Gandersheim (Niedersachsen)
Bad Gandersheim ist eine Kleinstadt mit derzeit knapp 11.000 Einwohnern im Landkreis Northeim – nur wenige Kilometer westlich des Harzes gelegen (hist. Karte 'Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel' um 1790, aus: wikiwand.com/de/Hochstift_Hildesheim und Kartenskizze 'Landkreis Northeim', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Merian-Stich, um 1655 (aus: wikipedia.,org CCO)
Über die Anfänge jüdischen Lebens im mittelalterlichen Gandersheim gibt es keine gesicherten Angaben; urkundlich nachweisbar ist die Ansiedlung mehrerer jüdischer Familien in der Stadt um 1400/1420. Dass die Zahl der damals in Gandersheim lebenden Juden doch relativ groß gewesen sein muss, belegt die Tatsache, dass zwischen 1398 und 1447 acht jüdische Familien aus Gandersheim nach Hildesheim übersiedelten. Bis ins 16.Jahrhundert belegen wenige Urkunden, dass vereinzelt Juden in Gandersheim gelebt bzw. sich hier aufgehalten haben; erst im Laufe des 18.Jahrhunderts siedelten sich wieder dauerhaft Juden an. Ein Betraum im Hause des Samuel Simon am Steinweg ist erstmals in den 1770er Jahren erwähnt; zwischenzeitlich wurde dieser aufgegeben, weil kein Minjan mehr zustande kam; im Folgejahrzehnt wuchs die kleine Gemeinschaft an, sodass der inzwischen genutzte Betraum im Hause von Simon Rosenthal nicht genügend Platz bot.
Noch 1853 hieß es in einem Schreiben des Landesrabbiners Dr. Herzfeld (Braunschweig): „ ... Die Gandersheimer Synagoge im Hause des Vorstehers Rosenthal ist seit einiger Zeit ganz unbesucht geblieben, weil in ihr der Raum für die Frauen allzu beschränkt war. Nun aber ist es mir jüngst gelungen, Rosenthal und den Kaufmann Friedheim zu der Übereinkunft zu bewegen, daß ersterer auf seine Kosten den Raum für die Frauen etwas erweitern lassen will und die Ausgaben von 25 Thalern ihm dann von der Gemeinde ersetzt werden.” Nach dem Tode Rosenthals wurde der Betraum 1853 in das Geschäftshaus der Familie Bremer an der Moritzstraße verlegt. Ein eigenes Synagogengebäude hat es in Gandersheim zu keiner Zeit gegeben, da die jüdische Gemeinschaft viel zu klein war und ihr die finanziellen Mittel dazu fehlten. Seit ca. 1910 suchten die wenigen Gandersheimer Juden die Synagoge in Seesen auf, nachdem sie sich der dortigen Synagogengemeinde angeschlossen hatten.
Ein jüdischer Friedhofs wurde Ende der 1770er Jahre in Gandersheim an der St. Georgshöhe (An der Wiek) angelegt. Der älteste datierbare Stein stammt aus dem Jahre 1818; die letzten Beerdigungen fanden hier 1918 und 1921 statt.
Juden in Gandersheim:
--- 1810 ......................... 18 Juden,
--- 1829/31 ...................... 5 jüdische Familien (39 Pers.),
--- 1852 ......................... 35 Juden,
--- 1871 ......................... 34 “ ,
--- 1885 ......................... 36 “ ,
--- 1895 ......................... 23 “ ,
--- um 1900/05 ................... 20 “ ,
--- 1925 ......................... 10 “ ,
--- 1933 ......................... 8 “ (in 2 Familien),
--- 1939 ......................... keine.
Angaben aus: Kurt Kronenberg, Die jüdische Gemeinde in Gandersheim und ihr Friedhof
und Anke Quast (Bearb.), Gandersheim, in: H. Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen .., Bd. 1, S. 591
Moritzstraße in Gandersheim - hist. Postkarte (Abb. aus: akpool.de)
Mit dem Zuzug von Louis Ballin und seiner Familie gewann die jüdische Gemeinschaft in Gandersheim eine Persönlichkeit, die sich maßgeblich für die Belange der Stadt und deren Wohl einsetzte; er erhielt 1918 die Ehrenbürgerrechte. In den ersten Jahren nach der NS-Machtübernahme verließen die letzten beiden jüdischen Familien Gandersheim; sie erlebten aber noch den Boykott am 1.4.1933. Aus einem Kurzbericht im „Gandersheimer Kreisblatt” vom 1./2.April 1933:
Die Boykottbewegung zur Abwehr der jüdischen Greuellügen im Ausland hat heute vormittag auch hier begonnen. Zwei der jüdischen Geschäfte in unserer Stadt (Herren-Modehaus und Rothschild) haben freiwillig geschlossen; der Eingang zu den Läden wurde daraufhin mit Latten vernagelt, die SA-Posten konnten zurückgezogen werden. Heute abend 7 Uhr werden die Eingänge wieder freigemacht. Nur vor dem Geschäft M. Rosenbaum, das geöffnet blieb, stehen noch Posten. Der Boykott setzt heute abend aus. Schilder machen das vorübergehende Publikum darauf aufmerksam, daß über die Geschäfte der Boykott verhängt worden ist. Sie haben folgenden Wortlaut: Nur staatsfeindliche Elemente kaufen hier! - Deutsche, kauft nicht bei Juden! - Ein Lump, wer hier kauft! Die Boykottbewegung verläuft, wie nichts anders zu erwarten, in völliger Ruhe.
Ende 1937 wohnten in Gandersheim keine jüdischen Personen mehr.
Als einziges Zeugnis am Ort erinnern die cya. 35 bis 40, teils ins Erdreich versunkenen Grabsteine des kleinen Friedhofs ("An der Wiek") an die ehemalige kleine jüdische Gemeinschaft in Gandersheim. Das ca. 350 m² große Areal war Anfang der 1950er Jahre wieder hergerichtet worden.
Friedhofsgelände (Aufn. Sabine Meister 2022, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Pflege des jüdischen Friedhofs (Aufn. A.Kronenberg, aus: "Gandersheimer Kreisblatt")
Im Braunschweigischen Landesmuseum befinden sich zwei Thora-Wimpel, die aus dem Gandersheimer Betraum stammen.
Seit 2019 erinnern in der Moritzstraße und Neuen Straße insgesamt neun sog. „Stolpersteine“ an Angehörige der beiden jüdischen Familien Bendix und Rosenbaum. Während der vierköpfigen Familie Bendix die Emigration nach Argentinien gelang (1935), wurden zwei Angehörige der Fam. Rosenbaum deportiert und ermordet.
verlegt in der Moritzstraße
und Neue Straße
(alle Aufn. Gmbo 2023, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Hinweis: Im Jahre 2022 wurden am Kloster Brunshausen 18 "Stolpersteine" verlegt, die an verstorbene Säuglinge von Zwangsarbeiterinnen („Kinderpflegestätte Brunshausen“) erinnern sollen.
Weitere Informationen:
Oscar Ballin, Die Familie Ballin, Gandersheim 1913
Kurt Kronenberg, Louis Ballin, in: "Gandersheimer Chronikblätter", Heft 3/1970
Kurt Kronenberg, Der Judenfriedhof von Gandersheim, in: "Braunschweigische Heimat", No. 57/1971, S. 130 - 138
Kurt Kronenberg, Chronik der Stadt Gandersheim, Bad Gandersheim 1978
Kurt Kronenberg, Die jüdische Gemeinde in Gandersheim und ihr Friedhof, in: "Gandersheimer Chronikblätter", 12.Jg., Heft 10 (Oktober 1981)
Gerhard Ballin, Geschichte des Bankhauses Bremer in Gandersheim, Seesen 1983
Fritz Pinne, Die hebräischen Inschriften auf den Grabsteinen des Gandersheimer Judenfriedhofs, in: "Gandersheimer Chronikblätter", 17.Jg., Heft 10/11, 1986
Susanne Abel (Hrg.), Beiträge zur Geschichte der Juden in Gandersheim. Ergebnisse eines Kurses der Kreisvolkshochschule des Landkreises Northeim in Bad Gandersheim 1990/1991 (Maschinenmanuskript)
Reinhard Bein, Ewiges Haus: Jüdische Friedhöfe in Stadt und Land Braunschweig, Braunschweig 2004, S. 122/123
Anke Quast (Bearb.), Gandersheim, in: Herbert Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, Bd. 1, S. 591 - 595
Axel Christoph Kronenberg, Der jüdische Friedhof in Bad Gandersheim (Aufsatz), Bad Gandersheim 2007
N.N. (Red.), Grabsteine: Vor dem Vergessen bewahrt, in: „Gandersheimer Kreisblatt“ vom 3.11.2017
rah (Red.), Starkes Gedenken für einstige Nachbarn, in: "Gandersheimer Kreisblatt“ vom 10.12.2019
Auflistung der in Bad Gandersheim verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Bad_Gandersheim