Gelnhausen (Hessen)
Gelnhausen – zwischen Frankfurt/M. und Fulda gelegen – ist heute Kreisstadt des Main-Kinzig-Kreises mit derzeit ca. 23.000 Einwohnern im Südosten Hessens (Ausschnitt aus hist. Karte 'Kurhessen' von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Main-Kinzig-Kreis', aus: ortsdienst.de/hessen/main-kinzig-kreis).
Der im 11.Jahrhundert gegründete Ort Gelnhausen wurde 1170 Reichsstadt. In seinen Mauern sollen bereits 1265 - vermutlich aber schon bereits in der zweiten Hälfte des 12.Jahrhunderts - Juden ansässig gewesen sein. Da die jüdischen Bewohner als „Kammerknechte“ kaiserlichen Schutz genossen, lebten sie in Gelnhausen relativ sicher. Doch im Pestjahr 1348/1349 widerfuhr den Gelnhausener Juden das gleiche Schicksal wie Juden in vielen anderen deutschen Städten: Der Gelnhausener Pöbel drang in die Judengasse ein und trieb die dort lebenden Familien zusammen; vor der Stadt wurden die Menschen auf vorbereiteten Scheiterhaufen (Auf dem Escher, heute Schifftorstraße) öffentlich verbrannt. Schon wenige Jahrzehnte später wurden Juden wieder in der Stadt aufgenommen; sie standen nun unter dem Schutz des Rates, der von ihnen einen „Treueschwur“ verlangte, und den Grafen von Isenburg-Büdingen. Ihren Lebensunterhalt verdienten die Juden damals fast ausschließlich mit dem Geldgeschäft; für Bürger und Obrigkeiten in der Region der Wetterau waren sie unentbehrlich. Mit den Wirren der Reformation und mit dem Machtverlust des Kaisers schwand auch die Sicherheit der Juden in Gelnhausen. Als sich Gelnhausener Bürger zunehmend wegen Wuchers durch Juden beim Stadtrat beschwerten und ihre eigene schlechte soziale Lage den Juden anlasteten, wies die Stadtherrschaft den Rat der Stadt an, dafür zu sorgen, dass innerhalb der nächsten drei Jahre die Juden Gelnhausen verließen; so erfolgte in den 1570er Jahren eine erneute Vertreibung aus der Stadt. Spätestens 1599 sollen sie nach Gelnhausen zurückgekehrt sein.
Gelnhausen – Stich von M. Merian, um 1665 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Im beginnenden 17.Jahrhundert fanden erneut einige jüdische Familien in Gelnhausen ihren Wohnsitz; aus dem Jahre 1601 ist der Bau einer Synagoge bezeugt. Nach Ende des Dreißigjährigen Krieges wuchs die jüdische Gemeinde wieder an und bildete bald den Kristallisationspunkt für die kleinen jüdischen Gemeinden in Wächtersbach, Salmünster und Bieber; sie alle begruben ihre Toten in Gelnhausen. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte die Gemeinde wiederum relativ große Bedeutung, so war es auch Rabbinatssitz. Von 1701 bis 1741 wirkte hier z.B. der bekannte Halachist Rabbiner Henoch ben Jehuda Löb, Verfasser einer Vielzahl von rabbinischen Abhandlungen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war Gelnhausen eines der Zentren des gelehrten Rabbinertums. Weitere bedeutende Rabbiner waren der Asket und Wunderrabbiner Samuel Warburg, dem 1817 während des Betens mit hocherhobenen Händen in der Synagoge der Tod ereilte, sowie der letzte Rabbiner Hirsch Levi Kunreuther (gest. 1847).
Hirsch Levi Kunreuther (geb. 1771 in Kunreuth/Oberfranken) besuchte die Jeschiwa in Mainz und die in Fürth; er wurde 1796 zum Rabbiner ordiniert. Nach einer Tätigkeit in Mergentheim kam er 1819 nach Gelnhausen, wo er einer großen Jeschiwa vorstand. Nach seinem Tode (1847) endete das Rabbinat in Gelnhausen.
Während zunächst keine Vorschrift in Bezug auf ihren Wohnsitz innerhalb der Stadt Gelnhausen bestand, ist ab Beginn des 18.Jahrhunderts ein Ghetto nachweisbar, das die „Judengasse“, die heutige Brentanostraße, umfasste und durch zwei Tore abgeschlossen war. Die jüdischen Familien betrachteten das Ghetto weniger als Zurücksetzung als vielmehr als Schutz vor Übergriffen des Pöbels.
Zu allen möglichen Anlässen wurden die Juden Gelnhausens zur Kasse gebeten, z.B. bei jeder Beschneidung, jeder Hochzeit und bei Wechsel an der kommunalen Spitze; auch wenn der Synagogenvorstand alle drei Jahre neu bestätigt wurde, mussten Gebühren entrichtet werden.
Zu dieser Zeit erhielten die Juden das Recht zugesprochen, mit allem Handel zu treiben, allerdings mit Einschränkung im Handel mit Leder- und Eisenwaren; der Geldhandel trat in den Hintergrund. In einem Artikel in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 10. Nov. 1856 war über die Gemeinde Gelnhausen zu lesen:
Gelnhausen, Sitz einer zahlreichen jüdischen Gemeinde, hat eine nette Synagoge, eine Religionsschule und guten Chorgesang. Vor einigen Decennien blühte hier noch eine sehr besuchte Jeschiwa (höhere Talmudschule), und gar manche unserer gegenwärtigen Rabbinen haben dort zu den Füßen des Rabbi seinen Ausführungen gelauscht, haben sich an den Geisteskämpfen des Pilpul gelabt. Jetzt ist nichts mehr von all dieser Herrlichkeit geblieben, nicht einmal ein Rabbiner hat dort seinen Sitz. Die alte Burg dortselbst, einst die Residenz Kaiser Friedrichs I., ist jetzt ganz von Juden bevölkert. Wie würde der alte Barbarossa staunen, wenn er einmal vom Kyffhäuser aus das Leben und Treiben der jetzigen Insassen seiner ehemaligen Burg mit ansehen könnte. Da ist nichts mehr von all der früheren Herrlichkeit zu schauen; verschwunden sind die stolzen Ritter, die zierlichen Edelfrauen, dahin Turniere und Kampfspiele, ein ganz anderes, ernsteres und sehr tätiges Geschlecht hat dort seinen Wohnsitz aufgeschlagen.
Die erste Synagoge Gelnhausens ist 1601 nachweisbar; sie wurde aber während des Dreißigjährigen Krieges zerstört. Ihr Wiederaufbau in der "Judengasse" erfolgte nach 1648; dafür mussten die Juden eine Summe an die Stadt zahlen. Einem Umbau, der 1734 datierte, folgte eine erneute grundlegende Renovierung 100 Jahre später. Dem Synagogengebäude waren in unmittelbarer Nähe eine Mikwe und die Lehrerwohnung angeschlossen.
Synagoge in Gelnhausen (hist. Aufn.) Innenansicht der Synagoge (hist. Aufn.)
Der Friedhof außerhalb des zweiten Mauerrings der Stadt südöstlich des Schifftores nahe der Kinzig angelegte Friedhof stammt aus dem späten Mittelalter; die ältesten datierbaren Steine stammen aus der Zeit um 1600; das Areal wurde bis 1938 genutzt.
Zahlreiche ältere Grabsteine (Aufn. Tilman, 2016, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Zum 200jährigem Jubiläum der Chewra Kadischa erschien am 30.6.1911 ein längerer Artikel im „Frankfurter Israelitischen Familienblatt“:
Gelnhausen. Zu einer glänzenden, allen Teilnehmern unvergeßlichen Feier gestaltete sich das 200jährige Jubiläum der israelitischen Beerdigungsbrüderschaft und des Wohltätigkeitsvereins (Chewraus Gemilus Chasodim w’Kabronim), zu der sich außer der gesamten Gelnhäuser Judenheit zahlreiche Gäste von auswärts eingefunden hatten. Zwei der Einladung versandte hübsch ausgestattete Büchlein – die von unserem Lehrer Strauß verfaßte, durch die Munifizenz des Ehepaares M. Tannenbaum und Frau Klara geb. Sichel – Frankfurt herausgegebene Festschrift und das gleichfalls von Lehrer Strauß verfaßte, durch die Munifizenz der Frau Johanna Bobrecker – Kansas City gedruckte Weihespiel – hatten schon vorher die Erwartungen aufs höchste gespannt. Ernst begann die Reihe der Veranstaltungen. Auf dem Friedhofe, der sich stimmungsvoll an den Ufern der Kinzig erstreckt und dessen bis 400 Jahre alten Steine in beredter Sprache von der Geschichte der Gelnhäuser Judenheit erzählen, galt es, der verstorbenen Mitglieder zu gedenken. Provinzialrabbiner Bamberger – Hanau, Lehrer Strauß und Arthur Meyer hielten der Nachdenklichkeit des Ortes gemäße Ansprachen. Ganz besonders die Worte des Herrn Meyer griffen in da Tiefste der Herzen und erpreßten aus zahlreichen Augen Tränen. Die üblichen Gebete, Rundgang und Chorgesang beendeten den Akt auf der Stätte der Vergangenheit, dem sich nun der Festgottesdienst in der altehrwürdigen Synagoge, deren wundervoller Oraun-hakaudesch (Toraschrein) ein Genuss für jedes künstlerisch geschulte Auge ist, anschloß. Das festlich geschmückte Gotteshaus war bis aufs letzte Plätzchen besetzt. Der Bürgermeister, Vertreter der Stadt und zahlreicher jüdischer Gemeinden der näheren Umgebung saßen als Ehrengäste in den vorderen Reihen. Provinzialrabbiner Dr. Bamberger hielt eine groß angelegte, meisterhafte Festpredigt. Der Chor der Gelnhäuser jüdischen Gemeinde zeigte das musikalische Können seines auf so vielen Gebieten erprobten Leiters Lehrer Strauß. Eine neue Ewige Lampe, gestiftet von Frau Wolf Stern – Hanau und ausgeführt von der Kunstwerkstätte der bekannten Silberwarenfirma Felix Horovitz – Frankfurt, wurde entzündet; - möge sie stets über eine Gemeinde scheinen, in der traditionelles jüdisches Leben Stätte hat ! Nachmittags 4 ½ Uhr versammelten sich 104 Teilnehmer in der Turnhalle zu dem Festmahle. Jakob Moritz, der Vorsteher der Kabronim-Chewra, eröffnete die Tafel mit einer begeisterten, inhaltsreichen Ansprache und zahlreiche geistvolle Toaste würzten das Mahl. Dem Festmahle schloß sich eine Abendunterhaltung ...“
Juden in Gelnhausen:
--- um 1600 ........................ 3 jüdische Familien,
--- 1734 ........................... 33 “ “ ,
--- 1749 ........................... 40 “ “ ,
--- 1760/80 .................... ca. 65 “ “ ,
--- 1835 ........................... 407 Juden,*
--- 1861 ........................... 301 “ ,*
--- 1871 ........................... 182 “ (ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1885 ........................... 225 “ ,
--- 1905 ........................... 204 “ ,
--- 1925 ........................... 215 “ ,
--- 1933 ........................... 207 “ ,**
--- 1936 ....................... ca. 130 “ ,
--- 1937 (März) .................... 55 “ ,
--- 1938 (Okt.) .................... keine,
--- 1947 ....................... ca. 60 “ .***
* Zur Gemeinde Gelnhausen zählten auch die Juden aus Altenhaßlau und Roth. ** andere Angabe: 150 Personen *** Jüdische DPs.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 240 f.
Gelnhausen um 1870 (aus: wikipedia.org, CCO)
Um 1900 zählte die Gelnhausener Jüdische Gemeinde etwa 70 Familien; zumeist bestritten sie ihren Lebensunterhalt im Handel; doch gab es auch einige wenige Handwerksbetriebe, darunter auch eine Druckerei, die die „Gelnhäuser Nachrichten” herausgab. Mehrere Vereine, wie der Jüdische Frauenverein und der Krankenunterstützungs-Verein, wirkten zum Wohle der Gemeinde.
Bereits im Dezember 1932 wurden SA-Posten vor jüdischen Einzelhandelsgeschäften in Gelnhausen aufgestellt, um „arische“ Käufer vom Betreten der Geschäfte abzuhalten. Am 1.April 1933 wiederholte sich diese antijüdische „Demonstration“; diesmal wurden aber auch Schaufenster zerschlagen. Die meisten jüdischen Kaufleute hatten ihre Geschäfte an diesem Tage geschlossen, um weitergehende Konfrontationen zu verhindern. Die zunehmende Diskriminierung und Gewalt gegen jüdische Einrichtungen und ihre Angehörigen - besonders heftig im Jahre 1935 - führte zur Emigration Gelnhauser jüdischer Familien; einige verlegten ihren Wohnsitz in das anonymere Frankfurt. Mit der Abwanderung verarmte die jüdische Gemeinde zusehends.
Aus dem Lagebericht des Landrates an die Gestapo in Kassel vom 30.11.1937:
„... Vor der Machtübernahme haben die Juden auf das Geschäftsleben im Kreis Gelnhausen einen nicht unbedeutenden Einfluß ausgeübt, der aber seit 1933 merklich zurückgegangen ist und heute vollständig lahmliegt. Sie trieben Handel mit Vieh, besaßen Konfektions-, Weiß-, Woll-, Kurzwaren- und Schuhgeschäfte, Lebensmittel- und Landesproduktengroßhandlungen. Auch im Handwerk waren sie vertreten, wie Bäckerei, Fleischerei, Schuhmacherei. Wie schon die Zahlen ergeben, ist der Bestand an jüdischen Einwohnern in einem Umfange zurückgegangen, daß von irgendeiner Geschäftstätigkeit dieser Rasse hier kaum gesprochen werden kann. Die im jüdischen Besitz gewesenen Geschäfte sind durch Kauf fast ausnahmslos in den Besitz arischer Geschäftsleute übergegangen. Der Handel mit Juden hat bis auf geringe Ausnahmen aufgehört. Es fällt allerdings auf, daß jüdische Viehhändler vereinzelt noch ihre Tätigkeit ausüben. Ihr Handel beschränkt sich auffallenderweise meist auf katholische Ortschaften. Die hier zu beobachtende judenfreundliche Einstellung mag vielleicht auch noch von geldlichen Verpflichtungen herrühren, die einzelne Einwohner mit Juden verbinden. Im großen und ganzen kann man aber sagen, daß der Handel mit Juden bis auf geringe Ausnahmen aufgehört hat. Die meisten hier noch wohnenden Juden leben in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen und sind teilweise auf Unterstützung ihrer Rassegenossen angewiesen. Sie werden von der arischen Bevölkerung nicht mehr beachtet und leben zurückgezogen. ... „
Die letzte Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof fand 1938 statt; die Kommunalbehörde untersagte, den Totenwagen zu benutzen; so musste der Sarg zum Friedhof getragen werden - z.T. unter Gejohle umstehender Jugendlicher; die wenigen an der Beerdigung teilnehmenden Gemeindemitglieder wurden mit Steinen beworfen. Anfang Juni 1938 kam es im Ort zu heftigen antijüdischen Ausschreitungen, an denen mehrere hundert Ortsbewohner beteiligt waren; die Attacken richteten sich gegen die Synagoge und Privathäuser, deren Eingänge zugemauert worden waren.
Aus dem Tagesrapport der Gestapo vom 18.Juni 1938:
„ ... In Gelnhausen wurde nachts durch Aufschichten einiger Steine der Zugang zur Synagoge und zu einem jüdischen Geschäft versperrt. Eine Anzeige wurde nicht erstattet, die Steine, die den Zugang zur Synagoge versperrten, wurden von einigen jüdischen Gemeindemitgliedern wieder entfernt. Ferner wurden durch Kinder und Halbwüchsige einige Fensterscheiben der Synagoge zertrümmert. ...“
Bereits im September 1938 - also noch vor der Pogromnacht - hatten alle jüdischen Familien Gelnhausen verlassen; daraufhin wurde am Bahnhofsplatz ein Schild mit der Aufschrift: „Gelnhausen ist judenfrei” angebracht. Am 1.November 1938 erschien in der Lokalzeitung der folgende Hetzartikel:
Gelnhausen endlich judenfrei
Am 1. Nov. hat sich der letzte Vertreter der Krummnasen abgemeldet
Mit besonderer Freude und Genugtuung vermerken wir, daß am 1.November der Siegfried Weiß und seine Frau Selma geb. Scheuer als letzte Juden ihre polizeiliche Abmeldung vollzogen haben. Damit ist Gelnhausen endlich judenfrei geworden. ...In welchem Grade dem Judenpack der Gelnhäuser Boden während der letzten Jahre immer heißer geworden ist - nicht zuletzt durch die einmütige ablehnende Haltung und den gesunden Instinkt unserer Einwohnerschaft - das zeigen folgende Zahlen: Bei der Machtübernahme gab es in Gelnhausen 218 Juden, deren Zahl sich stetig wie folgt verringerte: ... Nunmehr hat auch - Gott sei Dank – der hartnäckigste Vertreter dieses üblen Gesindels das Weite gesucht. Dieser Tag, an dem wir von der jüdischen Pest in unseren Mauern befreit worden sind, dürfte als bemerkenswert in die Geschichte unserer Stadt eingehen. ...
Wenige Monate vor der „Kristallnacht“ war das Synagogengebäude vom Vorsteher der Gemeinde an einen Obsthändler verkauft worden, nachdem zuvor alle Kultgegenstände nach Frankfurt überführt worden waren. Dieser Verkauf bewahrte das Gebäude damals vor einer Inbrandsetzung; es diente in der Folgezeit als Lagerraum. Während des Krieges wurde dann das ehem. Synagogengebäude teilweise zerstört.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 104 gebürtige bzw. längere Zeit in Gelnhausen ansässig gewesene jüdische Bewohner in Ghettos bzw. Vernichtungslager verschleppt und ermordet (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/gelnhausen_synagoge.htm).
Jahre nach Kriegsende wurden die Vorgänge der „Gelnhausener Kristallnacht“ (3./4.Juni 1938) vor einer Spruchkammer verhandelt.
Zwei Jahre nach Kriegsende lebten wieder einige Juden (Displaced Persons) in Gelnhausen, die eine neue jüdische Gemeinde bildeten.
Von einer Wiedereröffnung der ehemaligen Synagoge nahm man aber Abstand, da die Mitgliederzahl sich alsbald rückläufig entwickelte und um 1950 fast alle verzogen bzw. ausgewandert waren.
1981 erwarb die Kommune das Synagogengebäude in der Brentanostraße; fünf Jahre später wurde das original restaurierte „Haus der Synagoge“ als städtisches Kulturzentrum eröffnet; eine Plastik mit zweisprachig abgefasster Gedenk-Inschrift am ehemaligen Synagogengebäude erinnert:
Dieses Gebäude wurde 1601 als Synagoge errichtet und diente der Jüdischen Gemeinde von Gelnhausen bis 1938.
In den Jahren des Hasses wurden die jüdischen Mitbürger vertrieben oder deportiert und das Gebetshaus entweiht.
In der Hoffnung auf eine Versöhnung wurde dieses Haus am 25.September 1986 dem Geiste des Friedens und der Kultur geweiht.
Bei der Plastik, die eine halbgeöffnete Tür darstellt, in deren fensterähnlicher Öffnung verflochtene Ringe eingebunden sind, handelt es sich um ein Werk der jüdischen Bildhauerin Dina Kunze (Aufn. J.Hahn, 2009, aus: alemannia-judaica.de)
„Haus der Synagoge“ und Stein neben dem Eingangsportal (Aufn. Maulaff 2020, aus: wikipedia.org CC BY-SA 4.0)
Im Vorraum erinnert eine ständige Dokumentation an die einstige jüdische Gemeinde der Stadt; ein barocker Thora-Schrein ist unversehrt erhalten geblieben.
Barocker Thora-Schrein (Aufn. J. Hahn, 2009)
Neben dem ehemaligen Synagogengebäude befindet sich ein Haus (aus dem 18.Jahrhundert), das Wohnhaus des früheren Rabbiners Samuel Warburg (gest. 1817) war und ehemals auch als „Alltagssynagoge“ genutzt wurde. Das seit 2020 im Besitz der Kommune befindliche Gebäude, in dem ein Dokumentationszentrum zur jüdischen Geschichte Gelnhausens geplant war, aber nicht realisiert wurde, soll nun an private Nutzer veräußert werden. Dagegen wendet sich eine jüngst gegründete Bürgerinitiative (Stand 2024).
Einige hundert Grabsteine auf dem mehr als 3.000 m² großen jüdischen Friedhofsgelände - zumeist aus rosa-farbenen Sandstein - haben die Zeiten überdauert; der älteste Stein stammt aus dem Jahre 1616.
Jüdischer Friedhof Gelnhausen (Aufn. Haselburg-Müller, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
2009 wurde damit begonnen, in der Altstadt sog. „Stolpersteine“ in Erinnerung an während des Nationalsozialismus verfolgte und ermordete Gelnhäuser Juden zu verlegen; inzwischen findet man im Stadtgebiet etwa 120 dieser Gedenktäfelchen (Stand 2023).
verlegt in der Berliner Straße und Langgasse (Aufn. Reinhard Hauke, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
In Lieblos, einem heutigen Ortsteil von Gründau, existierte eine israelitische Gemeinde, die sich aus Familien umliegender kleiner Orte wie Roth, Gettenbach und Nieder- u. Mittelgründau gebildet hatte; anfänglich waren die Familien der jüdischen Gemeinde in Meerholz angeschlossen. Die stets nur aus einer überschaubaren Anzahl jüdischer Familien bestehende Kultusgemeinde verfügte in Lieblos über einen Betraum, der sich in einem alten Fachwerkgebäude befand. Eine kleine Religionsschule - in den 1870er Jahren zeitweilig als Elementarschule geführt – zählte auch zu den gemeindlichen Einrichtungen.
Stellenanzeige aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 24.7.1884
Der Friedhof lag in der Gemarkung Gettenbach.
Jüdischer Friedhof Gettenbach (Aufn. L., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Die Inschriften der erhaltenen Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Gettenbach lassen eine Belegung von 1760 und 1910 nachweisen. Auf dem Gelände wurden Verstorbene aus Breitenborn, Gettenbach, Lieblos, Gründau und Roth beigesetzt.
Anm.: Vom 18. bis Ende des 19. Jahrhunderts gab es im Dörfchen Gettenbach relativ viele jüdische Einwohner; so sollen es um 1790 etwa 90 gewesen sein (ca. 60% d. Einwohner); gegen Mitte des 19.Jahrhunderts waren es noch 40 Personen.
Zu Beginn der 1930er Jahre war die jüdische Gemeinde von Lieblos auf zwei bis drei Familien zusammengeschmolzen. Der Betraum wurde im November 1938 von SA-Angehörigen in Brand gesteckt; die Ritualien waren zuvor nach Frankfurt/M. gebracht worden, wo sie während des Pogroms vernichtet wurden. Ende November 1938 hatten die letzten beiden Familien Lieblos in Richtung Frankfurt/M. verlassen. Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden zwölf gebürtige bzw. längere Zeit hier wohnhaft gewesene Mitglieder der jüdischen Gemeinde Lieblos Opfer der „Endlösung“ (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/lieblos_synagoge.htm).
In Hain-Gründau bestand eine winzige jüdische Gemeinde bis in die 1930er Jahre; deren Entstehung geht in die Zeit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. An Einrichtungen bestanden ein Betsaal, eine Mikwe und ein Friedhof. Die Gemeinde, die schließlich 1936 formell aufgelöst wurde, hatte zum liberalen Provinzialrabbinat Oberhessen mit Sitz in Gießen gehört.
Wegen der geringen Zahl ihrer Angehörigen hatten sich in den 1920er Jahren die Gemeindeangehörigen mit denen von Lieblos zusammengeschlossen; so wurden Gottesdienste abwechselnd in Gründau und in Lieblos abgehalten. Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden sieben aus Hain-Gründau stammende jüdische Bewohner Opfer der Shoa (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/hain-gruendau_synagoge.htm).
Der kleinflächige jüdische Friedhof, der in der NS-Zeit abgeräumt worden war, weist heute drei Grabsteine auf.
Jüdischer Friedhof (Aufn. L., 2015, in: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Das ehemalige Synagogengebäude in der Pfarrgasse wird heute zu Wohnzwecken genutzt.
Auch im heutigen Ortsteil Meerholz gab es eine kleine jüdische Gemeinde.
[vgl. Meerholz (Hessen)]
2024 wurden in der Hauptstraße in Altenhaßlau (Kommune Linsengericht) die ersten „Stolpersteine“ verlegt; so erinnern nun sechs Steinquader an Angehörige der jüdischen Familie Löwenthal.
In der Region um Gelnhausen waren weitere jüdische Gemeinden zu finden.
[vgl. Bad Orb - Langenselbold - Lohrhaupten - Rückingen – Wächtersbach (Hessen)]
Weitere Informationen:
Fritz Epstein, Kultusbauten und Kultusgegenstände in der Provinz Hessen, in: "Notizblatt der Gesellschaft zur Erforschung jüdischer Kunstdenkmäler", No. 6/1906, Frankfurt/M. 1906
M. Strauss, Festschrift zum 200jährigen Jubiläum der beiden Vereine Gemiluth-Chasodim und Kabronim in Gelnhausen, Gelnhausen 1911 (Kopie im Heimatmuseum Gelnhausen)
Germania Judaica, Band II/1, Tübingen 1968, S. 273 – 275 und Band III/1, Tübingen 1987, S. 427 - 433
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 240 – 246 und S. 490/491
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 69
Festschrift: Ehemalige Synagoge Gelnhausen, Widmung als kulturelle Begegnungsstätte, Hrg. Magistrat der Barbarossastadt Gelnhausen, Gelnhausen 1986 (darin auch: Gerhard Mühlinghaus (Bearb.), Die Synagoge – Einzelheiten eines Gebäudes im Wandel der Zeiten, S. 19 - 34)
Gerhard Wilhelm Daniel Mühlinghaus, Der Synagogenbau des 17. u. 18.Jahrhunderts im aschkenasischen Raum, Dissertation, Philosophische Fakultät Marburg/Lahn, 1986, Band 2, S. 141 – 147
Manfred Meyer, Jüdisches Leben in Gelnhausen, in: "Gelnhäuser Heimat-Jahrbuch. Jahreskalender für Familie und Heim in Stadt und Land zwischen Vogelsberg und Spessart 1988", S. 62 – 68
Thea Altaras, Synagogen in Hessen - Was geschah seit 1945 ?, Verlag K.R.Langewiesche Nachfolger Hans Köster, Königstein/T. 1988, S. 148 – 150
Jürgen Ackermann, Juden in Niedergründau, in: Festschrift Niedergründau, 1992
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I: Regierungsbezirk Darmstadt, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1995, S. 204 f.
Gelnhäuser Historische Gesellschaft e.V. (Hrg.), Juden in Gelnhausen. Zur Geschichte der Juden in Gelnhausen während der nationalsozialistischen Verfolgung. Ein Stadtrundgang, Gelnhausen 1996
Gelnhausen mit Roth und Altenhaßlau, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie u. zahlreichem Bildmaterial)
Lieblos, in: alemannia-judaica.de
Hain-Gründau, in: alemannia-judaica.de
Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, S. 167 - 172, S. 184 – 190 und S. 304 - 306
Ulrike Weingärtner, Jüdisches Leben in Gelnhausen in Spätmittelalter und Frühneuzeit, in: "Gelnhäuser Geschichtsblätter 2008", S. 67 - 103
Ulrike Weingärtner, Chronologie: Jüdisches Leben in Gelnhausen 1240-1600, in: "Gelnhäuser Geschichtsblätter 2008", S. 104 - 123
Sabine Köhler-Lindig (Red.), 36 „Stolpersteine“ erinnern an Schicksale der gelnhäuser Juden, in: „Gelnhäuser Tageblatt“ vom1.10.2009
Claudia Raab (Red.), 29 weitere „Stolpersteine“ zum Gedenken an Opfer der NS-Zeit, in: „Gelnhäuser Tageblatt“ vom 5.10.2010
Claudia Raab (Red.), Nachkommen aus Israel bei Stolpersteinverlegung, in: „Gelnhäuser Tageblatt“ vom 11.11.2010
Waltraud Friedrich, Kulturdenkmäler in Hessen. Main-Kinzig-Kreis II/2. Gelnhausen, Gründau, Hasselroth, Jossgrund, Linsengericht, Wächtersbach, hrg. vom Landesamt für Denkmalpflege, Wiesbaden/Stuttgart 2011, S. 597 ff.
G. Lupton/R. Bartel/D. Lupton (Hrg.), Ein Stein – ein Name – ein Mensch. Stolpersteine Gelnhausen, Gelnhausen 2013
Gail Lupton - Interessengemeinschaft Gelnhausen (Red.), Ein Stein – ein Name – ein Mensch: Stolpersteine Gelnhausen, hrg. Rosemarie Bartel/David Lupton, online abrufbar unter: stolpersteine-gelnhausen.de (Anm. auch in einer englischen Fassung vorhanden)
Auflistung der Stolpersteine in Gelnhausen, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Gelnhausen
Matthias Abel (Red.), Gelnhausen: Wie eine Initiative den Verkauf des ehemaligen Rabbinerhauses verhindern will, in: „Gelnhäuser Neue Zeitung“ vom 15.3.2024
Philipp Franz (Red.), Gemeinde Gründau verlegt „Stolpersteine“, in: „Gelnhäuser Neue Zeitung“ vom 20.3.2024
Hans Mattes (Red.), Zwist um das Rabbinerhaus, in: „Frankfurter Allgemeine“ vom 10.5.2024
Joachim Ludwig (Red.), Gedenken an die Familie Löwenthal: Erste Stolpersteine in Linsengericht verlgt, in: „Gelnhäuser Neue Zeitung“ vom 16.10.2024