau (Hrg.), "Birkenauer Schriften", Heft 4/1993

Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945, Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt, 1995, S. 16/17

Birkenau (Hessen), in: alemannia-judaica.de (mit zumeist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)