Echzell - Bisses (Hessen)
Echzell - östlich von Bad Nauheim gelegen - ist eine Kommune mit derzeit ca. 6.000 Einwohnern im hessischen Wetteraukreis (Kartenskizze 'Wetteraukreis', aus: ortsdienst.de/hessen/wetteraukreis).
Erstmals wird eine jüdische Familie im oberhessischen Echzell gegen Ende des 16.Jahrhunderts erwähnt; weitere urkundliche Hinweise tauchen dann erst wieder um 1770 auf. Im benachbarten Bisses, das bis 1781 unter der Patrimonialherrschaft des Frh. von Nagel stand, konnten sich jüdische Familien bereits eher ansiedeln - gegen Entrichtung regelmäßiger Schutzgelder. Schon relativ früh verfügten die in Bisses lebenden Juden über eine kleine Synagoge und einen eigenen Friedhof. Ab Mitte des 19.Jahrhunderts verlagerte sich das Gemeindeleben nun immer mehr nach Echzell, das mit der 1863/1864 erbauten Synagoge in der Bisseser Straße zum Zentrum der Juden aus beiden Orten wurde. Die neue Synagoge verfügte immerhin über mehr als 100 Plätze, davon 40 für Frauen. Seit ca. 1910 suchten auch die Juden aus Wölfersheim die Synagoge in Echzell auf.
Ehem. Synagoge Echzell (Aufn. um 1960, aus: Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen, S. 47)
Eine an der Mühlgasse befindliche Mikwe wurde in den 1920er Jahren wegen Baufälligkeit abgerissen.
Religiös-rituelle Aufgaben besorgte ein seitens der Gemeinde angestellter Lehrer. Der zuletzt hier tätige Lehrer und Kultusbeamte war Joseph Stern, der nach etwa vier Jahrzehnten seines Wirkens in Echzell 1935 starb.
Stellenangebote aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 2.12.1889 und vom 17.6.1891
Die religiös-orthodox ausgerichtete Gemeinde ließ ihre Kinder in der israelitischen Privatschule in Echzell unterrichten, die seit 1830 bestand; der Antrag auf die Errichtung einer staatlichen jüdischen Elementarschule wurde von den Behörden wegen zu geringer Schülerzahl abgelehnt. Ab 1891 besuchten alle jüdischen Kinder die örtliche Volksschule; nur Religionsunterricht wurde getrennt erteilt.
Werbung für das Lehr- u. Erziehungsinstitut (aus "Der Israelit" vom 18.8.1869)
Ein Friedhofsgelände in der Gemarkung Bisses soll seit Mitte der 1880er Jahre zur Verfügung gestanden haben; vermutlich handelte es sich dabei um eine Vergrößerung eines schon vorhandenen Beerdigungsgeländes.
Zur Gemeinde gehörten neben Bisses auch die wenigen Juden aus Gettenau.
Juden in Echzell/Bisses:
--- 1770 ............................ 6 jüdische Familien (nur Echzell),
--- um 1830 ......................... 70 Juden, (29 Echzell/41 Bisses)
--- um 1865 ..................... ca. 20 Familien,
--- 1880 ............................ 96 Juden (ca. 6% d. Bevölk.),
--- um 1900 ..................... ca. 30 Familien,
--- 1905 ............................ 110 Juden, (84 Echzell/26 Bisses)
--- um 1930 ..................... ca. 50 “ ,
--- 1937 ............................ 25 “ ,
--- 1939 ............................ 12 “ , (6 Echzell/6 Bisses)
--- 1940 (Dez.) ..................... keine.
Angaben aus: Dietrich Lucius, Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Echzell und Bisses
Die Echzeller und Bisseser Juden verdienten ihren Lebensunterhalt im Vieh- und Getreidehandel, sowie im Textilhandel und im Handwerk als Metzger oder Bäcker.
mehrere Stellenangebote von 1890 - 1891 - 1899 (aus der Zeitschrift "Der Israelit")
Trotz ihrer religiös-orthodoxen Einstellung sollen sie in der dörflichen Gesellschaft integriert gewesen sein; das bestätigen auch ihre Mitgliedschaften in hiesigen Vereinen und im Gemeinderat.
Ihren zahlenmäßigen Höchststand erreichte die jüdische Gemeinde Echzell um 1900 mit etwa 30 Familien; danach wanderten vermehrt jüdische Bewohner in die städtischen Zentren ab; diese Tendenz setzte sich in den 1930er Jahren verstärkt fort, da den jüdischen Händlern ihre Existenzgrundlagen am Orte immer mehr entzogen wurden. Vor der „Reichskristallnacht“ wohnten nur noch ca. 15 - 20 jüdische Bürger in Echzell und Bisses; sie mussten miterleben, wie ihre Häuser demoliert wurden; einige Männer wurden misshandelt und anschließend inhaftiert. Durch Brandstiftung wurde die Inneneinrichtung der Echzeller Synagoge zerstört. Der letzte jüdische Bewohner soll sich 1940 polizeilich abgemeldet haben, sodass der Bürgermeister vermelden konnte: „Kein Jude mehr in Echzell und Bisses”.
59 Menschen mosaischen Glaubens, die in Echzell, Bisses und Gettenau zu Hause gewesen waren, überlebten nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." die NS-Zeit nicht; sie wurden Opfer der Shoa (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/echzell_synagoge.htm).
Vier Überlebende der NS-Lager kehrten nach Kriegsende nach Echzell zurück.
In der Seitengasse erinnert heute ein kleiner Gedenkstein an die ehemalige Synagoge des Ortes; zwar sind Teile des Gebäudes noch erhalten, doch durch Umbauten in den 1960er Jahren völlig verändert worden. Auf dem Gedenkstein ist eine Hinweistafel angebracht mit der Inschrift:
Synagoge.
Hier auf dem Grundstück Bisseser Straße 21 stand die 1863-1865 von der jüdischen Gemeinde erbaute Synagoge. In der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 wurde die Inneneinrichtung durch Brand zerstört.
Ein „Mahnmal gegen das Vergessen“ des Bingenheimer Künstlers Alf Seckel wurde 2013 in Echzell aufgestellt; es befindet sich auf dem Kirchplatz in unmittelbarer Nähe neben dem Mahnmal für die Weltkriegstoten.
Modell des Künstlers Alf Seckel und dessen Realisierung (Aufn. Jochen Degkwitz, juedisches-echzell.de)
In den Sockel des Mahnmals sind die Namen von 50 Personen jüdischen Glaubens eingraviert, die in Echzell gebürtig bzw. längere Zeit hier gewohnt haben und Opfer der Shoa geworden sind.
Der am östlichen Ortsrand gelegene jüdische Friedhof in Bisses – im Ortsteil der Kommune Echzell – wurde bis ca. 1860/1870 belegt; danach stand in Echzell eine Begräbnisstätte zur Verfügung.
Jüdischer Friedhof in Bisses (beide Aufn. Ch., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
In der westlich von Echzell gelegenen Ortschaft Wölfersheim sollen jüdische Familien seit ca. 1700 gelebt haben, die unter dem Schutz des Freiherrn von Löw standen. Die sehr kleine Kultusgemeinde - sie zählte stets kaum mehr als 20 – 30 Personen - verfügte über einen Betraum in einem Privathaus und ein eigenes Friedhofsgelände, das sich nordöstlich des Ortes an der Straße nach Hungen befand. Der Friedhof wurde zeitweise auch von den in Melbach und Obbornhofen wohnenden Familien genutzt. Als kein Minjan mehr zustande kam, suchten die Wölfersheimer Juden die Synagoge in Echzell auf.
Anfang der 1930er Jahre lebten noch drei jüdische Familien in Wölfersheim.
Wohnhaus - „Spezerei u. Landesprodukte“ von Hermann Roßmann, um 1930 (Sammlung Eugen Ries)
Zu gewaltsamen Ausschreitungen kam es während der Novembertage 1938, als SA-Angehörige und Arbeiter aus demörtlichen Braunkohle-Kraftwerk die jüdischen Männer halbtot prügelten, die Wohnungen ihrer Familien völlig demolierten und plünderten. 1939 lebten keine Bewohner mosaischen Glaubens mehr am Ort.
Sieben gebürtige Wölfersheimer Juden wurden Opfer der sog. „Endlösung“ (namentliche Nennung der betreffenden Personen siehe: alemannia-judaica.de/woelfersheim_synagoge.htm).
Knapp 40 Grabsteine - der älteste stammt aus dem Jahre 1729 - haben die Zeiten überdauert.
Jüdischer Friedhof Wölfersheim (Aufn. Nils E., 2009, aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 147/148 und Bd. 2, S. 412/413
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 47
Dietrich Lucius, Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Echzell und Bisses, in: 1200 Jahre Echzell (Chronik), Echzell 1982, S. 208 - 211
Dieter Wolf (Bearb.), Echzell – ein Dorf in der mittelalterlichen Wetterau, in: Heimat- u. Geschichtsverein (Hrg.), Echzeller Geschichtshefte, No. 7/1991, S. 18 - 34
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945. Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt, 1995, S. 318/319 (Echzell/Bisses) und S. 335 (Wölfersheim)
Susanne Gerschlauer, Katalog der Synagogen, in: Ulrich Schütte (Hrg.), Kirchen und Synagogen in den Dörfern der Wetterau, in: "Wetterauer Geschichtsblätter - Beiträge zur Geschichte u. Landeskunde", Band 53, Friedberg (Hessen) 2004, S. 557
Echzell, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Bisses, in: alemannia-judaica.de
Wölfersheim, in: alemannia-judaica.de
Jüdisches Leben in Echzell, Web-Seite des Arbeitskreises, abrufbar unter: juedisches-echzell.de, 2014 (Anm.: mit detaillierten Angaben zur jüdischen Ortsgeschichte; darin auch namentliche Liste der nach 1920 in Echzell ansässigen jüdischen Familien und deren Schicksal)
Andreas Grotz (Red.), Ein Sockel mit 59 Schicksalen, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 31.1.2015
Thomas Wettig (Red.), Wer gedenkt, umarmt die Opfer. Festakt zur Einweihung des Mahnmals für die ermordeten Juden aus Echzell am 22.Febr. 2015, online abrufbar unter: echzell.info/20150222_echzell_mahnmal.htm
Ines Dauernheim (Red.), Für Toleranz – gegen Radikalität. Mahnmal zur Erinnerung an die ermordeten Juden eingeweiht, in: "Wetterauer Zeitung“ vom 24.2.2015
Mahnmal für ermordete Juden in Echzell, in: „Gießener Anzeiger“ vom 26.2.2015
Petra Ihm-Fahle (Red.), Historischer Rundgang. Deportiert, ermordet, emigriert – eine jüdische Familiengeschichte aus Echzell, in: „Wetterauer Zeitung“ vom 11.9.2019