Bretzenheim (Rheinland-Pfalz)
Bretzenheim ist heute ein Stadtteil von Mainz (aktuelle Stadtteilkarte von Mainz mit Bretzenheim rot markiert, TUBS 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Aus rheinischen Städten vertriebene jüdische Familien waren vermutlich die ersten, die sich im rheinhessischen Dorf Bretzenheim niedergelassen haben. Darauf verweisende urkundliche Belege stammen aus dem beginnenden 16.Jahrhundert. Neben regelmäßigen Schutzgeldzahlungen waren die hiesigen Juden verpflichtet, weitere Leistungen zu erbringen, so u.a. "Neujahrsgeld" für den Ortspfarrer und für die Äbtissin des Klosters Dalheim bei Amtsantritt einen Silberbecher. Ab Ende der 1780er Jahre nutzten die Bretzenheimer Juden eine neue Synagoge, die aber nach wenigen Jahren - in den Revolutionskriegen von 1794/95 - zerstört wurde. Angeblich soll es bereits um 1600 soll es in dem Ort eine Synagoge gegeben haben. Über die Einweihung der neuen Synagoge berichtete die „Privilegierte Mainzer Zeitung” in ihrer Ausgabe vom 1.7.1788 wie folgt:
Die zu Bretzenheim bei hiesiger Stadt von der dahiesigen Judengemeinde mit gnädigster Erlaubnis neuerbaute Synagoge wurde verflossenen Freitag mit viel Feierlichkeit geöffnet; die Zeremonien dabei verrichtete wegen Krankheitsumständen des Oberlandesrabbiners, der Unterrabbiner Herz David Scheuer, ein Sohn des verstorbenen Rabbiners. Um 3 Uhr Nachmittags versammelten sich sämtlich einheimischen Juden sowohl, als einige hundert umliegende Fremde, und holten die drei in einem Haus gestandene geschriebene Thora unter einem reichen Verdeck, dann das ausgeziert vorgetragene auf Hebräisch und Deutsch geschriebene Gebet für Seine Kurfürstl. Gnaden und des Herrn Koadjuktor Erzbischöfl. Gnaden, wie auch den Schlüssel zu der Synagoge, fast durch den ganzen Ort, unter einem angestimmten Lobgesang von dem hiesigen Vorsänger unter Zustimmung der Instrumentalmusik, ab, und als vor der Türe der Synagoge anlangten, wurde des 122. Psalm abgesungen, sodann ging der Zug in die neue Synagoge hinein.
In den Kriegsjahren 1794/1795 wurden zahlreiche Gebäude Bretzenheims, so auch die Synagoge zerstört; deren Ruine wurde alsbald abgebrochen. Knapp zwei Jahrzehnte später wurde auf den Fundamenten des alten Gotteshauses wieder eine neue Synagoge errichtet; über deren Einweihung liegen keine schriftlichen Belege vor. Über die Feierlichkeiten zur Einweihung einer neuen Thora-Rolle berichtete die „Allgemeine Zeitung des Judentums” in ihrer Ausgabe vom 4.9.1838 wie folgt:
Mainz, 13. August. (Privatmitth.) Ein israelitisch-religiöses Fest (besser ein israelitisches Volksfest) wurde dieser Tage in Bretzenheim bei Mainz gefeiert, welches in einiger Beziehung eine Erwähnung verdient. Es wurde eine neu geschriebene Tora eingeweiht, bekanntlich bei den Bewohnern des platten Landes eine Veranlassung zu festlicher Ausgelassenheit. Letztere zog die zahlreichen Festgäste aus Mainz - zu ihrer Ehre sei's gesagt - nicht an, sondern man ging hin, um die Reden des jungen jüdischen Theologen Dr. Kahn zu hören, der bei dieser Gelegenheit zum ersten Male als Kanzelredner sich produzieren sollte. Eine deutsche Predigt in einem jüdischen Gotteshause ist bei uns leider! noch eine Seltenheit. ...es genüge, wenn ich Sie versichere, daß des jungen Mannes Worte einen mächtigen Eindruck auf Christen und Juden zurückließen und daß er seinen Beruf zum Kanzelredner glänzend bewährte. Auch der hiesige greise Rabbine sprach in öffentlicher Synagoge, deutsch so gut es ging, ... Was nun das Fest selbst betrifft, so könnte ich Ihnen erzählen, dass die neue Tora prozessionsmäßig durch das Dorf getragen wurde, ... , daß nach dem religiösen Teile des Festes tüchtig geschmaust und getanzt wurde, und daß man fröhlich war nach Herzenslust. ... Die Kosten dieser ganzen festlichen Veranstaltung, mit Inbegriff des Honorars für das Schreiben der neuen Tora, trugen einige wenige junge Männer und Mädchen, die sämmtlich unvermögend sind, und die bereits drei Jahre lang für dieses Fest wöchentlich vier Kreuzer von ihrem Ersparniß zurücklegten.
Zur Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Lehrer angestellt, der – wie in kleinen Gemeinden allgemein üblich - zugleich als Vorbeter und Schochet tätig war. Als die Zahl der jüdischen Kinder zurückging, wurde der Religionsunterricht von auswärtigen Lehrern erteilt.
Zwei Stellenausschreibungen in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 7.März 1859 und 19.Januar 1870
In Bretzenheim gab es zwei jüdische Friedhöfe, und zwar den alten Friedhof in der Binger Straße und den neuen in der Friedensstraße, dessen Anlage um 1865 erfolgte.
Die wenigen Juden aus Finthen waren als Filialgemeinde der Bretzenheimer Kultusgemeinde angeschlossen; Bretzenheim war dem Rabbinat Mainz zugeordnet.
Juden in Bretzenheim:
--- um 1740 ......................... 9 jüdische Familien,
--- um 1800/03 ...................... 3 “ “ ,
--- um 1810 ......................... 10 “ “ (ca. 40 Pers.),
--- 1824 ............................ 46 Juden,
--- 1830 ............................ 65 “ ,
--- 1864 ............................ 85 “ (in 16 Familien),
--- 1880 ............................ 55 “ ,
--- 1905 ............................ 44 “ ,
--- 1925 ............................ 60 “ ,* * einschl. Finthen
--- 1932 ............................ 41 “ ,*
--- 1942 (Jan.) ..................... 17 “ ,
(Dez.) ..................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang – Neubeginn, Bd. 1, S. 93
Gegen Ende des 18.Jahrhunderts hatte die Zahl der Gemeindemitglieder ihren Höchststand erreicht, doch auf Grund der Abwanderung, vor allem nach Mainz, schrumpfte die Judenschaft auf nur wenige Familien. Innerhalb eines Jahrzehnts war dann aber wieder ein deutlicher Anstieg der Gemeindemitglieder zu verzeichnen.
Anm.: 1811 gründeten die zugewanderten Bretzenheimer Juden in Mainz die sog. „Bretzenheimer Kippe“ - einen Israelitischen Krankenpflege-Verein mit einem Vereinsrabbiner an der Spitze. Die „Kippe“ stand in der Folgezeit der orthodox geprägten Israelitischen Religionsgemeinschaft Mainz sehr nahe.
Ihren Lebensunterhalt bestritten die Bretzenheimer Juden zumeist mit dem Viehhandel bzw. der Metzgerei und dem Kleingewerbe.
Kleinanzeige aus der Zeitschrift "Der Israelit" von 1904
Während des Novemberpogroms blieb das inzwischen nicht mehr genutzte Synagogengebäude von einer Brandlegung verschont, da wegen dichter Bebauung die Gefahr eines Großbrandes bestanden hätte. Die Ritualien wurden aus dem Gebäude herausgeschleppt und auf der Straße verbrannt.
zwei J-Kennkarten gebürtiger Bretzenheimer Juden – ausgestellt in Mainz 1939
Im Laufe des Jahres 1942 wurden 17 jüdische Bewohner aus Bretzenheim deportiert; vier Familien gelang noch die Emigration in die USA.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 15 aus Bretzenheim und 14 aus Finthen stammender Juden Opfer der Shoa (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/bretzenheim_synagoge.htm).
Unmittelbar nach Kriegsende wurde das durch Kriegsschäden schwer beschädigte Synagogengebäude in der Wilhelmsstraße abgerissen.
An dem in den 1960er Jahren hier errichteten Neubau eines Wohnhauses (Wilhelmstraße/Ecke An der Oberpforte) erinnert eine Inschriftentafel an die einstige Synagoge: "Hier stand die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Bretzenheim. Sie wurde 1788 erbaut und 1795 in den Napoleonischen Kriegen zerstört. Der Wiederaufbau erfolgte um 1820. Nationalsozialisten und Sympathisanten beschädigten die Synagoge in der Pogromnacht am 9.11.1938. Der völlig Abriß erfolgte kurz danach.“
Der teilweise von einer Mauer umgebene alte jüdische Friedhof weist noch 18 in einer Reihe aufgestellte Grabstelen auf.
Jüdischer Friedhof Mainz-Bretzenheim (Aufn. N., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Auf dem jüngeren jüdischen Begräbnisfeld - Teil des Kommunalfriedhofs - stehen ca. 20 Grabsteine.
neues Begräbnisgelände (Aufn. N., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Seit 2010 erinnern an drei Standorten insgesamt zehn sog. „Stolpersteine“ an ehemalige jüdische Bewohner Bretzenheims, die Opfer der NS-Gewaltherrschaft geworden sind.
verlegt in der Bäckergasse und in der Wilhelmstraße (Aufn. M. Steinmetz, 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Nach knapp 80 Jahren würdigte die Kommune Bretzenheim einen ihrer verdienstvollsten Mitbürger, den jüdischen Weinhändler Moritz Schweig; er lebte von 1865 bis zu seinem Tode 1932 im Ort, wo er sich in verschiedensten Bereichen gesellschaftlich engagierte. Schweig gehörte maßgeblich zu denen, die eine Anbindung Bretzenheims ans Strom- und Schienennetz durchsetzten. Seit 2011 heißt eine Ortsstraße „Moritz Schweig-Weg“.
Im gleichnamigen pfälzischen Dorf Bretzenheim (Nahe) gab es ebenfalls eine kleine jüdische Gemeinde, die aber nie mehr als 50 Mitglieder hatte. Bereits gegen Ende des 19.Jahrhunderts wurde die Betstube aufgegeben und die Gemeinde löste sich auf. [vgl. Bretzenheim/Nahe (Rheinland-Pfalz)]
[vgl. dazu auch Bad Kreuznach (Rheinland-Pfalz)]
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag Frankfurt 1971, Bd. 1, S. 93/94
Stefan Fischbach/Ingrid Westerhoff (Bearb.), “ ... und dies ist die Pforte des Himmels “. Synagogen. Rheinland-Pfalz Saarland, Hrg. Landesamt für Denkmalpflege, Mainz 2005, S. 123
Dieter Krienke, Die Synagogen der Mainzer Vororte Bretzenheim, Ebersheim, Hechtsheim und Kastel, hrg. von Hedwig Brüchert im Auftrag des Vereins für Sozialgeschichte e.V., Mainz 2008
Bretzenhein, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Auflistung der in Mainz-Bretzenheim verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Mainz