Bockenheim (Hessen)
Bockenheim ist ein Stadtteil von Frankfurt/M., der bereits im Jahre 1895 eingemeindet wurde und sich zu einer Industriestadt im unmittelbaren Umland von Frankfurt entwickelte (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Karte von 1895, aus: wikipedia.org, gemeinfrei).
Bockenheim gegen Mitte des 19.Jahrhunderts - Bildausschnitt aus einem Mosaik im U-Bahnhof Kirchplatz (Abb. aus: ?)
In Bockenheim hat es bis in die NS-Zeit eine bisweilen relativ große jüdische Gemeinde gegeben. Der Zeitpunkt ihrer Entstehung ist unklar, vermutlich bestand sie aber schon vor 1736, als das Dorf noch zur Grafschaft Hanau gehörte. Denn die Hanauer Grafen waren daran interessiert, durch die Ansiedlung jüdischer Familien die heimische Wirtschaft zu beleben und durch die Vergabe von Schutzbriefen ihre Einnahmen zu verbessern. Anders als in anderen Territorien genossen die Juden hier - gemäß der Hanauer Judenkapitulation von 1738 - lebenslanges Aufenthaltsrecht und fast gleiche Behandlung wie die christlichen Untertanen, außer Beschränkungen in Religionsfragen und in ihrer Handelstätigkeit. Die um 1700/1750 hier ansässigen Juden lebten von der Metzgerei, vom Hausier- und Trödelwarenhandel und von Geldgeschäften. Im Zusammenhang der Erteilung des Stadtprivilegs (1822) durch den hessischen Kurfürsten Wilhelm I. wurden die jüdischen Bewohner Bockenheims gleichberechtigt. Im Stadtprivileg hieß es: " ... § 8: Die in Bockenheim wohnenden Israeliten, welche keinen Nothandel ... treiben, sollen in Beziehung auf den Erwerb von Grundstücken und die Betreibung bürgerlicher Gewerbe mit den christlichen Bürgern daselbst gleiche Rechte genießen, aber auch in jeder Hinsicht gleichen Verbindlichkeiten unterworfen sein. ..." (Anm.: Als ‚Nothandel’ verstand man Hausier-, Trödel- und Leihhandel, aber auch Viehhandel im geringen Umfang.)
Nachdem die alte Synagoge Bockenheims 1865 wegen Baufälligkeit abgerissen worden war, konnte die finanzschwache Gemeinde einen bereits zwei Jahrzehnte zuvor genehmigten Neubau zunächst nicht realisieren. Erst im Jahre 1874 wurde der Synagogenneubau an der Schlossstraße fertiggestellt und eingeweiht. In einem Nebenraum des Synagogengebäudes befand sich die Mikwe.
Synagoge (hist. Aufn. von 1934, aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Nach 1815 besuchten die jüdischen Kinder die öffentliche Volksschule, daneben wurde ihnen aber weiterhin Religionsunterricht erteilt.
Anzeigen in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 27.Okt. 1890 und 1.Aug.1904
Der alte jüdische Friedhof in der Sophienstraße, dessen Entstehung etwa in das Jahr 1715 fällt, wurde bis ins beginnende 20.Jahrhundert belegt. Zuvor waren Verstorbene in Windecken begraben worden. Nach der Eingemeindung Bockenheims wurden verstorbene Juden dann zumeist auf dem Friedhof an der Rat-Beil-Straße bzw. an der Eckenheimer Landstraße beigesetzt.
Juden in Bockenheim:
--- um 1710 ........................ 18 jüdische Familien,
--- 1804 ........................... 30 “ “ ,
--- 1816 ....................... ca. 190 Juden,
--- 1825 ....................... ca. 300 “ (ca. 15% d. Bevölk.),
--- 1842 ....................... ca. 340 “ ,
--- 1852 ........................... 355 “ (in ca. 50 Familien),
--- 1861 ........................... 290 “ ,
--- 1888 ....................... ca. 360 " ,
--- um 1895 .................... ca. 370 “ (1,5% d. Bevölk.),
--- um 1930 .................... ca. 600 “ .
Angaben aus: Lisbeth Ehlers/Helga Krohn, Juden in Bockenheim
Nach der politischen Eingemeindung Bockenheims in die Metropole Frankfurt folgte bald auch der Anschluss der Kultusgemeinde an die Frankfurter jüdische Gemeinde, wobei die Bockenheimer Juden ihre religiös-orthodoxe Grundhaltung beibehielten.
Hinsichtlich ihrer Berufe stellten die Juden Bockenheims in den 1840er Jahren neben 45 Kleinhändlern auch mehr als 30 (!) Handwerker der verschiedensten Gewerke, darunter 13 Metzger, sieben Schneider und fünf Schuhmacher. Einigen jüdischen Familien gelang im Laufe des 19.Jahrhunderts ein steiler wirtschaftlicher Aufstieg, so z.B. der Familie des Buchhändlers Joseph Baer. Das schnell wachsende Bockenheim zog gegen Ende des 19.Jahrhunderts auch zahlreiche handelstreibende Juden hierher, und so entwickelte sich in der Folgezeit eine prosperierende Kultusgemeinde, deren Angehörige zumeist dem bürgerlichen Mittelstand angehörten. Neben kleinen Fabrikanten und Angehörigen freier Berufe dominierte der Einzelhandel. Nach 1900 bestimmten große Warenhäuser in jüdischem Besitz den städtischen Handel. Gesellschaftliche und private Kontakte zwischen Christen und Juden waren in Bockenheim eher die Ausnahme.
In diesem als Hochburg der NSDAP geltenden Ort - bereits 1932 war sie hier stärkste Partei - setzte bald nach der NS-Machtübernahme die Ab- und Auswanderung der hier lebenden jüdischen Familien ein, und zahlreiche Geschäfte schlossen ihre Pforten. In den Jahren 1933 bis 1939 emigrierten etwa 175 Personen, ca. 350 verzogen in die Frankfurter Innenstadt und in andere deutsche Städte.
Im „Jüdischen Gemeindeblatt für die Israelitische Gemeinde zu Frankfurt am Main“ vom September 1938 wurde über den Abschiedsgottesdienst in der Synagoge von Bockenheim berichtet: "Abschied von der Bockenheimer Synagoge. Der schlichte Bau der Synagoge in Bockenheim sah am Schabbos Balak eine zu dieser Sommerzeit ungewöhnlich große Zahl von Besuchern. Es galt, Abschied zu nehmen von dem Gotteshaus, das 65 Jahre lang Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Bockenheim gewesen war, zwei Menschenalter hindurch die nicht unbeträchtliche Gemeinde in Bockenheim hatte wachsen und schwinden sehen. Der Schabbos bedeutete gleichzeitig Abschied von der Gemeinde Bockenheim, die zwar seit 30 Jahren zur Großgemeinde gehört, sich aber in ihrem inneren Leben noch eine gewisse Freiheit und Besonderheit erhalten hat. … Die starke Tradition, die sich in Bockenheim vielfach bewährt hat, erklärt sich aus der Geschlossenheit dieser Gemeinde, die durch Verwandtschaft der alten Familien stark und viel verzweigt verbunden war ... Erst die starke Abwanderung der neuesten Zeit und die Notwendigkeit der Einsparung erforderten endgültig die Schließung der Bockenheimer Synagoge. … Ihren Gefühlen gab Rabbiner Dr. Jacob Horovitz in bewegten Worten Ausdruck, den selbst eine 30-jährige hingebende Tätigkeit mit jedem einzelnen Gemeindemitglied in Freude und Leid verband. Er gedachte der Menschen, die in der Synagoge gewirkt hatten, ihrer Vorbeter und Vorstände und all der Andächtigen, die in diesem Haus geweilt hatten. Das ewige Wort des Propheten Micha, das die Haftara dieses Schabbos schloss, stand auch über dem Leben und Beten der Bockenheimer Gemeinde, die an diesem Tag ihr Ende fand: 'Recht zu tun, Barmherzigkeit zu lieben und demutvoll vor Gott zu wandeln.'"
Auch die Bockenheimer Synagoge, die zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr genutzt wurde, wurde während der „Reichskristallnacht“ demoliert und in Brand gesteckt. Alle Liegenschaften der jüdischen Gemeinde mussten 1939 an die Stadt Frankfurt veräußert werden. Auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge stehen heute Geschäfts- und Wohnhäuser.
[vgl. Frankfurt/Main (Hessen)]
Eine vom Künstler Willi Schmidt geschaffene, in den Gehweg eingelassene begehbare runde Bronzeplatte an der Ecke Schlossstraße/Rödelheimer Straße (obige Aufn. Wolfgang Faust, Institut für Stadtgeschichte) erinnert seit 1988 mit der folgenden Inschrift an die Synagoge:
Hier stand die alte Bockenheimer Synagoge, die 1865 wegen Baufälligkeit abgetragen wurde.
Die 1874 errichtete neue Synagoge wurde in der Pogromnacht vom 9. auf den 10.November 1938 verwüstet und in Brand gesteckt.
Seit 2012 sind in den Straßen Bockenheims zahlreiche sog. „Stolpersteine“ verlegt worden, die an Opfer der NS-Diktatur erinnern.
verlegt in der Gräfstraße, Varrentrappstraße und Sophienstraße (Aufn. Initiative Stolpersteine Frankfurt/M., 2015 aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
verlegt für Fam. Abeles, Ludolfusstraße und Ehepaar Silberstein (Aufn. G., 2022 und F.C.Müller, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Seit 2023 trägt der Platz vor der Universitätsbibliothek an der Bockenheimer Warte den Namen des jüdischen Ehepaares Freimann. Zudem erinnern hier zwei Tafeln an das Leben und Wirken des Ehepaares Therese und Aron Freimann, das maßgeblich den Aufbau der weltweit renommierten Judaica-Sammlung getragen hat. 1939 emigrierten die Freimanns in die USA.
Der (alte) jüdische Friedhof an der Sophienstraße ist erhalten geblieben und erinnert auf dem mit einer Mauer umgebenen etwa 1.600 m² großen Areal mit seinen ca. 300 Grabsteinen an verstorbene Angehörige der Kultusgemeinde.
Jüdischer Friedhof in Bockenheim (Aufn. Stefan Haas, aus: alemannia-judaica.de)
In Griesheim - ebenfalls ein Stadtteil von Frankfurt/Main - hat es eine sehr kleine jüdische Gemeinschaft gegeben. Begräbnisstätte für die Verstorbenen war zunächst der jüdische Friedhof in Rödelheim bzw. in Frankfurt. Ab ca. 1780 konnte ein eigener Begräbnisplatz am Mainufer genutzt werden. Als dieses Gelände später für eine Industrieansiedlung gebraucht wurde, mussten die Gräber 1897 geräumt und die sterblichen Überreste von ca. 40 Verstorbenen auf ein Gräberfeld am Rande des neuen christlichen Friedhofs an der Waldschulstraße umgebettet werden. An einer Außenmauer des Griesheimer allgemeinen Friedhofs informiert eine Tafel wie folgt:
JÜDISCHER FRIEDHOF
von 1897 bis 1939
Dies ist der jüdische Teil des Griesheimer Friedhofes. Er enthält umgebettete Gräber und Grabsteine zweier israelitischer Griesheimer Friedhöfe aus der Gegend der heutigen Stroofstraße/Häusermannstraße, die im Jahre 1897 aufgegeben wurden.
Am 3.Februar 1939 wurde hier die Urne mit der Asche von Dr. Karl Hirsch beigesetzt,
der am 25.November 1938 im Konzentrationslager Buchenwald ums Leben gekommen war.
Danach fand keine Bestattung mehr statt.
Mehrere in die Gehwegpflasterung eingelassene sog. "Stolpersteine" erinnern an ehemalige jüdische Bewohner.
verlegt für Angehörige der Fam. Baum, Untere Rützelstr. und für Josef Rosenblum, Linkstr. (Aufn. FFM, 2015, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Hinweis: Im gleichnamigen pfälzischen Bockenheim, heute zum Landkreis Bad Dürkheim gehörig, existierte ebenfalls eine jüdische Gemeinde. [vgl. Bockenheim (Rheinland-Pfalz)]
Weitere Informationen:
Jacob H. Epstein, Erinnerungen, Maschinenschriftliches Manuskript (1908 - 1918 erstellt)
Heinrich Ludwig, Geschichte des Dorfes und der Stadt Bockenheim, Frankfurt 1940
Ludwig Rosenthal, Die Geschichte der Juden in der Grafschaft Hanau, Hanau 1963
Paul Arnsberg, Die Geschichte der Juden in Frankfurt seit der Französischen Revolution (3 Bände), Wiesbaden 1983
Valentin Senger/Klaus Meier-Ude, Die jüdischen Friedhöfe in Frankfurt, Frankfurt/M. 1985 (3. überarb. Auflage, Frankfurt/M., 2004)
Wolfgang Wippermann, Das Leben in Frankfurt zur NS-Zeit, Band 1: Die nationalsozialistische Judenverfolgung, Frankfurt/M. 1986
Rachel Heuberger/Helga Krohn, Hinaus aus dem Ghetto ... Juden in Frankfurt a.M. 1800-1950. Begleitbuch zur ständigen Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Frankfurt am Main, Fischer Verlag GmbH, Frankfurt/M. 1988
Gedenke! Jüdische Bürger in Bockenheim, maschinenschriftliches Manuskript, 1988 (als PDF-Datei abrufbar unter: evgemeindebockenheim.de/wp-content/uploads/2018/12/Gedenke-Juden-in-Bockenheim.pdf)
Lisbeth Ehlers/Helga Krohn, Juden in Bockenheim, in: Die vergessenen Nachbarn. Juden in den Frankfurter Vororten Bergen-Enkheim, Bockenheim, Heddernheim, Höchst und Rödelheim - Begleitbuch zur Ausstellung des Jüdischen Museum Frankfurt/M., 1990/1991
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945, Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt, 1995, S. 76 ff.
Bockenheim (Stadt Frankfurt), in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Jüdischer Friedhof in Bockenheim, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Aufn. von Stefan Haas)
Greta Zimmermann (Red.), Verlegung von „Stolpersteinen“ in Bockenheim, in: "Frankfurter Rundschau" vom 22.6.2014
Auflistung der Stolpersteine in Bockenheim, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Frankfurt-Bockenheim
Auflistung der in Griesheim verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter. wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Frankfurt-Griesheim
Boris Schlepper (Red.), Informationen über das Ehepaar Freimann, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 28.9.2023
ktho (Red.), Frankfurt-Bockenheim. Platz vor der Uni-Bibliothek heißt nun Freimannpaltz, in: „Journal Frankfurt“ vom 1.11.2023
Boris Schlepper (Red.), Jüdisches Leben in Bockenheim sichtbar machen, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 8.3.2024