Gersfeld/Rhön (Hessen)
Die Kleinstadt Gersfeld mit derzeit ca. 5.500 Einwohnern liegt im osthessischen Landkreis Fulda mitten in der Rhön unweit der Wasserkuppe (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Fulda', aus: ortsdienst.de/Hessen/Fulda).
In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts erreichte die israelitische Gemeinde ihren personellen Höchststand mit nahezu 10% der Ortsbevölkerung.
Um den während des 30jährigen Krieges erfolgten erheblichen Bevölkerungsrückgang etwas abzumildern, griff die dortige Herrschaft dann auch auf jüdische ‚Flüchtlinge‘ zurück, die durch ihre ihnen auferlegten Abgaben (Schutzgelder) die Steuerkasse füllen halfen.
Gegen Mitte des 18.Jahrhunderts waren sechs jüdische Familien in Gersfeld ansässig. Da die Gutsherrschaft den Zuzug von auswärtigen Juden erlaubte, wurde Gersfeld zu einem Ort mit relativ hohem jüdischen Bevölkerungsanteil. Die meisten Juden Gersfelds wohnten in der „Judengasse“, der heutigen Hochstraße. Bei der Erstellung der Matrikel sind für Gersfeld 19 Familienvorstände aufgeführt.
Von 1840 bis 1892 war Gersfeld Sitz eines Distriktrabbinates, zu dem die Bezirksämter Gersfeld, Brückenau, Mellrichstadt und Bischofsheim gehörten. Einziger Inhaber des Rabbinats war Samuel Wormser, der hier mehr als 50 (!) Jahre tätig war und das Rabbinat nach seiner konservativ-orthodoxen Grundhaltung führte.
Urkunde zum 50jährigen Dienstjubiläum (1890)
Auszüge eines Berichtes über die Feierlichkeiten in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 24. März 1890:
„Aus der Rhön. Daß auch in unseren kalten Bergen die Herzen noch warm schlagen für alles Gute und Edle, das zeigte sich deutlich bei der Feier des 50jährigen Dienstjubiläums, welches unser verehrter Herr Rabbiner Wormser – sein Licht leuchte – am 10. März diesen Jahres zu Gersfeld beging. Gewiß eine höchstseltene Feier! Ist es doch nur Wenigen vergönnt, bis ins hohe Greisenalter mit jugendlicher Kraft und Ausdauer durch des Allmächtigen Gnade ein so verantwortungsvolles Amt zu bekleiden und treu zu verwalten! … Feierliche Stille herrschte im Gotteshaus, als die Hochwürden Provinzialrabbinen Dr. Cahn – sein Licht leuchte – Fulda und Dr. Munk – sein Licht leuchte – Marburg, den greisen Jubilar in der Mitte, eintraten. Der Synagogenchor begrüßte sogleich denselben, mit einem gut vorgetragenen Baruch Haba. Nach Rezitation der Psalmen 111 und 112 bestieg Herr Provinzialrabbiner Dr. Munk die Kanzel, um – in Vertretung seines Kollegen Herrn Dr. Cahn, der wegen Heiserkeit am lauten Reden verhindert war – die Festpredigt zu halten. … Nachdem das Minchagebet verrichtet war, begann das Festessen, wobei es natürlich nicht an Toasten fehlte. Wir heben zunächst den von echtem Patriotismus durchglühten Toast auf Kaiser Wilhelm II. hervor, den Herr Dr. Cahn ausbrachte. ... In ungezwungener, gemütlicher Unterhaltung blieben nun die Festteilnehmer in heiterer Stimmung bis spät in die Nacht beisammen. Jeder hatte beim Scheiden das Bewußtsein, einer wahren Freude über eine Mizwa (Weisung) beigewohnt zu haben. Möge unser greiser Seelenhirt da Glück haben, noch eine lange Reihe von Jahren, als 'stolze Zier' in unserer Mitte zu 'blühen' und zu wirken!"
Bereits gegen Mitte des 18.Jahrhunderts wurde in Gersfeld eine Synagoge errichtet, die 1814 zusammen mit einigen Häusern der Judengasse abbrannte; die wiederaufgebaute Synagoge wurde 1816 feierlich eingeweiht, fiel aber genau 50 Jahre später abermals einem Großbrand zum Opfer.
Bericht in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 17. Mai 1886
1887 ließ dann die jüdische Gemeinde an gleicher Stelle ihr neues Gotteshaus bauen, das maurische Stilelemente besaß. Im Erdgeschoss befanden sich etwa 85 Plätze für Männer, auf der Empore fanden ca. 40 Frauen Platz.
Seit 1815/1816 existierte in Gersfeld ein jüdisches Schulhaus; hier wurde 1832 eine Elementarschule eingerichtet, die bis 1933 bestand.
Stellenangebote aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 6.Nov. 1876 und vom 24.Febr. 1921
Ihre Verstorbenen begruben die Gersfelder Juden auf dem jüdischen Friedhof in Weyhers, der fast allen jüdischen Rhön-Gemeinden offen stand.
Nach Auflösung des Bezirksrabbinats Gersfeld (1892) kam die Gemeinde zum Provinzialrabbinat Fulda.
Juden in Gersfeld:
--- 1734 ............................ 6 jüdische Familien,
--- um 1760 ........................ 6 " " ,
--- 1800 ........................... 50 Juden,
--- 1823 ........................... 21 jüdische Familien,
--- 1878 ........................... 119 Juden (ca. 8% d. Bevölk.),
--- 1885 ........................... 91 “ ,
--- 1895 ........................... 104 “ (ca. 7% d. Bevölk.),
--- 1904 ........................... 111 “ ,
--- 1925 ........................... 120 “ ,
--- 1933 ........................... 114 “ ,
--- 1940 ........................... 6 “ ,
--- 1942 (Dez.) .................... keine,
--- 1946 ........................... 112 “ ,
--- 1948 ........................... 29 “ .
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 251
Ansicht Gersfeld um 1910 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Ihren Lebensunterhalt verdienten die meisten Gersfelder Juden durch den Viehhandel, den sie in der ganzen Region kontrollierten; auch in der Textilbranche waren jüdische Händler führend. Eine Ende des 19.Jahrhunderts in Gersfeld existierende Zigarrenfabrik hatte ebenfalls einen jüdischen Eigentümer. Die jüdischen Geschäfte und Wohnungen lagen vor allem im Bereich der Judengasse.
Anzeigen von 1903/1925
Die Juden Gersfelds waren weitgehend in das kleinstädtische Leben integriert: sie waren Mitglieder in lokalen Vereinen und gehörten über Jahre hinweg dem Stadtrat an. Bereits in den Jahren vor 1933 war es in Gersfeld gelegentlich zu antisemitischen Ausschreitungen gekommen, die zumeist von Jugendlichen begangen worden waren. Nach 1933 häuften sich antijüdische Tätlichkeiten: Fenster wurden eingeworfen und jüdische Bewohner verprügelt. Viele jüdische Familien verließen nun Gersfeld.
Auszüge aus Ausgaben der „Fuldaer Zeitung” (Anfang Febr. 1933):
... Seit der vergangenen Woche haben sich Zustände herausgebildet, die ein energisches Durchgreifen der Behörden zum Schutz des Lebens und des Eigentums der jüdischen Einwohner erfordern. ... wurden mehrere Schaufenster in jüdischen Geschäftshäusern eingeworfen. Als ein jüdischer Kaufmann auf das Klirren der Scheiben die Verfolgung eines flüchtigen Täters aufnahm, wurde er durch Messerstiche in den Hals ernsthaft verletzt. ... Zu größeren Ausschreitungen kam es am Samstag. In einer nationalsozialistischen Versammlung auf dem Marktplatz soll der Führer der Gersfelder Nationalsozialisten unter dem Hinweis, daß SA-Leute verdächtigt worden seien, Schaufenster eingeworfen zu haben, seine Anhänger aufgefordert haben, die jüdischen Einwohner aus ihren Häusern zu holen. .... Jedenfalls zog eine Gruppe Nationalsozialisten vor das Haus des Kaufmanns Bacharach. Drei Nationalsozialisten verschafften sich mit Gewalt Eingang in das Haus und mißhandelten den ahnungslosen Kaufmann so, daß er sich in ärztliche Behandlung begeben mußte. ...
Der auch in Gersfeld durchgeführte Boykott jüdischer Geschäfte am 1.4.1933 zog weitere Maßnahmen nach sich: Jüdische Viehhändler wurden in ihren Tätigkeiten eingeschränkt, Geschäftsleute in ihrem Handel behindert. Die meisten jüdischen Bewohner Gersfelds gingen nun in die Emigration, meist nach Übersee; am Ort verblieben schließlich noch drei Familien, meist ältere Menschen.
Im November 1938 kam es auch in Gersfeld zum vorläufigen Höhepunkt der antijüdischen Gewaltmaßnahmen: Nach einer NSDAP-Kundgebung in der Turnhalle des Ortes zog eine aufgeputschte Menschenmenge in den späten Abendstunden des 9.November zur hiesigen Synagoge in der Hochstraße, zertrümmerte Fenster und Türen, verwüstete den Innenraum vollständig und warf das zerstörte Mobiliar auf die Straße. Am folgenden Morgen mussten die Gersfelder Juden die Straße von den Trümmern reinigen - unter den Augen von Schulklassen, die von ihren Lehrern hierher geführt worden waren. In der Schulchronik Gersfelds findet sich der folgende Eintrag: „ ... Am Morgen des 10.11.1938 wurde die ganze Schuljugend von ihren Lehrern vor und in die Synagoge geführt, um ehrfurchtsvoll die große Tat der Zerstörung eines Gotteshauses zu bewundern.” Die Relikte des Synagogengebäudes wurden von der Kommune zum Abbruch verkauft.
zerstörtes Synagogengebäude (hist. Aufn., aus: P. Arnsberg)
1940/1941 lebten nur noch sechs jüdische Bewohner in Gersfeld; sie wurden in einem Sammeltransport von Fulda aus „in den Osten“ deportiert. Einer Person gelang es, sich in Gersfeld versteckt zu halten und seinen Häschern zu entkommen.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." fielen der NS-Gewaltherrschaft insgesamt 37 aus Gersfeld stammende bzw. längere Zeit hier wohnhaft gewesene jüdische Personen zum Opfer (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/gersfeld_synagoge.htm).
Nach 1945 kamen jüdische DPs aus befreiten Lagern nach Gersfeld und bildeten hier eine neue jüdische Gemeinschaft (mit maximal 110 Angehörigen); es waren meist polnische und staatenlose Juden. In der hiesigen Jugendherberge gründeten sie den „Kibbuz Buchenwald“, in dem von 1945 bis 1947 die Bewohner für ihre Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurden.
In der Hochstraße (frühere 'Judengasse') erinnert seit 2003 ein zweigeteilter Gedenkstein an die während der NS-Herrschaft verfolgten jüdischen Familien (Aufn. J. Hahn, 2009).
Wissen - Erinnerung - Verständnis - Toleranz - Versöhnung
Wir erinnern an unsere jüdischen Mitbürger
Stadt Gersfeld 11.06.2003
Familien Adler - Bacharach - Barth - Federlein - Goldberg - Goldner - Goldschmidt - Grünebaum - Hommel - Heymann - Isselbächer - Kamm - Katzmann - Katz - Liebstädter - Lorsch - Morgenroth - Posen - Selig - Silbermann - Schaumburger - Stahl - Vasen - Wahlhaus - Weinberg - Weinberger
I2023 wurden in Gersfeld an vier verschiedenen Standorten (Marktplatz) die ersten 19 „Stolpersteine“ verlegt, die dem Gedenken an ehemalige jüdische Bürger gewidmet sind (vier Steine für Fam. Weinberg, Aufn. Sandra Limpert, aus: "Fuldaer Zeitung", 2023). In zwei weiteren Aktionen (2024) folgten dann weitere 16 bzw. 15 messingfarbene Gedenkquader.
Aufn. S. Krug, aus: osthessen-zeitung.de (2024)
Im nahen Dorf Hettenhausen lebten zu Beginn des 19.Jahrhundert einige jüdische Familien, die dort eine kleine Gemeinde bildeten. Bei der Erstellung der Matrikel 1817 waren für das Dorf zehn Familienvorstände aufgelistet. Um 1860 waren acht Familien im Dorf ansässig; Mitte der 1880er Jahre setzte sich die Gemeinde immerhin aus fast 90 Personen zusammen; 1905 waren es dann aber nur noch ca. 30 Köpfe.
Um 1850 erbauten die Juden ein winziges Bethaus; fortan brauchten Gottesdienste nicht mehr in privaten Räumen abgehalten werden. Nach dem Ersten Weltkrieg fanden hier keine Gottesdienste mehr statt, da kein Minjan mehr zustande kam.
Gewerbliche Anzeige (aus: „Der Israelit“ vom 28.5.1900)
Um 1930 lebten in Hettenhausen nur noch drei jüdische Familien lebten; sie gehörten damals der Gemeinde Schmalnau an. Noch vor 1938 wurde das Synagogengebäude veräußert und anschließend abgerissen; die Ritualien „beerdigte“ man auf dem jüdischen Friedhof in Weyhers, der der Gemeinde lange Jahre als Begräbnisstätte gedient hatte.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind acht aus Hettenhausen stammende Juden der Shoa zum Opfer gefallen (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/hettenhausen_synagoge.htm).
Weitere Informationen:
Gottfried Rehm, Vom Rabbinatsbezirk Gersfeld im 19.Jahrhundert, aus: Staatsarchiv Marburg 180 Gersfeld/ 497 und 498
Hans Gutmann, Gersfeld: Die ehemalige jüdische Gemeinde in Gersfeld, in: "Buchenblätter – Beilage der Fuldaer Zeitung für Heimatfreunde" vom 8.11.1963
Hans Wilde, Die Juden in Gersfeld (Abschlussarbeit 1963/1964), Manuskript im Stadtarchiv Gersfeld
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 251 f. und S. 362 - 364
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 72
Gabriele Primus, Auf den Spuren der Vergangenheit: Jüdische Schicksale in Gersfeld, in: "Fuldaer Zeitung" vom 8.7.1975
Naftali Herbert Sonn/OttoBerge, Schicksalswege der Juden in Fulda und Umgebung, Fulda 1984, S. 160 f.
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen II: Reg.Bez. Gießen und Kassel, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1996, S. 19 f.
Gersfeld, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie, zumeist personenbezogen)
Hettenhausen, in: alemannia-judaica.de
Hans Wilde, Die Juden in Gersfeld, (eine Schülerarbeit), o.O. o.J.
Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg", Band 13, Würzburg 2008, S. 95/96 (Gersfeld) und S. 252/253 (Hettenhausen)
Michael Imhof (Hrg.), Juden in Deutschland und 1000 Jahre Judentum in Fulda, Hrg. Zukunft Bildung Region Fulda e.V., Michael Imhof Verlag, Petersberg 2011, S. 314 – 321 (Gersfeld) u. S. 322 – 324 (Hettenhausen)
Gersfeld – Kibbuz Buchenwald (Hachschara), in: after-the-shoah.org
Michael Imhof, 400 Jahre Juden in der Rhön, Hrg. Zukunft Bildung Region Fulda e.V., 2017
Michael Imhof, Juden in der Rhön. Jubiläumsausgabe – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, Hrg. Zukunft Bildung Region Fulda e.V., 2021
Jan Gutermuth (Red.), Erstverlegung von „Stolpersteinen“ am Marktplatz, in: rhoenclub-gersfeld.de vom 4.12.2023
Stefan Krug (Red.), Stolpersteine in Gersfeld verlegt - Angehörige aus der USA angereist, in: osthessen-zeitung.de vom 14.9.2024
Sandra Limpert (Red.), Zweite Stolpersteinverlegung in Gersfeld – Enkelin ermordeter Juden reist aus USA an, in: „Fuldaer Zeitung“ vom 11.10.2024
Sandra Limpert (Red.), Im Gedenken an die Pogromnacht – dritte Stolperstein-Verlegung in Gersfeld, in: „Fuldaer Zeitung“ vom 11.11.2024