Giebelstadt (Unterfranken/Bayern)

Datei:Giebelstadt in WÜ.svg Zusammen mit Markt Bütthard gehört Markt Giebelstadt mit seinen derzeit ca. 5.700 Einwohnern heute zur Verwaltungsgemeinschaft Giebelstadt – ca. 15 Kilometer südlich von Würzburg gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Würzburg', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Um 1800 stellten die Angehörigen der israelitischen Gemeinde knapp 20% der Ortsbevölkerung.

Seit ca. 1740/1750 existierte in Giebelstadt, südlich von Würzburg gelegen, eine jüdische Gemeinde. Die hier lebenden Juden standen unter dem Schutz gutsherrschaftlicher Familien; so sollen 1720 acht freiherrliche Schutzjuden (der Fam. v. Zobel) in Giebelstadt gelebt haben. Bei der Erstellung der Matrikel (1817) sind für Giebelstadt 20 Familienvorstände aufgelistet.

Eine 1797/1798 errichtete Synagoge, die nach etwa 100 Jahren baufällig geworden war, wurde 1911 durch einen Neubau in der Mergentheimer Straße ersetzt – zu einer Zeit, als die Zahl der Gemeindeangehörigen deutlich abgesunken war und eine Finanzierung des Gebäudes nur unter schwierigsten Bedingungen möglich war.

In einem Bericht der Zeitschrift „Der Israelit” vom 21. Sept. 1911 hieß es dazu:

Giebelstadt (Unterfranken), 10. Sept. Vor einigen Tagen wurde in unserer kleinen Gemeinde ein seltenes Fest gefeiert. Ungefähr 3 Jahre sind es her, daß unsere Synagoge wegen Baufälligkeit geschlossen werden muße. Mit vieler Mühe und großen Opfern ist es uns gelungen, eine entsprechende neue Synagoge zu bauen, welche am 31. August in würdiger Weise eingeweiht wurde. Die politische Gemeinde nahm regen Anteil daran, indem die Einwohner ihre Häuser beflaggte und sich sowohl beim Zuge als auch in der Synagoge mit ihren jüdischen Mitbürgern vereinigten. Vor dem Tore der Synagoge trug die Tochter des Vorstandes, Frl. Schmidt, einen Prolog vor und überreichte den Synagogenschlüssel dem Bürgermeister; derselbe hielt eine Ansprache, in der er den Opfersinn der Gemeinde lobte und übergab den Synagogenschlüssel Herrn Distrikts-Rabbiner Bamberger aus Würzburg, Verweser des Rabbinats Kitzingen. Nach den üblichen Umzügen der Torarollen und nachdem Herr Vorstand Schmidt die Anwesenden begrüßt hatte, hielt Herr Rabbiner Bamberger die Einweihungsrede, die zu Herzen aller Anwesenden ging. Vom Gotteshause aus bewegte sich die ganze Festversammlung unter Musikbegleitung in ein Gasthaus zur geselligen Unterhaltung. Alle Anwesende, worunter viele Fremde aus nah und fern sich befanden, waren sehr befriedigt von der außerordentlich gelungenen Feier."

            

Skizze Synagoge und Lehrerhaus - nach Bauplänen von J. R. Scheckenbach 1911 (Abb. Mainpost)

Zu den gemeindlichen Einrichtungen zählten auch eine Mikwe und eine Religionsschule; seit 1809 hatte die Gemeinde einen Religionslehrer angestellt, der neben Religion und Hebräisch die Kinder auch im Lesen und Schreiben unterrichtete. Während die bis zu 12 Jahre alten Kinder in einem winzigen Schulzimmer täglich Religionsunterricht erhielten, kamen die 13- bis 18jährigen am Sabbat und an Feiertagen in der Synagoge zusammen. Offiziell erhielten die jüdischen Kinder in der katholischen Schule Giebelstadt Elementarunterricht; die seitens der Kultusgemeinde gewünschte Einrichtung einer eigenen Elementarschule war von den Behörden abgelehnt worden.

Verstorbene Gemeindemitglieder wurden auf dem jüdischen Bezirksfriedhof im nahen Allersheim beerdigt.

    alte Grabstätten (Aufn. R. Hauke, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Dieser Friedhof ist eine der größten Verbandsfriedhöfe im fränkischen Raume; angelegt wurde dieser auf einem „wüst liegenden Acker“, der zunächst im Klosterbesitz und dann von der Judenschaft der Umgebung angekauft worden war. Zahlreiche jüdische Gemeinden der nahen und weiteren Umgebung nutzen in den folgenden Jahrhunderten das Gelände, so u.a. Acholshausen, Bütthard, Fuchsstadt, Gaukönigshofen, Heidingsfeld, Höchberg (bis 1821), Kirchheim, Reichenberg, Rottenbauer, Tauberrettersheim und auch Würzburg.

Die jüdische Gemeinde gehörte zum Distriktsrabbinat Kitzingen, ab 1937 zu dem von Würzburg.

Juden in Giebelstadt:

--- 1720 .........................   8 Schutzjuden-Familien,

--- 1740 ......................... eine     “          “ (),

--- 1787 .........................  24      “          “   ,

--- 1798 ......................... 125 Juden (in 24 Familien),

--- 1814 ......................... 103   “   (ca. 17% d. Bevölk.),

--- 1833 ......................... 124   “  ,

--- 1859 .........................  81   “   (in 21 Familien),

--- 1867 .........................  72   “   (ca. 10% d. Bevölk.),

--- 1880 .........................  58   “   (7,5% d. Bevölk.),

--- 1900 .........................  48   “  ,

--- 1909 .........................  52   “  ,

--- 1925 .........................  37   “  ,

--- 1933 .........................  38   “  ,

--- 1939 (Mai) ...................  10   “  ,

--- 1942 (Febr.) .................   5   “  ,

         (April) .................   keine.

Angaben aus: Jutta Sporck-Pfitzer, Die ehemaligen jüdischen Gemeinden im Landkreis Würzburg, S. 63

und                 Synagogen-Gedenkband Bayern (Unterfranken), Band III/1, Mehr als Steine …, S. 662

 

Kleinanzeigen jüdischer Privatpersonen aus Giebelstadt von 1892 - 1895 - 1908:

https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20454/Giebelstadt%20Israelit%2018920915.jpg https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20454/Giebelstadt%20Israelit%2018950408.jpg https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20158/Giebelstadt%20Israelit%2016011908.jpg

(Abb. aus: alemannia-judaica.de)

Bis zu Beginn der 1930er Jahre sollen die jüdischen Ortsbewohner in das Leben der Kommune voll integriert gewesen sein. Danach verschlechterten sich auch hier ihre Lebensbedingungen, sodass zahlreiche Giebelstadter Juden ihren Heimatort verließen. Während des Pogroms von 1938 zertrümmerten SA-Angehörige aus dem benachbarten Goßmannsdorf/Main die Inneneinrichtung der Synagoge. Unter den Augen der Dorfbewohner vergriff man sich auch am Eigentum der fünf noch am Ort lebenden jüdischen Familien. 1941 ging das Synagogengebäude in Privathand über; noch vor Kriegsende wurde das Haus wegen Einsturzgefahr abgerissen. Die letzten beiden jüdischen Familien Giebelstadts wurden Ende März 1942 deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 19 gebürtige bzw. länger am Ort ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer der Shoa (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/giebelstadt_synagoge.htm).

In den Jahren 1948/1951 gab es in Würzburg zwei Prozesse gegen 21 der an den Ausschreitungen des November 1938 Beteiligten; 13 wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt.

 

Nach Kriegsende gab es im unterfränkischen Giebelstadt ein DP-Camp, in dem sich auch befreite jüdische Häftlinge aus dem gesamten nordbayrischen Raum befanden, die auf ihre Auswanderung nach Palästina, Australien, Kanada und in die USA warteten. Die in der ehemaligen Fliegerhorst-Siedlung untergebrachten DPs – es waren fast 1.700 Männer, Frauen und Kinder, die aus dem zur Schließung vorgesehenen DP-Camp Vilseck/Oberpfalz kamen (diese Unterkünfte wurden nun von der US-Army beansprucht) – lebten hier mehr als 15 Monate (vom Frühjahr 1948 bis Sommer 1949). Sie fanden hier nicht nur eine vorübergehende Unterkunft, sondern schufen eine eigene Infrastruktur, die auch Bildungs- und Kultureinrichtungen sowie eine Synagoge umfasste.

Kundgebung anlässlich der Gründung des Staates Israel (repro: nurinst-archiv)

Um die Erfassung, Betreuung und Repatriierung der in den Mitgliedsstaaten beheimateten Displaced Persons kümmerte sich die UNRRA (= United Nations Relief and Rehabilitation Administration). Unter den Überlebenden der Lager bildete sich eine sog. „UNRRA-Gemeinde“, die ein zuvor einer Mennonitengemeinde gehörendes Bethaus nutzte. Nach Auflösung der jüdischen Gemeinde ging das Gebäude in der Besitz der evangelischen Kirchengemeinde über.

Eine Gedenktafel im Giebelstadter Rathaus weist heute auf die Existenz einer jüdischen Gemeinde im Ort hin:

Im Gemeindebereich bestand bis 1941 eine jüdische Gemeinde.

Die 1799 erbaute Synagoge wurde 1938 geschändet und 1944 abgebrochen.

Der Markt Giebelstadt gedenkt seiner ehemaligen jüdischen Kultusgemeinde.

 

Wie zahlreiche andere unterfränkische Kommunen hat sich auch Giebelstadt am zentralen Projekt "DenkOrt Deportationen 1941-1944" mit einer Rucksack-Skulptur beteiligt.

           Rucksack-Skulptur (Aufn. Sieglinde Bösl, 2021)

Seit 2022 erinnern in Giebelstadt und Allersheim zehn sog. „Stolpersteine“ an ehemalige jüdische Bewohner, die während der NS-Zeit aus ihrer Heimat vertrieben bzw. deportiert/ermordet wurden: Sechs Steine wurden in Giebelstadt für die beiden Familien Leo/Hedwig Baumann (Untere Kirchgasse) und Max/Selma Pollak (Mergentheimer Str.) und vier in Allersheim für Angehörige der Familie Heinrich/Jenny Baumann (Hauptstraße) verlegt.

 

 

 

Im nahen Markt Bütthard gab es auch eine kleine jüdische Gemeinde, die nachweislich seit dem ausgehenden 16.Jahrhundert bestand; ihren zahlenmäßigen Zenit erreichte diese mit ca. 60 Personen in den 1840/1860er Jahren. Seit 1812 verfügte die Gemeinde über eine neue Synagoge sowie ein Gemeindehaus. 1937 wurde die Gemeinde Bütthard offiziell aufgelöst, obwohl schon seit Jahren hier keine Gottesdienste mehr stattgefunden hatten. Während der Novembertage 1938 demolierten SA-Angehörige aus Ochsenfurt und einheimische Nationalsozialisten die Häuser der beiden am Ort lebenden jüdischen Familien. Das letzte jüdische Ehepaar am Ort wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert.

Im Rathaus erinnert heute eine Gedenktafel an die ehemalige israelitische Gemeinde des Ortes. 

 

[vgl. Bütthard (Unterfranken/Bayern)]

 

[vgl.  Allersheim (Unterfranken/Bayern)]

 

 

In Kirchheim – wenige Kilometer westlich von Giebelstadt gelegen - bestand vom 16. Jahrhundert bis 1908 eine kleine israelitische Gemeinde. In einem aus dem 17.Jahrhundert stammenden Gebäude waren Betsaal, die Schule und ein Ritualbad untergebracht.

Um 1780 lebten vier jüdische Familien im Dorf, 1814/15 wurden 52 jüdische Einwohner gezählt. Wie in allen Landgemeinden forderte die Abwanderung in die Städte seinen Tribut: 1897 lebten in Kirchheim nur noch 14 Personen mosaischen Glaubens; zehn Jahre später löste sich die Gemeinde auf. 1933 wohnten noch zwei jüdische Familien im Ort.

Verstorbene Gemeindeangehörige wurden iauf dem jüdischen Friedhof in Allersheim begraben.

Nach Auflösung der Gemeinde kam die Synagogeneinrichtung ins Fränkische Luitpoldmuseum (heute: Mainfränkisches Museum) und wurde hier als „Schaustück“ einer jüdischen Dorfsynagoge präsentiert. Nach einem Bombenangriff gegen Kriegsende wurde die im Museum untergebrachte Synagogeneinrichtung völlig zerstört.

Im Jahre 1993 wurde ein 200 Jahre altes jüdisches Ritualbad in Kirchheim (eine Grundwasser-Mikwe) freigelegt.

[vgl.  Kirchheim (Bayern)]

 

 

 

Weitere Informationen:

Wilhelm Benkert, 820 – 1970. Beiträge zur Geschichte der Marktgemeinde Giebelstadt, Giebelstadt 1970

Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Oldenbourg-Verlag, München/Wien 1979, S. 302/303

Jutta Sporck-Pfitzer, Die ehemaligen jüdischen Gemeinden im Landkreis Würzburg, Hrg. Landkreis Würzburg, 1988, S. 55 und S. 61 - 63

Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 64/65 (Giebelstadt) und S. 81 (Kirchheim)

Theodor Harburger, Die Inventarisation jüdischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Bayern, 1998 (Aufn. der Kirchheimer Synagoge)

Markt Giebelstadt, in: alemannia-judaica.de (mit zumeist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Elisa Makowski, Beiträge zur Geschichte der Giebelstädter Juden, Facharbeit am Wirsberg-Gymnasium Würzburg, 2004

Jim G. Tobias, Zu Pessach nach Unterfranken. Das jüdische DP-Camp Giebelstadt 1948/1949, in: "Hefte zur Regionalgeschichte", No. 3, Antogo-Verlag, Nürnberg 2005

Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg", Band 13, Würzburg 2008, S. 224/225 (Giebelstadt/Kirchheim)

Giebelstadt – Jüdisches DP-Lager, in: after-the-shoah.org

Cornelia Berger-Dittscheid (Bearb.), Giebelstadt, in: W.Kraus/H.-Chr.Dittscheid/G.Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine ... Synagogen-Gedenkband Bayern, Band III/1 (Unterfranken), Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2015, S. 651 - 665

N.N. (Red.), Giebelstadt – ein unsichtbares DP-Camp und ein alter Friedhof, in: haGalil.com vom 19.5.2017

Hannelore Grimm (Red.), Giebelstadt. Ein Rucksack erinnert an die jüdischen Mitbürger, in: "Main-Post" vom 16.11.2021

Biografie der jüdischen Familie Baumann – ehemals wohnhaft in Giebelstadft, Untere Kirchgasse, online abrufbar unter: giebelstadt.de/eigene_dateien/aktuelles/2022/maerz/redner_heinz_gassner_fuer_familie_baumann_in_giebelstadt.pdf

Heinz Gaßber, Verlegung von Stolpersteinen für Leo und Hedwig Baumann und deren Sohn Berthold, in: giebelstadt.de (März 2022)

Gerhard Meißner (Red.), Erinnerung an jüdische Mitbürger: Wie Künstler Demnig in Giebelstadt die Gedanken stolpern lässt, in: "Main-Post" vom 2.4.2022

Hannelore Grimm (Red.), Stolpersteine erinnern in Giebelstadt an jüdische Mitbürger: Kleine Mahnmale gegen das Vergessen, in: "Main-Post" vom 1.7.2023