Gernsheim (Hessen)
Gernsheim mit derzeit ca. 10.700 Einwohnern ist eine am rechten Rheinufer gelegene Kleinstadt im äußersten Süden des hessischen Kreises Groß-Gerau (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Kreis Groß-Gerau', aus: ortsdienst.de/hessen/gross-gerau).
Die erste jüdische Familie soll vermutlich bereits um 1500 in Gernsheim ansässig geworden sein. Gegen Mitte des 17. bzw. Anfang des 18.Jahrhunderts gibt es immer mehr Belege für jüdisches Leben in Gernsheim; allerdings dürfte die Bildung einer Kultusgemeinde erst im ausgehenden 18.Jahrhundert erfolgt sein. Um 1700/1720 schien bereits ein Betraum bestanden zu haben; bis Anfang der 1840er Jahre diente der orthodox ausgerichteten jüdischen Gemeinde eine private Räumlichkeit in einem Hause Ecke Wallstraße/Magdalenenstraße als Versammlungsort. In den Jahren 1843/1844 errichtete die kleine Gemeinde eine neue Synagoge in der Schafsgasse, die insgesamt über knapp 70 Plätze verfügte.
Synagoge in Gernsheim (hist. Aufn., um 1930, aus: Th. Altaras)
Im Synagogengebäude befand sich auch eine Mikwe. Ein seitens der Gemeinde angestellter Religionslehrer versah die rituellen Aufgaben.
Kleinanzeigen aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom Aug. 1866 und Dez. 1869*
* Auf letztere Anzeige bewarb sich erfolgreich der Lehrer Salomon Weil, der dieses Amt mehr als vier Jahrzehnte (bis zu seinem Tode 1913) inne hatte.
Die verstorbenen Gemeindemitglieder fanden ihre letzte Ruhe auf den jüdischen Friedhöfen in Alsbach und Groß-Gerau.
Die Gemeinde gehörte zum orthodoxen Bezirksrabbinat Darmstadt II.
Juden in Gernsheim:
--- 1806 .......................... 51 Juden,
--- 1830 .......................... 52 “ ,
--- 1842 .......................... 14 jüdische Familien,
--- 1871 .......................... 90 Juden,
--- 1880 .......................... 96 “ (ca. 3% d. Bevölk.),
--- 1895 .......................... 73 “ ,
--- 1905 .......................... 44 “ ,
--- 1925 .......................... 30 “ ,
--- 1933 .......................... 28 “ (in 8 Familien),
--- 1939 .......................... 11 “ ,
--- 1940 .......................... 7 “ ,* *andere Angabe: 11 Pers.
--- 1942 (Dez.) ................... keine.
Angaben aus: Angelika Schleindl, Verschwundene Nachbarn - Jüdische Gemeinden und Synagogen ..., S. 101
Im 19.Jahrhundert betrieben die Gernsbacher Juden vor allem Handel mit Landesprodukten, so mit Vieh und Getreide; aber auch als Manufakturwarenhändler und Makler waren sie tätig; auf Märkten der Umgebung versuchten sie ihre Geschäfte abzuwickeln. Ab den 1880er Jahren wanderten v.a. jüngere Gemeindemitglieder ab, die ihre wirtschaftliche Zukunft in größeren deutschen Städten bzw. in Nordamerika sahen.
Stellenangebot aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 29.8.1898
Mit Beginn der NS-Zeit setzte auch in Gernsheim der schnelle wirtschaftliche Niedergang der jüdischen Handelsbetriebe ein; immer mehr Eigentümer wanderten aus. Noch vor dem Novemberpogrom wurde das Synagogengebäude an die Kommune veräußert; trotzdem kam es im Ort am 9.11. 1938 zu Ausschreitungen, die sich gegen die wenigen hier noch lebenden Juden richteten. Zwei Geschäfte wurden demoliert und geplündert, mehrere Personen misshandelt und gedemütigt. Einigen jüdischen Familien gelang noch eine lebensrettende Emigration (nach England/in die USA).
Spätestens 1942 wurden die letzten sieben noch in Gernsheim jüdischen Bewohner - sie waren im "Judenhaus" untergebracht - deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind 17 gebürtige bzw. länger am Ort ansässig gewesene Gernsheimer Juden Opfer der Shoa geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/gernsheim_synagoge.htm).
Seit dem Jahre 1988 erinnert eine Gedenktafel an die ehemalige jüdische Gemeinde in Gernsheim.
Beginnend 2013 wurden im Stadtgebiet in mehreren Verlegeaktionen sog. „Stolpersteine“ in die Gehwegpflasterung eingelassen. Mit der Verlegung von fünf Steinen in der Magdalenenstraße bzw. Georg-Schäfer-Platz (vormals Ludwigstr.) wurde 2018 die Aktion zu einem Abschluss gebracht; insgesamt zählt man ca. 25 verlegte messingfarbene Steinquader (Stand 2022).
verlegt in der Einsiedelstraße und in der Schmiedgasse (alle Aufn. G., 2022, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
und in der Riedstraße
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Jüdische Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/Main 1971, Bd. 1, S. 249 - 251
Thea Altaras, Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945?, Königstein i. Ts. 1988, S. 138
Angelika Schleindl, Verschwundene Nachbarn - Jüdische Gemeinden und Synagogen im Kreis Groß-Gerau, Hrg. vom Kreisausschuß des Kreises Groß-Gerau 1990, S. 101 f.
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945. Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt, 1995, S. 156/157
Gernsheim, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
N.N. (Red.), „Eine Bitterkeit, die niemals verschwindet" Gedenken - MEMOR erinnert bei Veranstaltung im Gymnasium an 29 jüdische Gernsheimer , in: „Ried-Echo“ vom 3.2.2011
N.N. (Red.), Weitere Stolpersteine – MEMOR Gernsheimer Verein plant Verlegung von fünf Gedenktäfelchen am 14.Mai, in: echo-online.de vom 27.4.2018
Magistrat der Schöfferstadt Gernsheim (Hrg.), Stolpersteine gegen das Vergessen, online abrufbar unter: gernsheim.de/stolpersteine.html
Hans-Josef Becker (Red.), 80 Jahre nach der Reichspogromnacht, in: "ECHO" vom 9.11.2018