Dorsten (Nordrhein-Westfalen)
Dorsten (Lippe) ist heute eine Stadt mit ca. 75.000 Einwohnern im Kreis Recklinghausen; sie liegt am Übergang vom südlichen Münsterland ins nördliche Ruhrgebiet (hist. Karte von 1940, aus: genwiki.genealogy.net und Kartenskizze 'Kreis Recklinghausen', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Die ersten Juden siedelten sich nachweisbar erst zu Beginn des 19.Jahrhunderts im westfälischen Dorsten an; so erhielten zwei jüdische Handelsleute eine Niederlassungserlaubnis, nachdem der hiesige Bürgermeister bei der Kgl. Regierung Münster sich dafür ausgesprochen hatte, dass eine „Concurrens in dem Fleischhauer-Gewerbe für die Stadt ... in oeconomischer Hinsicht von Vortheil seyn dörfte.“ In den 1860er Jahren erreichte die Dorstener Synagogengemeinde mit ca. 100 Mitgliedern ihren Zenit. Angeblich soll es aber bereits im 13.Jahrhundert in Dorsten Juden gegeben haben, die während der Pogrome des 14.Jahrhunderts vertrieben bzw. umgebracht worden sind. Um 1815 richtete ein Gemeindemitglied eigenmächtig einen privaten Synagogenraum in der Wiesenstraße ein, worauf es zu erheblichen Querelen innerhalb der kleinen Gemeinde, ja sogar zu ihrer vorübergehenden Spaltung kam. Auch die Vermittlung des Landesrabbiners Abraham Sutro konnte die Streitigkeiten zunächst nicht beilegen. Offiziell hatte sich die jüdische Gemeinde in Dorsten 1853 gegründet. Die erste überlieferte Gemeindeordnung, in der die Pflichten der Gemeindemitglieder und des Vorstehers festgeschrieben waren, stammt aber schon von 1844; die Statuten des „jüdischen Vereins zu Dorsten“ wurde dann sechs Jahre später abgefasst.
Nach dem Erwerb eines eigenen Gebäudes ebenfalls in der Wiesenstraße im Jahre 1869 verfügte die Gemeinde über eigene gottesdienstliche Räumlichkeiten. Diese befanden sich im Obergeschoss des späteren jüdischen Gemeindehauses; sie dienten der Synagogen-Hauptgemeinde bis zu ihrer Auflösung 1932 - die Untergemeinden Bottrop, Buer, Gladbeck und Horst verließen die Muttergemeinde Dorsten - als gemeinsames Gotteshaus. Der Synagogenraum war sehr schlicht eingerichtet. Bereits seit 1816 bestand eine jüdische Schule.
In der Wiesenstraße lebten die meisten jüdischen Familien (siehe untere Abb.).
Wiesenstraße mit jüdischem Gemeindehaus (helles Gebäude, Bildmitte) Signet der Gemeinde
Außerhalb des Ortes erwarb die jüdische Gemeinde Ende der 1820er Jahre ein Gelände am Rande der Lippe-Wiesen und legte hier ihren Begräbnisplatz an. Der Dorstener jüdische Friedhof im Naturpark Hasselbecke (an der Marler Straße) ist bereits 1628 nachgewiesen, zu einer Zeit, als in Dorsten keine Juden gelebt haben.
Juden in Dorsten:
--- 1816 ........................... 7 jüdische Familien (32 Pers.),
--- 1843 ............................ 57 Juden,
--- 1861 ........................ ca. 100 " ,*
--- 1871 ............................ 65 " ,
--- 1900 ........................ ca. 300 “ ,*
--- 1910 ............................ 31 " ,
--- 1925 ............................ 25 “ ,** (andere Angabe: 43 Pers.)
--- 1932 ............................ 47 “ .**
* Zu diesem Zeitpunkt gehörten zur Synagogen-Hauptgemeinde auch die Untergemeinden von Bottrop, Gladbeck und Buer dazu.
** nur Synagogengemeinde Dorsten
Angaben aus: Wolf Stegemann (Hrg.), Dorsten unterm Hakenkreuz - Eine Dokumentation zur Zeitgeschichte, Bd. 1
und Thomas Ridder (Bearb.), Dorsten, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen …, S. 287
Geschäftsanzeigen (1920er Jahre)
Wochen nach der NS-Machtübernahme erfolgte in Dorsten der Boykott jüdischer Geschäfte; einen Tag vor dem reichsweiten Boykottbeginn wurde die Bevölkerung durch Flugblätter darauf eingestimmt. Tags darauf standen dann uniformierte SA- und SS-Posten und NSDAP-Anhänger vor den jüdischen Geschäften.
In einem Bericht der lokalen „Dorstener Volkszeitung” vom 30.3.1933 hieß es:
Gegen jüdische Geschäfte
Selbsthilfeaktion der deutschbewußten Dorstener Bevölkerung
Von der NSDAP wird uns folgendes zur Veröffentlichung übergeben: Als Protest gegen die von jüdischer Seite inszenierte Hetze im Ausland gegen unser Vaterland, wobei ähnlich wie während der Kriegszeit die unsinnigsten Gerüchte von Greueltaten der SA an Juden verbreitet werden, z.B. von zerstückelten Judenleichen, von ausgestochenen Augen und abgehackten Händen und zugleich wegen des alljüdischen Versuchs, eine Boykottbewegung gegen deutsche Ware einzuleiten, hat sich die deutschbewußte Dorstener Bevölkerung zu einem Gegenschritt veranlaßt gesehen und am Mittwochmorgen sämtliche jüdischen Geschäftsläden ohne Anwendung von Gewalt geschlossen, um Ausschreitungen der empörten Bevölkerung zu verhindern. Deshalb Deutscher, stehe zu Deinem Vaterland und unterstütze diese Aktion. Kein Deutscher kauft mehr bei einem Juden, bis daß die Greuelnachrichten der marxistischen Verbrecherwelt, die im Verein mit jüdischen Journaille das deutsche Ansehen im Auslande schädigen, eingestellt und widerrufen sind.
In der Pogromnacht wurden die Synagoge und der jüdische Friedhof verwüstet; Dorstener SA- und SS-Männer, aber auch Angehörige der HJ und des BdM drangen in die Synagoge ein und zerschlugen mit Vorschlaghämmern die Inneneinrichtung; diese wurde dann zusammen mit den sakralen Gegenständen auf dem Markt verbrannt. Anschließend vernagelte man mit Brettern den Eingang zur Synagoge. Auch Geschäfte und Wohnungen jüdischer Bürger wurden demoliert und geplündert, die Männer inhaftiert.
Ab 1939 wurden die noch wenigen in Dorsten lebenden jüdischen Familien in „Judenhäusern“ zusammengepfercht, und zwar im jüdischen Gemeindehaus in der Wiesenstraße und in der Lippestraße 57. Ende Januar 1942 erfolgte die Deportation der verbliebenen zwölf Bewohner ins Ghetto Riga. Das Synagogengebäude musste 1943 an die Kommune veräußert werden und wurde im März 1945 durch einen Bombentreffer zerstört.
Auf dem jüdischen Friedhof sind heute noch mehr als 30 Gräber vorhanden, teils mit erneuerten Grabsteinen, teils mit verwitterten alten Steinen, die alle hebräische Beschriftung aufweisen. Die älteste Grabanlage stammt aus dem Jahre 1828.
Jüdischer Friedhof in Dorsten (Aufn. W. Schiffer, 2011, aus. wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
1983 wurde auf Initiative der Forschungsgruppe Regionalgeschichte am Alten Rathaus eine bronzene Gedenktafel angebracht.
Gedenktafel (Abb. aus: dorsten-unterm-hakenkreuz.de)
Im Frühjahr 2002 wurde obig abgebildete Gedenktafel an gleicher Stelle durch eine sog. „Geschichtsstation“ mit allgemeinen Informationen zur Stadtgeschichte ersetzt; die bisherige Gedenktafel wurde nun an einem Privathaus in der Wiesenstraße (Standort der früheren Synagoge) angebracht. Seit 1988 trägt eine Straße den Namen von Julius Ambrunn, dem letzten Gemeindevorsteher der Dorstener Judenschaft.
Auf Initiative "Frauen für den Frieden" wurden an zehn Standorten im Stadtgebiet von Dorsten sog. „Stolpersteine“ verlegt; in der Zeit von 2006 bis 2008 wurden hier 38 Steine in die Gehwegpflasterung eingefügt. Allein neun „Stolpersteine“ erinnern vor dem Gebäude Essener Straße 18/20 an Angehörige der Familie Perlstein.
„Stolpersteine“ für Angehörige der Fam. Perlstein in der Essener Straße (alle Abb. Gmbo, 2015, aus: wikipedia.org, CCO)
und für Fam. Metzger, Wiesenstraße
Seit dem Jahre 1992 befindet sich an der Peripherie der Altstadt von Dorsten das „Jüdische Museum Westfalen”; dieses Museum - die einzige derartige Einrichtung in Nordrhein-Westfalen - ging auf die Initiative von Bürgern der Region zurück, die sich mit der Geschichte der Juden dieses Raumes beschäftigen und die Lokalgeschichte aufzuarbeiten versuchen. 2001 wurde in einem Erweiterungsbau eine Dauerausstellung zur Geschichte der Juden in Westfalen eröffnet; diese ist 2018 unter dem Titel „L`Chaim! Auf das Leben! Jüdisch in Westfalen“ ersetzt worden. Träger des Museums sind der „Verein für jüdische Geschichte und Religion e.V.” und die „Stiftung Jüdisches Museum Westfalen”.
Jüdisches Museum Westfalen (Aufn. D. Ullrich, 2005, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
In den heutigen Dorstener Ortsteilen Lembeck und Wulfen lebten auch jüdische Familien, allerdings stets nur sehr wenige.
Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts wurde in Lembeck ein ca. 800 m² großes Grundstück als jüdischer Friedhof in Nutzung genommen, das im Besitz der Familien Landau und Lebenstein war. Diese beiden Familien waren die ersten, die zu Beginn des 19.Jahrhunderts im Dorf ansässig geworden waren. Von der Großfamilie Lebenstein überlebten fünf Angehörige den Holocaust, alle anderen kamen gewaltsam ums Leben.
Für drei ermordete Familienmitglieder erinnern im Ort sog. „Stolpersteine“; zudem trägt eine neuangelegte Straße den Namen „Lebensteinring“.
Während der NS-Zeit wurden dort alle Grabsteine zerstört. Ein heute auf dem Gelände befindlicher Gedenkstein trägt eine Bronzeplatte mit der Inschrift: "JÜDISCHER FRIEDHOF - Dem Gedenken an unsere jüdischen Mitbürger, die in den Jahren 1933 - 1945 Opfer der Gewaltherrschaft wurden."
bronzene Gedenkplatte in Lembeck bzw. Wulfen (Abb. aus: wulfen-wiki.de)
Auch der kleine jüdische Friedhof in Wulfen – er liegt versteckt im Gewerbegebiet „Im Köhl“ - verfügt heute über keine Grabsteine mehr; diese waren 1938 zerstört worden. An der Eingangspforte zur Begräbnisstätte ist eine Tafel angebracht, die die gleichen Worte trägt, wie die Gedenktafel auf dem Lembecker Friedhof.
Eingangspforte zum jüdischen Friedhof in Wulfen (aus: wulfen-wiki.de)
Seit 2014 erinnert zudem eine schwarze Stele namentlich an die Personen, die hier auf dem Gelände beerdigt wurden.
Im Ort findet man vier in die Pflasterung eingelassene "Stolpersteine.“
Aufn. Gmbo, 2017, aus: wikipedia.org, CCO
Weitere Informationen:
Wolf Stegemann (Hrg.), Dorsten unterm Hakenkreuz - Eine Dokumentation zur Zeitgeschichte, Band 1: Die Jüdische Gemeinde, Forschungsgruppe Regionalgeschichte Dorsten 1982
Werner Schneider, Jüdische Heimat im Vest - Gedenkbuch der Jüdischen Gemeinden im Kreis Recklinghausen, Verlag Rudolf Winkelmann, Recklinghausen 1983, S. 17 f.
Wolf Stegemann (Hrg.), Juden in Dorsten und in der Herrlichkeit Lembeck, Hrg. Forschungsgruppe Regionalgeschichte Dorsten, Bd. 6, Dorsten 1989
Wolf Stegemann/S.Johanna Eichmann, Der Davidstern. Zeichen der Schmach - Symbol der Hoffnung. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden, Dorsten 1991
Wolf Stegemann/Johanna Eichmann, Jüdisches Museum Westfalen. Dokumentationszentrum und Lehrhaus für jüdische Geschichte und Religion in Dorsten. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Westfalen - Katalog, Dorsten 1992
Johanna Eichmann, Lebendiges Lehrhaus. Das Jüdische Museum Westfalen in Dorsten, in: Ministerium für Arbeit, Soziales und Städtebau, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrg.), Zeitzeugen. Begegnungen mit jüdischem Leben in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1998, S. 113 – 116
Günter Birkmann/Hartmut Stratmann, Bedenke vor wem du stehst - 300 Synagogen und ihre Geschichte in Westfalen und Lippe, Klartext Verlag, Essen 1998, S. 230/231
Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 105 - 107
“Die Synagoge. Schnittpunkt jüdischen Lebens” - Ausstellungszeitung des Jüdischen Museums Westfalen, Dorsten 1999
Ruth Lemmer, Leben unter dem Davidstern, in: Geschichte(n) im Boden. Verborgene Schätze. Die NRW-Stiftung - Naturschutz, Heimat- und Kultuspflege, Magazin 2/2001, S. 22 f.
Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen. Regierungsbezirk Münster, J.P.Bachem Verlag, Köln 2002, S. 289 - 296
Jürgen Kleimann (Red.), Der jüdische Friedhof – ein fast vergessener Ort am Rande Wulfens, in: „Heimatkalender 2002“, S. 145 f.
Angelika Wienert, Das jüdische Museum Westfalen, in: "DAVID - Jüdische Kulturzeitschrift", No. 61/2004
Thomas Ridder (Bearb.), Dorsten, Dorsten-Lehmbeck und Dorsten Wulfen, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Münster, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen XLV, Ardey-Verlag, München 2008, S. 282 - 298
Frauen für den Frieden (Hrg.), Stolpersteine in Dorsten (mit Kurtzbiografien der Betroffenen), in: stolpersteine-dorsten.de
Wolf Stegemann (Hrg.), Die Synagoge im jüdischen Gemeindehaus in der Wiesenstraße – Haus des Gebetes und der Zuflucht, in: Dorsten unterm Hakenkreuz (2012), online abrufbar unter: dorsten-unterm-hakenkreuz.de
Wolf Stegemann (Hrg.), Jüdische Bürger – Dorstener wie andere auch. Doch ihr Schicksal bestimmten die anderen, in: Dorsten unterm Hakenkreuz (2012), online abrufbar unter: dorsten-unterm-hakenkreuz.de
Elisabeth Cosanne-Schulte-Huxel/Walter Schiffer, Der Jüdische Friedhof in Dorsten – Ein kleiner Leitfaden, hrg. vom Jüdischen Museum Westfalen, Dorsten 2014
Heimatverein Wulfen 1922 e.V. (Hrg.), Jüdischer Friedhof, Wulfen 2014 (betr. Einweihung der Namens-Stele)
Elisabeth Cosanne-Schulte-Huxel (Bearb.), Jüdische Familien in Lembeck, online abrufbar unter: lembeck.de/lembeck-von-a-bis-z/geschichten-erinnerungen-aus-lembeck/juedische-familien-in-lembeck/ (veröffentlicht 2016)
Auflistung der Stolpersteine in Dorsten, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Dorsten
Petra Bosse (Red.), Jüdisches Museum Dorsten entwickelte einen Geocache zum jüdischen Friedhof Schermbeck, in: dorsten-online.de vom 22.3.2019
Heimatverein Wulfen e.V., Wulfen - Jüdischer Friedhof, in: wulfen-wki.de vom 5.2.2021
Guido Bludau (Red.), Stadt hat den jüdischen Friedhof in Lembeck auf Vordermann gebracht, in: „Halterner Zeitung“ vom 3.5.2021
N.N. (Red.), Neue Broschüre weist den Weg zu 38 Stolpersteinen in Dorsten, in: „Dorstener Zeitung“ vom 24.1.2022
Gymnasium St. Ursula Dorsten (Hrg.), Stolpersteine in Dorsten – Ein Erinnerungsrundgang in 10 Stationen (Broschüre), 2022 (online abrufbar unter: jmw-dorsten.de)