Freistett (Baden-Württemberg)
Freistett ist seit dem Jahre 1975 ein Ortsteil der badischen Stadt Rheinau (Ortenaukreis) - knapp 20 Kilometer nördlich von Kehl gelegen (Kartenskizzen 'Ortenaukreis' ohne Eintrag von Rheinau, aus: ortsdienst.de/baden-wuerttemberg/ortenaukreis und 'Ortsteile von Rheinau', D. 2015, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0).
In Altfreistett waren im 17.Jahrhundert vereinzelt jüdische Personen ansässig, ohne dass es aber jemals zur Bildung einer Gemeinde gekommen ist. In Neufreistett bestand eine jüdische Gemeinde bis 1935; ihre Entstehung geht in etwa in die Zeit der Gründung Neufreistetts (1739) zurück. Seitens der Grafen von Hanau-Lichtenberg hatten die jüdischen Familien hier Niederlassungsfreiheit erhalten.
Eine eigene Synagoge wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Marktplatz an der Ecke Rheinstraße/Freiburger Straße erstellt; ein Häuschen mit dem rituellen Bad war angebaut. Als um 1890 das Synagogengebäude offenbar in sehr schlechtem Zustand war, erfolgte eine umfangreiche Renovierung; 1893 wurde dann das Gotteshaus neu eingeweiht.
Die Zeitschrift „Der Israelit“ berichtete in ihrer Ausgabe vom 4.Sept. 1893 ausführlich darüber:
Aus dem Badischen. Die aus kaum 20 israelitischen Familien bestehende Gemeinde in Neufreistett feierte Freitag den 25. v. M. die Einweihung ihrer renovierten Synagoge; schon viele Jahre war die Renovierung ein Bedürfniß, da die Synagoge von innen und von außen ein sehr notdürftiges Aussehen hatte. Es war zu bezweifeln, daß das Projekt zustande käme, da die Gemeinde bei ihrer kleinen Anzahl große Opfer zur Bestreitung ihres Cultusaufwandes aufbringen muß; jedoch der rastlosen Thätigkeit ihres Vorstandes Herrn Jakob Hammel ist es zu verdanken, dass hier ein Werk entstanden, welches der Gemeinde zur Zierde gereicht. Aus freiwilligen Spenden von Nah und Fern wurden die Mittel zum Bau aufgebracht. Auch Seine Königliche Hoheit der Erlauchte Großherzog und Erbgroßherzog von Baden trugen seiner Zeit ihr Scherflein dazu bei. ... Der Herr Bürgermeister sowie der Gemeinderat waren während der ganzen Feier anwesend. ... Es ist in unserer heutigen aufgeklärten, aber dennoch bezüglich des religiösen Friedens so sehr leidenden Zeit besonders angenehm und erfreulich, wenn man sieht, daß es auch noch Gegenden gibt, wo das beste Einvernehmen zwischen Juden und Christen herrscht. Ein fernerer Beweis davon ist, daß zwei Israeliten hier dem Gemeinderat angehören. Rühmend wurde das schöne Einvernehmen der beiden Konfessionen hier auch von Herrn Redner hervorgehoben mit dem Wunsche, daß solche Toleranz auch in anderen Gegenden Nachahmung finden möchte. ...
Synagoge in Neufreistett (hist. Aufn., Sammlung J. Hahn)
Wurden verstorbene Gemeindemitglieder zunächst auf dem weit entfernten jüdischen Friedhof in Kuppenheim beerdigt, konnte im beginnenden 19.Jahrhundert ein eigenes Beerdigungsgelände im Gewann „Hungerfeld“ in Nutzung genommen werden (1817); hier fanden auch die Verstorbenen aus Rheinbischofsheim und Kehl (bis 1924) ihre letzte Ruhe.
Aufn. J. Hahn, um 1985
Seit Ende der 1820er Jahre zählte Neufreistett zum Rabbinatsbezirk Bühl.
Juden in (Neu)-Freistett:
--- um 1770 ........................ 7 jüdische Familien,
--- 1825 ........................... 5 “ “ (mit 48 Pers.),
--- 1852 ........................... 83 Juden (ca. 5% d. Bevölk.)
--- 1887 ........................... 84 “ ,
--- 1894 ........................... 75 " (in 18 Familien)
--- 1900 ........................... 70 “ (ca. 3% d. Bevölk.),
--- 1925 ........................... 46 “ ,
--- 1933 ....................... ca. 35 “ ,* *(Alt- u. Neufreistett)
--- 1940 ........................... eine Jüdin.
Angaben aus: F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden - Denkmale, ..., S. 94
Ihren Lebensunterhalt bestritten die jüdischen Familien von Freistett in den ersten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts vom Handel mit Vieh, Tabak und Kolonial- und Textilwaren.
Kleinanzeige aus: "Der Israelit" vom 24.11.1904
Im Jahre 1935 wurde die nur noch aus wenigen Angehörigen bestehende Kultusgemeinde Freistett mit der von Rheinbischofsheim zur „Israelitischen Religionsgemeinde Rheinbischofsheim“ vereinigt; die hiesige Synagoge wurde nun nicht mehr für Gottesdienste benutzt. Das Synagogengebäude wurde 1938 von der Kommune für 1.000,- RM gekauft. Während des Novemberpogroms wurde das Gebäude stark beschädigt und Monate später wegen Baufälligkeit abgerissen. Doch 1938/1939 verließen die letzten jüdischen Bewohner den Ort und emigrierten zumeist ins nahe Frankreich; der Novemberpogrom hatte die Abwanderung noch beschleunigt; denn alle männlichen Juden waren verhaftet und via Kehl ins KZ Dachau gebracht worden; nach zwei Wochen konnten sie nach Freistett zurückkehren.
Als die badischen Juden im Oktober 1940 nach Gurs deportiert wurden, lebte am Ort nur noch eine einzige jüdische Einwohnerin.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 17 gebürtige bzw. längere Zeit am Ort ansässig gewesene Freistetter Juden Opfer des Holocaust (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/freistett_synagoge.htm).
Der jüdische Friedhof besitzt auf einer Fläche von knapp 3.000 m² heute noch ca. 620 Grabsteine; der älteste von Löw Reichmann datiert von 1817; die letzte Bestattung fand 1939 statt.
Gräberfeld und einzelne Grabsteine vom jüdischen Friedhof in Rheinau-Freistett (Aufn. J. Hahn, 2003)
Auf dem neu gestalteten Freistetter Marktplatz wurde im Juni 2008 ein Denkmal enthüllt, der an die ehemalige jüdische Gemeinde des Ortes erinnert. Der mächtige, aus Bronze gegossene Block - gespalten durch einen Riss - soll die Zerstörung des einst konfliktfreien Zusammenlebens zwischen Juden und Nicht-Juden während der NS-Zeit symbolisieren; geschaffen wurde die Gedenkstele vom Mannheimer Bildhauer Manfred Kieselbach; diese trägt neben der namentlichen Nennung der 1933 ansässigen jüdischen Bürger Freistetts die Inschrift: „Nachwachsende Generationen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah, sie sind aber dafür verantwortlich, was in der Geschichte daraus wird. Richard von Weizsäcker".
Mahnmal in Freistett (Aufn. SPD-Ortsverein Rheinau)
Die neben dem Mahnmal liegende Bodentafel informiert wie folgt: "An dieser Stelle befand sich bis 1938 die Synagoge der jüdischen Gemeinde Freistett. Die Stadt Rheinau gedenkt ihrer durch die Nationalsozialisten und deren Handlanger getöteten jüdischen Mitbürger." .
2022 wurden in Rheinau-Freistett die ersten drei sog. "Stolpersteine" in der Hauptstraße u. Rheinstraße verlegt, die an ehemalige jüdische Bewohner erinnern, die Opfer des NS-Regimes geworden sind; so wird das Gedenken an die Schwestern Jenny und Julchen Hammel wachgehalten, die in der Rheinstraße ein Kaufhaus betrieben hatten, nach Gurs deportiert und von da aus nach Auschwitz-Birkenau verschleppt worden waren.
Auch in dem zu Rheinau zählenden Ortsteil Rheinbischofsheim existierte eine jüdische Gemeinde.
[vgl. Rheinbischofsheim (Baden-Württemberg)]
Weitere Informationen:
Alfred Leitz, Geschichte der Gemeinden Freistett und Neufreistett bis zum Übergang an das Großherzogtum Baden, o.O. 1890
F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden - Denkmale, Geschichte, Schicksale, Hrg. Archivverwaltung Baden-Württ., Bd. 19, Stuttgart 1968, S. 94/95
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 413/414
Friedrich Peter (Hrg.), Als in Deutschland die Synagogen brannten. Eine Dokumentation zu den Ereignissen in der ‘Reichskristallnacht’ in den Gemeinden des Hanauerlandes, 2.Auflage, 1989
Britta Hauß/Tanja Schäfer, Der Judenfriedhof in Freistett, Arbeit der 10. Klasse der Realschule Freistett, Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte 1992/1993
Freistett, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Text- u. Bilddokumenten)
Gerd Hirschberg, Von Rheinau über Gurs nach Auschwitz. Stationen der Vernichtung der jüdischen Gemeinden Neufreistett und Rheinbischofsheim, in: "Die Ortenau", No.80/2000, S. 237 - 250
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 395/396
Michael Müller (Red.), Gedenkstein für die Synagoge in Freistett enthüllt, in: "Acher-Rench-Zeitung“ vom 30.6.2008
Die Friedhöfe von Freistett und Rheinbischofsheim (Stadt Rheinau) und Lichtenau (Baden), in: juedische-friedhoefe.info
N.N. (Red.), „Keiner ist wieder hergezogen“, in: „Mittelbadische Presse“ vom 23.2.2013
Gerd Hirschberg, Geschichte der ehemaligen jüdischen Gemeinden Neufreistett und Rheinbischofsheim. Ein Erinnerungs- und Materialbuch, Freistett 2015
Ellen Matzat (Red.), Der Judenfriedhof in Freistett ist 202 Jahre alt, in: BadenOnline vom 19.8.2019
Ellen Matzat (Red.), Gedenken an jüdische Opfer. Auch Rheinau erhält jetzt „Stolpersteine“, in: BadenOnline vom 20.5.2021
Ellen Matzat (Red.), Gedenken. Rheinau bekommt die ersten Stolpersteine, in: BadenOnline vom 6.3.2022
Karen Christeleit (Red.), Rheinau bekommt seine ersten Stolpersteine: Warum erst jetzt? in: „Badische Neueste Nachrichten“ vom 7.9.2022
Anne-Frank-Gymnasium Rheinau (Red.), Stolpersteine in Rheinau, online abrufbar unter: afg-rheinau.de (2022)