Enger (Nordrhein-Westfalen)
Enger ist eine ca. 21.000 Einwohner zählende Stadt - im Südwesten des ostwestfälischen Kreises Herford gelegen (hist. Karte von Lippe mit Enger am linken oberen Kartenrand, aus: wikiwand.com/de/Landratsamt_Blomberg und Kartenskizze 'Kreis Herford', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Ein erster Beleg für die Existenz eines Juden in Enger stammt aus dem Jahre 1687. Für die folgenden beiden Jahrhunderte lassen sich nur sehr wenige Spuren jüdischen Lebens in Enger finden; erst in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts ist eine nennenswerte jüdische Ansiedlung bezeugt. Den exakten Zeitpunkt der Gründung einer religiösen Gemeinschaft in Enger kann man nicht mehr ermitteln; vermutlich wurde eine Gemeinde während der französischen Besatzungszeit von 1807 bis 1813 gegründet, als durch den Zuzug weiterer Familien der für die Abhaltung eines Gottesdienstes notwendige Minjan erreicht worden war. (Anm.: Einer Quelle von 1847 zufolge gab es „seit länger als hundert Jahren“ eine Synagoge. Doch zu diesem Zeitpunkt lebten nur drei Judenfamilien in Enger.)
1812 ließ die Engerer Judenschaft eine kleine Synagoge erbauen, ein schlichtes Fachwerkhaus mit Krüppelwalmdach; sie lag versteckt auf einem kleinen Grundstück in der Bünder Straße, der heutigen Bahnhofstraße. Der Betraum (ca. 60 m² groß) besaß auch eine Frauenempore, die durch ein Gitter abgetrennt war.
Synagoge Enger, um 1920 (aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0) und Innenraum-Bima, Aufn. um 1890 (Abb. aus: commons.wikimedia.org)
In Enger gab es wenige Jahrzehnte lang in der Bielefelder Straße auch eine winzige jüdische Elementarschule; zuvor hatten die jüdischen Kinder vom hiesigen Kantor/Lehrer Religionsunterricht erhalten und zusammen mit den christlichen Kindern die Ortsschule besucht.
Seit spätestens Mitte der 1820er Jahre stand den Gemeindeangehörigen ein eigenes Beerdigungsareal in der heutigen Ziegelstraße zur Verfügung; die letzte Beerdigung fand hier im Jahre 1938 statt. Auf dem Gelände wurden bis ca. 1830 auch verstorbene Juden aus Bünde beerdigt.
Zur Synagogengemeinde Enger gehörten auch die jüdischen Familien aus Nieder-Jöllenbeck, Spenge und Wallenbrück.
Juden in Enger:
--- 1714 ........................... 3 jüdische Familien,
--- um 1750 ........................ 3 “ “ ,
--- 1796 ........................... 7 Juden (oder Familien ?),
--- 1804 ........................... 26 “ ,
--- 1843 ........................... 55 “ ,
........................... 87 “ ,* * Synagogengemeinde
--- 1861 ........................... 52 “ (knapp 4% d. Bevölk.),
--- 1871 ........................... 37 “ ,
--- 1895 ........................... 32 “ ,
--- 1925 ........................... 18 “ ,
--- um 1930/33 ................. ca. 20 “ ,
--- 1940 ........................... 6 “ ,
--- 1942 (Aug.) .................... keine.
Angaben aus: Kerstin Stockhecke/Heinz Finkener, Geschichte der Synagogengemeinde Enger
und Kerstin Stockhecke (Bearb.), Enger, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen …, S. 376
Während der sog. „Hep-Hep-Unruhen“ von 1819 kam es auch in Enger zu antijüdischen Ausschreitungen, bei denen „durch zusammengelaufenen Pöbel gegen die dortigen israelitischen Einwohner unter dem bekannten Ausrufe: ’Hep-Hep’ verschiedene Excesse durch Steinewerfen an die Fensterladen und Durchprügelung der habhaft gewordenen Juden begangen worden sind.”
Die jüdischen Familien in Enger lebten gegen Ende des 19.Jahrhunderts ausschließlich vom Handel; neben Kleinhändlern gab es in Enger auch zwei jüdische Unternehmerfamilien, die Zigarrenfabriken besaßen. Gegen Ende des 19.Jahrhunderts war die Zahl der in Enger lebenden jüdischen Bewohner stark rückläufig, sodass sich bereits um 1895 die Engerer Synagogengemeinde auflöste; die verbliebenen jüdischen Familien schlossen sich daraufhin der Herforder Kultusgemeinde an. Erst drei Jahrzehnte später wurde das jüdische Gotteshaus abgebrochen und das Grundstück verkauft; der Erlös sollte zur Erhaltung des Friedhofs dienen.
Das Leben zwischen dem christlichen und jüdischen Bevölkerungsteil war vom Ende des 19.Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre von einem hohen Grad an Harmonie geprägt; jüdische Bewohner gehörten lokalen Vereinen an, was als Beleg für ihre gesellschaftliche Integration angesehen werden kann. Doch nach der NS-Machtübernahme änderte sich die Situation; in Enger hatte die NSDAP bei den Märzwahlen von 1933 mehr als 50% der Stimmen erhalten. 1937/39 emigrierten einige jüdische Familien Engers, zumeist in die USA.
Während des Novemberpogroms wurden die Schaufensterscheiben der beiden noch bestehenden jüdischen Geschäfte eingeschlagen; das Synagogengebäude konnte nicht zerstört werden, da es bereits 1927 abgerissen worden war. Der weit außerhalb der Stadt liegende jüdische Friedhof blieb verschont. Drei männliche Juden wurden „in Schutzhaft“ genommen und ins KZ Buchenwald eingeliefert. Die letzten fünf jüdischen Bewohner von Enger wurden Ende Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Die nach Werfen verzogene Engeraner Jüdin, Franziska Spiegel, wurde im November 1944 von SS-Angehörigen erschossen. Nur ein einziger der deportierten Engerer Juden soll den Holocaust überlebt haben.
Heute erinnert im Engerer Ortskern - ganz in der Nähe des Standortes der ehemaligen Synagoge - ein Gedenkstein an alle Opfer des NS-Regimes.
Hinweistafel (Aufn. Chr., 2012, aus: commons.wikimedia.org, CCO) und Gedenkstein (B., 2007, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Auf Initiative einer Schülergruppe des Widukind-Gymnasium war auch eine Beteiligung die Stadt Enger am sog. „Stolperstein“-Projekt ins Gespräch gebracht worden. Bereits wenig später (2010) wurde mit der Realisierung begonnen: so sind an drei Standorten (Kirchplatz, Werther-Str. und Bahnhofstraße) insgesamt acht Steine zu finden, die an ehemalige Einwohner erinnern, die der NS-Rassenideologie zum Opfer gefallen sind (Stand 2024).
verlegt Kirchplatz (Aufn. Hiddenhauser, 2023, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Der in den 1820er Jahren geschaffene jüdische Friedhof an der Ziegelstraße weist heute noch ca. 55 Grabsteine auf.
Jüdischer Friedhof in Enger (Aufn. P., 2021, aus: commons.wikimedia.org, CVC BY-SA 4.0 und Chr., 2012, aus: wikipedia.org, CCO)
In Spenge – wenige Kilometer westlich von Enger - erinnert seit 1991 in einem Wäldchen ein Gedenkstein an die Jüdin Franziska Spiegel, die 1944 von zwei SS-Angehörigen erschossen wurde, nachdem sie aus einem Kotten in Bünde-Werfen verschleppt worden war. Sie hatte sich gemeinsam mit ihrem "arischen" Ehemann und Sohn aufs Land geflüchtet und hoffte hier, unerkannt zu überleben.
Heute erinnert ein Stein mit einer dort angebrachten Gedenktafel an das Schicksal von Franziska Spiegel.
Die Inschrift lautet: "FRANZISKA SPIEGEL, geb. Goldschmidt am 6.5.1905 in Werl, wurde hier am 4.Nov. 1944 Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Auf der Flucht vor dem Terror eines unmenschlichen Systems hoffte sie, in der Gemeinde Werfen sichere Zuflucht zu finden. Angehörige der SS verfolgten und ermordeten sie, weil sie Jüdin war. Ein menschenwürdiges Begräbnis wurde ihr verweigert. Ihr Tod blieb ungesühnt."
Zu Ehren von Franziska Spiegel wurde in Bünde eine Straße nach ihr benannt.
Weitere Informationen:
W.Emer/U.Horst/u.a. (Hrg.), Provinz unterm Hakenkreuz. Diktatur und Widerstand in Ostwestfalen-Lippe, Bielefeld 1984
Einwohner, Bürger, Enrechtete - Sieben Jahrhunderte jüdisches Leben im Raum Bielefeld, Hrg. Stadtarchiv und landesgeschichtliche Bibliothek (Ausstellungskatalog zur Ausstellung des Stadtarchivs zum 50.Jahrestag des Novemberpogroms von 1938), in: "Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte", Band 6, Bielefeld 1988
Kerstin Stockhecke/Heinz Finkener, Geschichte der Synagogengemeinde Enger, in: "Stadt Enger - Beiträge zur Stadtgeschichte", Heft 7, Enger 1991, S. 7 - 118
Karl-Heinz Wiegelmann, Die Jüdin Franziska Spiegel – Ansprache des Bürgermeisters K.-H. Wiegelmann anlässlich der Einweihung des Gedensteins am 4.11.1991 (online abrufbar unter: hücker-aschen.de/html/ansprache_wiegelmann.html)
Dieter Meyer (Hrg.), Franziska Spiegel – Die Stadt Spenge gedenkt eines jüdischen Schicksals. Eine Dokumentation mit Beiträgen zur Erinnerungsarbeit, Verlag für Regionalgeschichte, 2.Aufl., Bielefeld 1995
Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen: Band III: Regierungsbezirk Detmold, J.P.Bachem Verlag, Köln 1998, S. 110 f.
Kurzfilm: „Franziska Spiegel – Eine Erinnerung“, Horris-Filmproduction Berlin 2005
Norbert Sarhage, „... weil sie hier mehr im Verborgenen ihr Wesen treiben können“. Jüdische Spuren im Amt Spenge, in: „Historisches Jahrbuch für den Kreis Herford 2005“, S. 196 - 204
Andreas Sundermeier (Red.), Enger. Ein Ort für Stolpersteine. Enger erinnert an ermordete jüdische Bürger, in: „NW - Neue Westfälische“ vom 12.3.2010
Kerstin Stockhecke (Bearb.), Enger, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Detmold, Ardey-Verlag, Münster 2013, S. 373 - 378
Auflistung der Grabsteine des jüdischen Friedhofs in Enger (mit Kurzdaten und Abbildungen), in: grabsteine.genealogie.net
Norbert Sahrhage, Der Mordfall Franziska Spiegel – Manfred Heggemann. Begleitband (Unterrichtsmaterialien), Pendragon Verlag, Bielefeld 2018
Kommune Hücker-Aschen (Hrg.), Die Jüdin Franziska Spiegel, online abrufbar unter: hücker-aschen.de/Franziska-Spiegel/franziska-spiegel.html
Ekkehard Wind (Red.), Spenge. Franziska-Spiegel-Stein: Politik diskutiert über Umgestaltung, in: “NW – Neue Westfälische” vom 18.5.2021
Mareike Patock (Red.), Spenge. Gedenkort für ermordete Jüdin soll würdiger gestaltet werden, in: “NW – Neue Westfälische” vom 21.5.2021
Mareike Patock (Red.), Schicksale: Diese Engeraner wurden Opfer der Nazi-Herrschaft, in: “NW – Neue Westfälische” vom 1.9.2022