Fürstenau (Nordrhein-Westfalen)
Seit der Gebietsreform (1970) gehört die ostwestfälische Ortschaft Fürstenau (derzeit ca. 1.200 Einwohner) zur Stadt Höxter (Kartenskizzen 'Landkreis Höxter' und 'Stadtteile von Höxter', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Die Existenz von Juden in Fürstenau wurde in einem Schutzbrief aus dem Jahre 1683 erstmals erwähnt; möglicherweise haben bereits zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges jüdische Familien hier gelebt. Die Anfänge einer Gemeinde liegen im Dunkeln. Zu Beginn des 19.Jahrhunderts wohnten in Fürstenau nur fünf jüdische Familien; gegen Mitte des Jahrhunderts erreichte die Anzahl der Juden in Fürstenau mit zwölf Familien ihren Höchststand. Wie überall in den Dörfern des Corveyer Landes lebten die Juden in Fürstenau zunächst in äußerst ärmlichen Verhältnissen.
Von der in Preußen durchgeführten Neugliederung der Synagogengemeinden - mit Gesetz von 1847 - war auch die Synagogengemeinde Fürstenau betroffen, zu der nun auch die Juden aus den Ortschaften Löwendorf, Brenkhausen und Bödexen zählten.
Die Existenz eines Gebetsraumes in Fürstenau ist bereits 1724 belegt, als der Corveyer Fürstabt den Juden aus Löwendorf gestattet, die „Synagoge in Fürstenau den Jüdischen Gesätzen gemäß beyzuwohnen“. Um 1845/1850 ist eine angemietete Betstube belegt. Als Vorsänger zu dieser Zeit fungierten Aron Rosenstein und Salomon Lipper.
Auszüge aus der Synagogenordnung der jüdischen Gemeinde Fürstenau (von 1846):
" § 1 Es soll der Vorhof zum Tempel, wie Letzteren selbst mit Stille und Ruhe betreten und beim Oeffnen und Schließen der Thüren alles Geräusch nach Möglichkeit vermieden werden. Ingleichen soll der Eintretende ohne laute Begrüßung der Anwesenden und mit Unterlassung sonstiger Aufsehenerregender Gebräuche sich auf seinen Platz begeben.
§ 3 Das laute Beten während der stillen Betverrichtungen, wie das laute Mitsingen während der Vorlesungen aus der Thora ist untersagt. Letzteres darf nur dann stattfinden, wenn solches im Gebete selbst ausdrücklich vorgeschrieben ist.
§ 10 Die Plätze in der Synagoge werden in der Art gebraucht, daß davon zuerst die verheiratheten Mitglieder Gebrauch machen, welche für einen jeden Stand 20 Sgr. zur jüdischen Gemeindekasse zu entrichten haben. Dann folgen auswärtige Theilnehmer am Gottesdienste, welche für einen solchen Stand ebenfalls 20 Sgr. zu entrichten haben. Denselben nachfolgen diejenigen jüdischen Einwohner, welche noch nicht nicht als Gemeinde-Mitglieder angesehen werden. Diese Letzteren haben für den Gebrauch eines solchen Standes jährlich 7 ½ Sgr. zur jüdischen Gemeindekasse zu entrichten. Mit dieser Einnahme werden alsdann sämmtliche Ausgaben, welche die Gemeinde hat, bestritten, … Arme erhalten Plätze unentgeldlich angewiesen.
§ 11 Die Stände auf dem Frauentempel werden von den Frauen nach Maaßgabe ihres Alters und der Berechtigung ihrer Männer gebraucht. Frauen, deren Ehemänner nicht zu den Gemeindelasten beitragen, oder die selbst nicht zu denselben contribuiren, müssen den übrigen nach Weisung des Gemeinde-Vorstehers nachstehen. Arme Frauen erhalten ihre Plätze vom Vorsteher zugewiesen."
Im Jahre 1854 wurde in Fürstenau eine Synagoge errichtet, die gemeinsam mit den inzwischen zur Synagogengemeinde Fürstenau zählenden jüdischen Familien aus Bödexen, Brenkhausen und Löwendorf aufgesucht wurde.
Eine eigene Schule hat es hier nur für einen kurzen Zeitraum gegeben, da die Zahl der Kinder zu gering war.
Ihre Begräbnisstätte – ein in Hanglage langgestrecktes Gelände - besaß die hiesige Judenschaft am sog. „Judenberge“ (Richtung Bödexen), die vermutlich bereits im letzten Jahrzehnt des 17.Jahrhundert angelegt und seit den 1770er Jahren gemeinsam mit den Judenschaften von Albaxen und Stahle genutzt wurde; der älteste von noch ca. 30 erhaltenen Grabsteinen trägt die Jahreszahl 1826.
Blick auf den jüdischen Friedhof in Fürstenau (Aufn. aus: jacob-pins.de)
Juden in Fürstenau:
--- um 1810 ......................... 5 jüdische Familien,
--- 1846 ............................ 12 " " (mit 56 Pers., ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1871 ............................ 31 Juden,
--- 1905 ............................ 21 “ ,
--- 1925 ............................ 51 " ,
--- 1933 ............................ 48 " ,
--- 1937 ............................ 26 “ ,
--- 1939 ............................ 18 " .
Angaben aus: Ernst Würzburger, Die ehemalige jüdische Gemeinde Fürstenau
und Fritz Ostkämper (Bearb.), Juden in Fürstenau, aus: jacob-pins.de
Zu Beginn der preußischen Herrschaft wiesen die Landkreise Höxter und Warburg die bei weit höchsten jüdischen Bevölkerungsanteile in Westfalen auf; ihre Ursache lag in der Ansiedlungspolitik der Fürstbischöfe von Paderborn und Fürstäbte von Corvey. Ihren Lebensunterhalt bestritten die in bescheidenen Verhältnissen lebenden Fürstenauer Juden im 19.Jahrhundert im Kleinhandel, als Lumpensammler und Trödler; um 1930 waren sie Kaufleute, aber vor allem im Viehhandel tätig, was einige jüdische Händler zu gewissem Wohlstand brachte. Nach Beginn der NS-Herrschaft blieben die jüdischen Viehhändler von Handelsbeschränkungen zunächst noch verschont; erst 1938/1939 untersagte man ihnen jede weitere Betätigung. Antisemitische Vorfälle in Fürstenau sind bis Mitte 1938 nicht aktenkundig geworden; danach kam es zu Schmierereien und Einwerfen von Fensterscheiben bei von Juden bewohnten Häusern. Ende August 1938 waren nach einem Einbruch in die Synagoge die dort vorhandenen Kultgegenstände geraubt worden; diese wurden im ganzen Dorfe verstreut, bald aber - teilweise beschädigt - wiederaufgefunden. Die Täter konnten nicht ermittelt werden! Beim Novemberpogrom stürmten und plünderten SA-Trupps die Geschäfte und Wohnungen jüdischer Familien; Die Männer wurden inhaftiert und für mehrere Wochen in das KZ Buchenwald verbracht. Bei den gewalttätigen Ausschreitungen des November 1938 wurde auch die Fürstenauer Synagoge zerstört; sie brannte teilweise aus. Das Gebäude wurde 1939 von einem Fuhrunternehmer erworben und zu einer LKW-Garage umgebaut.
In seinem „Vollzugsbericht“ schrieb der Landrat von Höxter:
„ ... war zu beobachten, daß die Sympathie der Bevölkerung nicht bei dieser Aktion war. ... Hier und da waren Anzeichen von Mitleid festzustellen. Völlig verurteilt ist die Zerstörung von Sachwerten ... Sehr bedenklich ist die Beschädigung der Synagogen aufgenommen worden, da gerade die katholische Bevölkerung in ihrer bekannten Achtung vor sakralen Einrichtungen in diesen Synagogen vielmehr religiöse Stätten, wie Bollwerke des Judentums sah. ...”
Auch jüdische Familien aus Fürstenau gehörten zu den Deportierten, die Anfang Dezember 1941 „in den Osten umgesiedelt“ wurden; die hier noch verbliebenen musste Ende Juli 1942 den Weg nach Theresienstadt antreten.
Insgesamt wurden 27 gebürtige bzw. länger am Ort lebende jüdische Bewohner deportiert; nur zwei von ihnen, Karla Pins und Helmut (Harry) Löwenstein, überlebten die Kriegsjahre; sie emigrierten alsbald in die USA.
Am ehemaligen Synagogengebäude, das heute nicht mehr äußerlich als solches erkennbar ist, weist eine Inschriftentafel auf dessen einstige Bestimmung hin; sie trägt die folgende Worte:
„Ehemalige Synagoge Die gottesdienstliche Versammlungsstätte der Juden der Synagogengemeinde Fürstenau wurde im Zuge des Reichspogroms am 10.November 1938 im Innern zerstört und 1939 als Garage umgebaut. Der Bevölkerungsanteil der jüdischen Gemeinde betrug Mitte des 19.Jahrhunderts 5,5% der Bevölkerung von Fürstenau. 1937 lebten noch 35 jüdische Bürger in der Gemeinde."
Zur Erinnerung an die Fürstenauer Holocaust-Opfer wurde 2021 mitten im Ort (vor der Kirche) ein Mahnmal errichtet, das an die Verschleppung und Ermordung der jüdischen Bewohner erinnert. An dem steinernen Monument, das sich auf einem in die Pflasterung eingelassenen Davidstern befindet, sind neben einem bronzenen Relief auch die Namen der betroffenen 21 deportierten/ermordeten Fürstenauer Juden angebracht. Die Gestaltung des Mahnmals war der aus Fürstenau stammenden Bildhauerin Sabine Hoppe übertragen worden.
Entwurf des Reliefs (Abb. aus: jabob-pins.de)
das Mahnmal kurz vor der Fertigstellung (Aufn. privat, aus: NW 8.7.21)
Jüngst wurden an sieben Standorten in Fürstenau mehr als 20 sog. „Stolpersteine“ verlegt; sie erinnern an die Schicksale von Menschen, die in der NS-Zeit verfolgt, vertrieben, deportiert u. ermordet wurden.
für Angehörige der Fam. Löwenstein, Hohehäuser Str. (Aufn. 2021, aus: fuerstenau.eu)
und in der Detmolder Straße
Auf dem jüdischen Friedhof in Fürstenau ("Am Judenberg") findet man heute noch ca. 30 Grabsteine; zudem erinnern auch zwei Gedenksteine an ermordete jüdische Familien.
Jüdischer Friedhof (Aufn. P., 2019, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
[vgl. Höxter (Nordrhein-Westfalen)]
Anmerkung: Im gleichnamigen niedersächsischen Fürstenau – einer Samtgemeinde im Kreis Osnabrück – gab es auch eine kleine jüdische Gemeinde.
[vgl. Freren (Niedersachsen)]
Weitere Informationen:
Ernst Würzburger, Die ehemalige jüdische Gemeinde Fürstenau, in: "Höxter-Corvey - Monatsheft des Heimat- u. Verkehrsvereins", No. 11/1988, S. 5 - 15
Rudolf Muhs, Die Synagogen im Kreis Höxter und ihre Zerstörung am 10.November 1938, in: "Jahrbuch Kreis Höxter 1988", S. 229 ff.
Rudolf Muhs, Die Geschichte der jüdischen Gemeinden und Synagogen im Raum Höxter-Warburg vor 1933, in: "Jahrbuch Kreis Höxter 1989", S. 211 ff. und S. 255 f.
Ernst Würzburger, Juden in Höxter - Von der Gleichstellung im Königreich Westfalen bis zum Holocaust, Höxter 1993
Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil III: Regierungsbezirk Detmold, Bd. 1, Köln 1998, S. 198 - 200
Jörg Deventer, Die Juden und das Rathaus in Höxter, in: "Jahrbuch Kreis Höxter 1999", S. 177 - 183
Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 175
Fritz Ostkämper (Bearb.), Die Juden in Fürstenau – Aufsatz von 2005 (ergänzt 2015), online abrufbar unter: jacob-pins.de (Anm.: sehr informative Darstellung)
Antonius Westermeier (Bearb.), Spurensuche. Geschichte und Geschichten der ehemaligen jüdischen Gemeinde Fürstenaus, online abrufbar unter: spuren-fuerstenau.de (Anm. verschiedene Aufsätze, so u.a.: Die wirtschaftliche und soziale Einbindung der Juden in Fürstenau - Opfer der Shoa aus Fürstenau - Spurensuche – Die jüdischen Mitbürger Fürstenaus vom 17.Jahrhundert bis zum Jahr 1942)
Benjamin Dahlke (Bearb.), Höxter-Fürstenau, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Detmold, Ardey-Verlag, Münster 2013, S. 435 - 440
Fritz Ostkämper (Bearb.), Die Viehhändler Dillenberg – Ovenhausen, Höxter und Fürstenau (längerer Aufsatz 2015), online abrufbar unter: jacob-pins.de
Michael Robrecht (Red.), Dem Holocaust entkommen: Rückkehr nach Höxter, in: “Westfalen-Blatt” vom 30.5.2018 (betr. biografische Notizen zu Helmut/Harry Löwenstein)
Fritz Ostkämper (Bearb.), Juden in Fürstenau, hrg. vom Forum Jacob Pins im Adelshof, Höxter Dez. 2018
N.N. (Red.), Erinnerung an im Holocaust ermordete Juden. Mahnmal in Fürstenau, in: “Westfalen-Blatt” vom 25.7.2019
Simone Flörke (Red.), Fürstenauer Mahnmal soll Relief statt Gedenkstein werden, in: “NW – Neue Westfälische” vom 9.8.2019
Michael Robrecht (Red.), Reliefentwurf für Mahnmal zur Erinnerung an die ermordeten Fürstenauer Juden ist fertig. Löwenstein will zur Einweihung kommen, in: “Westfalen-Blatt” vom 11.12.2019
Mathias Brüggemann (Red.), Mahnmal soll an ermordete Fürstenauer Juden erinnern, in: “NW – Neue Westfälische” vom 13.12.2019
N.N. (Red.), “Es wird eine wichtige Erinnerung werden” - Stadt Höxter und Jacob-Pins-Gesellschaft untezeichnen Vertrag für das Mahnmal in Gedenken an die Fürstenauer Opfer des Holocausts, in: “Westfalen-Blatt” vom 7.1.2021
Benedikt Lücke, Stolpersteine in Fürstenau, hrg. vom Heimat- u. Verkehrsverein Fürstenau am 2.4.2021 (online abrufbar unter: fuerstenau.eu/index.php/news/169-stolpersteine-in-fuerstenau)
Dennis Pape (Red.), Gegen das Vergessen – Stolpersteine erinnern in Fürstenau an die Opfer des Nationalsozialismus, in: “Westfalen-Blatt” vom 18.4.2021
Simone Flörke (Red.), Wie Fürstenau an seine jüdischen Bürger erinnern will, in: “NW – Neue Westfälische” vom 8.7.2021
Thomas Kube (Red.), Das Mahnmal ruft … 150 Menschen wohnen feierlicher Enthüllung bei, in: “Höxter-News – Online-Nachrichtenportal für Höxter” vom 13.7.2021
Svenja Ludwig (Red.), “Ich habe von meinem Großvater nur gehört: Die waren plötzlich weg”, in: “NW – Neue Westfälische” vom 9.10.2022