Crainfeld (Hessen)
Die kleine Ortschaft Crainfeld mit derzeit ca. 400 Einwohnern ist heute ein Ortsteil der Kommune Grebenhain im Südosten des hessischen Vogelsbergkreises - ca. 30 Kilometer südwestlich von Fulda gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte 'Oberhessen' von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Vogelsbergkreis', Andreas Trepte 2006, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 2.5).
In den 1870/80er Jahren war nahezu jeder vierte Dorfbewohner Crainfelds mosaischen Glaubens.
Bereits aus den 1620er Jahren gibt es einen urkundlichen Hinweis, dass drei Juden - vermutlich nur vorübergehend - sich in Crainfeld aufgehalten haben; etwa vier Jahrzehnte später hat sich mindestens eine jüdische Familie hier dauerhaft niedergelassen. Mitte des 18.Jahrhunderts wurde erstmals erwähnt, dass sich eine nennenswerte Anzahl jüdischer Familien aus dem Gebiet der Wetterau im oberhessischen Crainfeld angesiedelt hat. In den Jahrhunderten zuvor war es ihnen untersagt, hier auf Dauer zu wohnen; als Handelsleute durften sie den Ort nur kurzzeitig aufsuchen. Zu welchem Zeitpunkt sich eine jüdische Gemeinde in Crainfeld konstituiert hat, ist nicht bekannt; doch kann davon ausgegangen werden, dass sich um 1830/1840 eine Kultusgemeinde bildete; denn 1842 erwarb die jüdische Gemeinschaft ein Haus, in dem ein Betraum eingerichtet wurde. Zuvor hatten gottesdienstliche Zusammenkünfte wahrscheinlich in Privathäusern stattgefunden. Die Angehörigen der Crainfelder Kultusgemeinde, zu der auch die wenigen Familien aus Bermuthshain, Grebenhain und Nieder-Moos gehörten, waren streng-religiös; diese orthodoxe Grundhaltung bestimmte bis ins 20.Jahrhundert hinein das Leben der Crainfelder Gemeindeangehörigen. Mit Hilfe einer Spende konnte Mitte der 1880er Jahre in der Hauptstraße der Bau einer Synagoge realisiert werden; dabei handelte es sich um ein Fachwerkgebäude in einer Seitenstraße der heutigen Kreuzgasse, in dem ein Betsaal mit Frauenempore untergebracht war. Im Haus fand nun auch der Religionsunterricht für die jüdischen Kinder statt.
Aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 8.Febr. 1871, 6.Jan. 1890 und 16.Mai 1907
Elementarunterricht erhielten christliche und jüdische Kinder gemeinsam in der öffentlichen Schule; denn wegen der relativ geringen Schülerzahl konnte sich die finanzschwache Gemeinde keine eigene Schule einrichten. Wegen des Schulbesuchs der jüdischen Kinder an der Ortsschule kam es zu Streitigkeiten zwischen der jüdischen Religionsgemeinde und der Kommune, wobei letztere eine finanzielle Beteiligung an der Unterhaltung der Schule einforderte.
Eine bislang in einem Privathaus untergebrachte Kellermikwe wurde 1879 durch ein neues Tauchbecken ersetzt, das in einem winzigen Fachwerkgebäude in der Märzwiese untergebracht war.
Das Verhältnis zur evangelischen Pfarrgemeinde war manchmal konfliktreich; dabei ging es meist um nebensächliche Dinge, die u.a. eine Profilierung der evangelischen Geistlichkeit gegenüber der jüdischen Gemeinde zum Ziele hatte. Die christliche Bevölkerung schenkte aber den religiöse Festen der jüdischen Einwohner durchaus Beachtung. So berichtete z.B. der „Lauterbacher Anzeiger” Ende Oktober 1899 vom Fest der Sefer-Thora- Einweihung wie folgt:
„ Vorgestern und gestern fand in Crainfeld ein großes Fest der israelitischen Religionsgemeinschaft statt, welches von vielen auswärtigen Glaubensgenossen und auch von Christen besucht war, nämlich die Sefer-Thora-Einweihung.Da ein derartiges Fest selten vorkommt, das letzte fand hier im Jahr 1866 statt, hatte die israelitische Gemeinde weder Mühe noch Kosten gescheut, um demselben einen ehrenvollen Glanz und Würde zu geben durch Schmuck an Häusern und Synagoge. Am 20. Oktober, nachmittags 3 Uhr, versammelten sich die Mitglieder der Verwaltung, so wie die den Festzug bildenden Theilnehmer im Hause des Vorstehers Herrn Emanuel Stern, wo sich die neue geschmückte Sefer-Thora befand. Daselbst wurde das Mincha-Gebet verrichtet, worauf sich der Festzug nach der herrlich geschmückten Synagoge in Bewegung setzte. Nach dem Weihegesang öffnete der Vorstand die Synagoge. Es folgte die Festpredigt mit Gebet für die Obrigkeit, Gemeinde und alle Anwesenden. Abends 7 Uhr fand in dem großen Saal des Heinrich Oechler Witwe ein Konzert und theatralische Vorträge statt. Am Sonntag, dem 21. Oktober, war morgens 8 1/2 Uhr ein Gottesdienst mit Chorgesängen, nachmittags 1 Uhr folgte ein Kommers mit Konzert, Vorträgen und Ansprachen. Abends war dann ein Ball.”
(aus: Friedrich Müller: Crainfeld. Aus der Geschichte eines Dorfes im Vogelsbergkreis, 1987, S. 188 f.)
Ein gesellschaftlicher Höhepunkt im jährlichen Leben der Gemeinde war auch der jährlich stattfindende „Judenball” im Gasthaus „Zum Hessischen Hof“, zu dem sich auch Juden aus der Umgebung einfanden; dieser Ball wurde aber auch von Christen besucht.
Den Gemeindeangehörigen stand auch ein eigener Friedhof - auf einer Anhöhe nördlich des Dorfes gelegen (an der Straße nach Bannerod) - zur Verfügung; er war vermutlich gegen Ende des 18./beginnenden 19.Jahrhunderts angelegt worden; zuvor wurden möglicherweise Friedhöfe umliegender Gemeinden benutzt. Für das Jahr 1858 ist eine Erweiterung des Friedhofes belegt, wodurch dieser seine jetzige Größe erhielt. Der älteste lesbare Grabstein auf dem Crainfelder Begräbnisgelände stammt aus dem Jahre 1820.
Die jüdische Gemeinde Crainfeld - weithin als besonders streng orthodox bekannt - war daher auch dem orthodoxen Hessischen Landesverband Israelitischer Religionsgemeinden in Mainz angeschlossen und gehörte zum orthodoxen Bezirksrabbinat Gießen.
Juden in Crainfeld:
--- 1804 .......................... 36 Juden,
--- 1830 .......................... 36 “ ,
--- 1859 .......................... 65 “ (ca. 16% d. Dorfbev.),
--- 1871 .......................... 112 “ ,* * andere Angabe: ca. 85 Pers.
--- 1880 .......................... 102 “ (ca. 20% d. Dorfbev.)
--- 1886 .......................... 118 “ (ca. 23% d. Dorfbev.),
--- 1895 .......................... 77 " ,
--- 1900 .......................... 81 “ ,
--- 1905 .......................... 88 “ (ca. 16% d. Dorfbev.),
--- 1910 .......................... 68 “ ,
--- 1925 .......................... 39 “ ,
--- 1933 ...................... ca. 60 “ (in 15 Familien),
--- 1936 .......................... 20 “ ,
--- 1939 .......................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die Jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 110
und N.Mitter/A.Schneider, Eine Schreckenstat in Crainfeld ! - Zur Geschichte der Crainfelder Juden
Im letzten Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts wanderten einige Juden aus; das lag einerseits an wirtschaftlichen Gründen, andererseits aber an der stark ausgeprägten antisemitischen Bewegung in der Vogelsberg-Region. Während um 1900 ein Teil der jüdischen Einwohnerschaft vom Viehhandel lebte, betrieb der andere Teil Kleinhandel; als Nebenerwerb bestand oft eine kleine Landwirtschaft. Die Kaufläden im Ort wurden von jüdischen Familien betrieben.
Jüdisches Ehepaar Baer mit seinen Kindern (Aufn. um 1880, Sammlung G. Hollederer, aus: commons.wikimedia.org, CCO)
Im April 1914 wurde in Crainfeld ein Brandanschlag auf die Familie des jüdischen Futtermittelhändlers Abraham Stein ausgeübt. Das Verbrechen, das mehrere Wochen lang die Titelseiten der Lokalpresse füllte, wurde nie aufgeklärt. Der bei dem Brandanschlag ums Leben gekommene Abraham Stein und dessen Tochter wurden unter Teilnahme der gesamten Dorfbevölkerung zu Grabe getragen.
Mit dem Beginn der NS-Herrschaft wurden die jüdischen Dorfbewohner immer mehr ausgegrenzt und ihrer wirtschaftlichen Grundlagen beraubt, indem das Aufsuchen ihrer Läden verboten wurde. Etliche Familien verkauften sie ihr Hab und Gut und verließen ihr Dorf. Während einige in die nahe Großstadt Frankreich/M. verzogen, gingen andere in die Emigration ins außereuropäische Ausland. Ende 1936 löste sich die Kultusgemeinde Crainfeld offiziell auf. Die Kultgegenstände aus der Synagoge wurden nach Gießen verbracht und der dortigen orthodoxen Gemeinde (Steinstraße) übergeben. Ortsansässige, die weiterhin Beziehungen zu noch verbliebenen jüdischen Nachbarn unterhielten, wurden von der Lokalpresse öffentlich an den Pranger gestellt; in einer Meldung des „Lauterbacher Anzeigers” vom Juli 1936 hieß es: ... Aus Crainfeld wird uns berichtet, daß hier, wie in vielen Dörfern, noch Leute sind, die es nicht lassen können, Gemeinschaft mit Juden zu pflegen. Besonders soll sich hier ein gewisser Zeitgenosse darin hervortun, der für Juden alle möglichen Tätigkeiten verrichtet, während er für irgend eine Organisation weder Geld noch Zeit hat. Ist eine solche Haltung eines Deutschen würdig ? ..."
Während des Novemberpogroms zerschlugen SA-Angehörige die Fenster des abbruchreifen Synagogengebäudes und verwüsteten den Innenraum; danach wurden die Häuser der noch wenigen am Ort lebenden jüdischen Bewohner Ziel sinnloser Gewalt. Im „Lauterbacher Anzeiger“ vom 18.11.1938 wurde vermeldet: „Das letzte hier noch nicht verkaufte Judenhaus, in dem der Jude Sally Weinberg mit seiner nicht ganz normalen Familie seither wohnte, war über Nacht derart baufällig geworden, daß es auf behördliche Anordnung wegen Lebensgefahr der Vorübergehenden … abgerissen werden mußte. Die hiesige Feuerwehr besorgte dies mustergültig. Es wird allgemein angenommen, daß auch die Tage der hiesigen Synagoge zur allgemeinen Genugtuung gezählt sind.“ Unmittelbar nach den Ausschreitungen sollen die letzten, meist älteren jüdischen Bewohner das Dorf verlassen haben.
Am 13.Januar 1939 erschien im „Lauterbacher Anzeiger” der folgende Artikel:
Crainfeld hatte vor 6 Jahren noch 83 Juden - heute judenfrei !
Das ist die interessanteste und bedeutende Tatsache, die sich aus dem Grebenhain benachbarten Orte Crainfeld berichten läßt. Ende vorigen Jahres hat auch der letzte Hebräer seine Sachen gepackt und ist ausgezogen. Damit schließt ein langes, wenig erfreuliches Kapitel, das seit bald zwei Jahrhunderten in Crainfeld aufgeschlagen worden ist. ... Die Ansammlung der Juden in Crainfeld ist geschichtlich bedingt. In das riedeselische Gebiet durften sie nicht hinein, und sie mußten in Crainfeld, das Amtssitz (Edelhof) war, unter fester Kontrolle leben. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die Juden in Crainfeld selbst vorsichtig waren; denn dort haben sie keinen einzigen Bauernhof zum Erliegen gebracht. Wie sie aber in der Umgebung durch ihre Gaunerei und ihren rücksichtslosen Wucher gehaust haben, geht daraus hervor, daß sie, die samt und sonders arm zugezogen sind, fast alle wohlhabend oder gar reich davongezogen sind. ... Vor der Machtübernahme war nicht weniger als etwa ein Sechstel der Bewohnerschaft Crainfelds jüdisch ! ... Sechs Jahre nach dem Sieg der nationalsozialistischen Bewegung haben es vermocht, die Juden hier abwandern zu lassen. ...
Von den in Crainfeld gebürtigen bzw. hier über einen längeren Zeitraum hier ansässig gewesenen Juden wurden nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." nachweislich 26 Personen Opfer des Holocaust (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/crainfeld_synagoge.htm).
Das ehem. Synagogengebäude wurde 1938 (oder wenige Jahre später) an einen Nachbarn verkauft und im Jahre 1951 im Zuge der Ortssanierung abgerissen. Eine Gedenktafel, die an die einstige Synagoge bzw. an die ehemalige jüdische Gemeinde erinnert, gibt es allerdings nicht. Allerletztes sichtbares Zeichen dafür, dass jüdische Familien einst im Dorf beheimatet waren, ist der jüdische Friedhof oberhalb der Straße nach Bannerod; man findet hier noch ca. 75 Grabsteine.
Jüdischer Friedhof in Crainfeld (Aufn. Gertrud Hollederer, 2011/2005, in: alemannia-judaica.de bzw. wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die Jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 110/111
Friedrich Müller, Crainfeld - Ein Beitrag zu seiner Geschichte. Ein Heimatbuch 885 - 1985, Gießen 1987
N.Mitter/A.Schneider, Eine Schreckenstat in Crainfeld ! - Zur Geschichte der Crainfelder Juden, in: Fragmente ... jüdischen Lebens im Vogelsberg, hrg. Kulturverein Lauterbach e.V., Lauterbach 1994, S. 43 f. und S. 79
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945. Hessen II - Regierungsbezirke Gießen und Kassel, 1996, S. 194/195
Crainfeld, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie und diversen Aufnahmen des Friedhofs)
Carsten Eigner (Bearb.), Die Jüdische Gemeinde Crainfeld, in: Chronik Crainfeld, online abrufbar unter: chronik-crainfeld.de/juedische_gemeinde.html (erstellt 2004/2006, u.a. ausführliche Darstellung der Biografien der jüdischen Familien des Dorfes)
Das Ende jüdischer Gemeinden im Vogelsberg, in: „Lauterbacher Anzeiger“ vom 21.11.2015
Crainfeld, in: Jüdische Geschichte VOGELSBERG, online abrufbar unter: juedische-geschichte-vogelsberg.de/category/juedische-gemeinden/crainfeld/ (2017)
Carsten Eigner (Red.), Heimat im Bild: Ab 1842 gab es in Crainfeld eine Synagoge, in: „Gießener Anzeiger“ vom 13.6.2019
Carsten Eigner (Red.), Heimat im Bild: Jüdisches Leben im Vogelbergdorf Crainfeld, in: „Gießener Anzeiger“ vom 25.7.2019
Carsten Eigner (Red.), Crainfelder „Judenhaus“ als Bullenstall genutzt, in: „Gießener Anzeiger“ vom 23.8.2019
Carsten Eigner (Red.), Synagoge abgerissen und Garage gebaut, in: „Gießener Anzeiger“ vom 6.9.2019 (Anm. Im Artikel werden namentlich alle jüdischen NS-Opfer aus Crainfeld, Grebenhain, Bermuthshain und Nieder-Moos genannt)